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Schwefeldämpfe der Hölle

Im Herbst bezog Robert das Konvikt.

Er hatte darauf bestanden, von niemand begleitet zu werden. Bevor er ging, legte ihm Grand'maman noch einmal die Umstände auseinander. Zu seinem Ärger wohnte Gudula der Predigt bei – Robert starrte auf das rote Loch und haßte.

»Siehst du«, erklärte die Alte, »es muß überall Ordnung sein – nicht wahr, Robby, ich spreche zu dir wie zu einem Mann. Ohne Ordnung kann die Welt nicht leben. Sonst geht alles drunter und drüber. Sonst herrscht das Chaos.« »Was soll sonst herrschen?« rief Gudula.

»Das Chaos. Wenn alles drunter und drüber geht.«

Gudula nickte: »Das Kaboß! ich verstehe.«

»Das Kaboß!« brach Robert höhnisch aus.

Gudula blickte schief auf ihn hinunter und bestätigte: »Das Kaboß, jawohl. Wenn alles drunter und drüber geht.«

»Laß die ungebildete Person«, sagte Grand'maman leiser.

»Bitte, ein klein wenig lauter!« schrie Gudula.

Grand'maman sprach aber nicht lauter, und Gudula verließ in stummer Empörung das Zimmer.

»Um so besser«, meinte ihre Herrin ... Sie hatte so klare Augen! Stella matutina, der Morgenstern! ... Der Junge schaute wider Willen besänftigt in die unsägliche Reinheit dieser Augen, von denen es hieß, daß sie sich seit Grand'mamans Kindheit nicht verändert hätten. Sie waren übernatürlich.

»Also höre zu, Robby, und geh nicht schon wieder mit deinen Gedanken wer weiß wohin spazieren. In dir ist keine Ordnung mehr, mein Junge, und um dich herum auch nicht, weil du alles mit deiner Unordnung angesteckt hast. Deine Eltern sind zu schwach, ich bin zu schwach, wir haben dich alle viel zu gern. Du mußt einen Herrn über dir fühlen – du siehst, Robby, ich spreche zu dir wie zu einem Mann! Gib acht, dort drüben werden sie dich bald in Ordnung haben, mein Junge. Sie sind Fachleute darin, den Teufel aus seinen Schlupfwinkeln zu vertreiben. So, und nun gib der Grand'maman einen Kuß.«

Robert gab ihr mit gespitzten Lippen den Judaskuß.

Dann fuhr er mit einem wunderbaren Lederkoffer, den die Mutter ihm geschenkt hatte, über die Wilhelmerbrücke in das Internat. Es war ein grauer Tag und die Ill der dunkle Spiegel des Himmels. Jenseits der Brücke erhob sich der mächtige Bau der Schule. Obgleich sie einen großen, ungleichen Häuserblock bildete, verliehen ihr die Schönheit der Maße und das Rosa des Sandsteins einen Ausdruck behaglicher Vornehmheit, die eine weitläufige, zwei Flügel verbindende Terrasse festlich betonte. Wenn vor dem grauen Tag noch ein Schimmer von Heiterkeit bestand, so war es hier.

Robert betrachtete die Schule ganz anders als sonst, denn jetzt kam er ja, um sie zu bewohnen. Jetzt waren sie füreinander verantwortlich. Zum erstenmal glaubte er zu spüren, was die Lehrer gelegentlich den ›Geist der Anstalt‹ nannten. Auch das bischöfliche Wappen im Schlußstein des Eingangs berührte ihn anders als sonst. Es verpflichtete ihn, nahm ihn gleichsam in seinen Dienst.

Er kam gern, es war ein Abenteuer – viel ungemeiner als alle, die er bisher sowohl erlebt wie erfunden hatte. Er wurde herzlich aufgenommen. Das Schlafzimmer, das man ihm, wie mit den Eltern verabredet, anbot, lehnte er ab – was freilich nicht den erwarteten Eindruck machte.

Eine Ahnung sagte ihm, daß die Großmutter mit ihrem Starrsinn ihren eigenen Untergang heraufbeschwöre. Daß er es vorzog, unter lauter ›Straßenpöbel‹ zu schlafen, konnte zur Beschleunigung der Katastrophe beitragen.

»Das Kaboß«, murmelte er, während er unter Anleitung einer betagten Ordensschwester seine Sachen in einem Schrank des riesigen Schlafraumes unterbrachte.

In seiner Verbannung sah er auch eine Strafe für die Eltern, die trotz des großen Aufwandes den Willen der Großmutter nicht hatten brechen können. Einmal war aus dem elterlichen Schlafzimmer ein Wort des Vaters an sein Ohr gedrungen: »Entweder wir geben nach, oder ich muß sie ermorden, Denn hinaussetzen kann ich sie nicht.« Und Robert war der Meinung gewesen, in diesem Fall gehöre die Großmutter in Stücke geschnitten. Die Gedankensünde wurde der Ausgangspunkt für seine Bekehrung. Was Grand'maman kaum zu hoffen gewagt hatte – er wurde fromm, er wurde ein Musterschüler. Er ließ sich die Haare schneiden. Er log nicht mehr und wies jede Art von Märtyrertum für seine unwürdige Person zurück.

Seine Aufrichtigkeit bekam einen Anflug von Wildheit, die Mitschüler und Lehrer erschreckte. Er sehnte sich nach den Weihen und Machtvollkommenheiten des Priesters. Als höchstes Ziel winkte, ein berühmter Beichtiger zu werden. In der Hoffnung, Visionen zu haben, fastete er und hielt sich nachts künstlich wach, um zu beten und über das Leben der Heiligen nachzudenken. Mitunter mußte er infolge eines Machtspruchs des Aufsehers im Speisesaal seinem Appetit freien Lauf lassen. Nachher ging er hin und steckte den Finger in den Hals. Es kostete seinen Beichtvater viel Mühe, den abgemagerten Jungen allmählich wieder auf das vom Anstaltsarzt geforderte Gewicht zu bringen. Schließlich ließ er sich durch das Beispiel des heiligen Aloysius verführen, der gern und erfolgreich gespielt hatte, und wurde ein unübertroffener Ballschläger und einer der Ersten im Turnen. Seine Kameraden liebten ihn – und er schenkte ihnen alle Leckerbissen, die er von zu Hause bekam.

 

Während er solchermaßen in Glanz und Duft dem Paradies entgegenschritt, breiteten sich im Erkerhaus am Schiffleutstaden die Schwefeldämpfe der Hölle aus.

Amanda versteckte sich des öfteren ohne besondere Veranlassung im Speicher, und der Gedanke an den Zimmermann raubte Grand'maman den Schlaf. Ihrer Aufforderung, vor ihr zu erscheinen, um über die Erziehung seines verwaisten Sohnes zu sprechen, leistete der Kerl keine Folge, und Edouard lehnte seine Maßregelung mit dem Bemerken ab, der brave Mann sei Sozialdemokrat und schere sich den Teufel um die Ratschläge älterer Damen.

Sie beklagte sich bei Gudula.

»Was ist denn auf einmal los? Sie sind alle verkehrt, gar nicht mehr zu erkennen. Was fehlt ihnen bloß? ... Mir scheint auch, die Amanda bekommt langsam einen größeren Kopf. Und sie guckt so frech. Wir müssen sie fortschicken.«

Gudula erklärte mit lauter, getragener Stimme, das sei eben das Kaboß, es ginge alles drunter und drüber. Und wenn es wahr sei, daß der Teufel die Hand im Spiele habe, so geniere er sich überhaupt nicht mehr, seitdem der junge Herr aus dem Hause sei. Und wenn Amanda entlassen werde, ginge sie auch, und es wäre jedenfalls menschlicher gewesen, den jungen Herrn mit der Klopfpeitsche zu bearbeiten, als ihn zum Zuchthäusler zu machen – sie könne es nicht aussprechen, in welchen Ruf dieses einst ehrbare Haus gekommen sei, in dem das eigene Kind nicht leben dürfe, so schlimm, ginge es darin zu.

»Mach gefälligst, daß du rauskommst«, befahl Grand'maman. »Du weißt auch nicht mehr, was du redest.«

Marie-Louise war zweimal fort. Jedesmal suchte der Gatte sie vergebens. Da der Junge fehlte, an den er sich halten konnte, begann er, das Haus zu meiden, und nahm die Mahlzeiten in der Stadt ein.

Grand'mamans Befürchtung, daß der Teufel seine Hand im Spiel habe, bestätigte sich. Es war das Blendwerk der Hölle, wie es im Buche steht: die Frau des ›kleinen Walter‹, die Person, die nie jemand gesehn hatte, machte eine Erbschaft, und das Ehepaar zog sich großartig an die Riviera zurück. Auch der Teufel verrichtete Wunder – sogar mit Vorliebe –, und jedenfalls waren sie auffälliger als die des Himmels. Aber man erkannte sie unweigerlich am Geruch!

Sie brachte die Erbschaft der ›Person‹ mit der Lasterstadt Marseille in Verbindung, woraus die Übersiedelung an die Mittelmeerküste ›sich von selbst erklärte‹. Denn bekanntlich zog es die Verbrecher immer an den Ort des Verbrechens – auch die Erben. »Auch die Erben«, bestätigte Gudula, für die Großmutters verzwickte Beweisführung so klar war wie das Einmaleins.

Freilich verlor Grand'maman das Interesse für das sündhafte Treiben der ›Personen‹ im Süden, als sie erfuhr, daß der ›kleine Walter‹ seinen Geschäftsanteil Edouard zu treuen Händen übertragen habe, wodurch der Sohn ihr gegenüber in Vorteil kam. Der Ausdruck ›zu treuen Händen‹, den sie zum erstenmal hörte, ließ sie nicht mehr los, er verfolgte sie bei Tag und Nacht, ›zu treuen Händen‹ wurde eine Art Teufelsbeschwörung, die sich gegen ihren Willen in ihr festsetzte.

»Da!« sagte sie, wenn sie der gänzlich verstockten Amanda eine Ohrfeige gab. »Da hast du – zu treuen Händen!«

Und Amanda lachte.

»Sie sind alle verdreht«, murmelte Grand'maman.

Es dauerte nicht lange, da schlug ihr Edouard die Auszahlung ihres Geschäftsanteils vor. Er sei dazu in der Lage, äußerte er, obwohl die Geschäfte schlecht genug gingen, und er riet ihr, das Geld in mündelsicheren Papieren anzulegen.

Sie schüttelte und sagte mit meckernder Stimme: »Deine Mutter willst du mit dem Hurengeld des kleinen Walter auszahlen?«

»Wieso Hurengeld?« fragte, er verblüfft.

Die Antwort auf die Frage blieb sie schuldig, und als das Lächeln endlich heraus war, erklärte sie: »Was fällt dir ein? Ich habe das Geschäft in die Ehe eingebracht; heute noch plagt mich das Gewissen, weil ich deinem armen Vater erlaubte, den Namen der Firma zu ändern. Er war so ehrgeizig in seiner Jugend – er hat es ja auch nicht lange gemacht. Es war ein Raub am Andenken meiner Eltern und weiter nichts. Aber du kennst mich, ich bin eine gutmütige Frau. Nein, mein Kind, ich bin im Geschäft und bleibe im Geschäft, bis ich in Frieden sterbe.«

Aber offenbar hatte der Schlag sie schwer getroffen. Sie begann zu kränkeln, es war ohnehin ein nasser, nebeliger Winter, und Edouard machte sich Vorwürfe. Wenn sie nicht im Bett lag, saß sie im Erker und fütterte die Spatzen. Hingegen hatte sie die Gottlosigkeit des Temps entdeckt und ließ ihn, unberührt in seinem Streifband, zu einer Wand anwachsen auf dem Tischchen. Der Staden war meist in einen gelblichen Nebel gehüllt, der an die bekannten Schwefeldämpfe erinnerte, und die Menschen krochen vorbei als schwarze Erscheinungen, die man nicht voneinander unterscheiden konnte. Die andern, die in der hell erleuchteten Elektrischen vorbeifuhren, schienen alle geschminkt und aufgedonnert zu einem Kostümball zu fahren. Die Stundenschläge der Kirchen antworteten einander träge und verstockt, als wollten sie nicht mit der Wahrheit heraus, und das Zehnuhrläuten vom Münster klang wie die Armesünderglocke, die eine ganze Stadt in eine Nacht voller Alpträume geleitet.

Es gab auch andre Tage, so klar und sonnig, als läge die Stadt statt in der Rheinebene tausend Meter hoch in den Bergen. Jugendfrisch stand der Münsterturm in einem Himmel, dessen Bläue eben erst erfunden schien. Er war fein und fast durchscheinend aus rötlichem Licht und Silber gebildet. Das Silber war der innersten Himmelsbläue entnommen, das rötliche Licht der Sonne, und beide blieben sichtlich mit ihrem Ursprung vermählt, obwohl das herrliche Gebilde in aller Fülle und Kraft für sich allein bestand.

Über den Staden, die Dächer der Waschpritschen auf der Ill, die Gesimse der gegenüberliegenden Häuser lief in Teppichen und Girlanden der Rauhreif, glitzerte und versprühte bunte Funken. Am längsten spielte das Feuerwerk auf dem schmalen, eisernen Geländer des Stadens.

Aber Grand'maman verabscheute diese Tage, an denen die Stadt aufatmete, die Glocken sangen, jeder Laut hallte und der Straßenlärm plötzlich ohne jeden Grund festlich aufrauschte. (Und dabei paßten ihre Augen so gut zu der Klarheit der Luft, dem reinen Blau des Himmels, ja, sie schienen das menschliche Auge selbst dieser Tage!) Sie haßte die Waschfrauen, die in ihren Pritschen gleich brünstigen Welttieren tobten, sie verscheuchte die Spatzen vom Fensterbrett, weil sie nicht länger mitansehen konnte wie das liederliche Volk (›die reinen Preußen‹) sich frech und unanständig aufführte. Alle Welt trieb Unfug an diesem Tage, von der Elektrischen, die zu ihrem alleinigen Vergnügen klingelte, bis zur Küche, die von Geschirrgeklapper, Gudulas Schreien und Amandas wehmütigen Liedern dröhnte wie eine Kirmes.

Grand'maman war der verlogene Frühling in der Seele zuwider.

Sie durchschaute das Blendwerk des Bösen und kehrte ihm den Rücken.

Samstags raffte sie sich auf, um ihren Enkel in der Sprechstunde zu besuchen. Der aber fühlte sich gerade an diesem Tag meist unwohl, und wenn sie sich zu ihm ans Bett setzte, hatte er leichtes Fieber und döste vor sich hin.

Da er erfahrungsgemäß nur wenige Stunden krank war, erreichte er, daß er, statt in die Infirmerie Französ. – Krankenstube. überzusiedeln, in seinem Bett bleiben durfte. »Du lieber Himmel«, sagte Grand'maman und blickte die endlose Reihe der Betten hinauf. »Ihr seid ja hierein ganzes Regiment von Taugenichtsen ... Was für Unfug treibt ihr da wohl nachts?« fragte sie mit gewinnender Vertraulichkeit.

Robert zeigte auf einen Verschlag mit weißen Gardinen in der Mitte des Schlafsaales,

»Da wohnt die Polizei«, erklärte er. Grand'maman war nicht überzeugt.

»Das ist doch ein blutjunger Priester! Der muß doch schlafen wie ein Murmeltier!«

»Wir auch«, versicherte Robert und drehte sich auf die andre Seite. »Ihr auch? ... Na, Gott gebe es! An Stelle deiner Mutter ließe ich dich nicht in dem Stall.«

Als sie ihm wieder einmal wegen des mutmaßlichen Nachtbetriebes zusetzte, erbrach er sich, und die herbeigerufene Schwester riet Grand'maman, den Jungen allein zu lassen.

Er schien bedeutend wohler, sobald Marie-Louise dabeisaß, aber dann konnte Grand'maman sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die beiden unter ihrer Nase Geheimgespräche führten, die keiner Worte bedurften. Sie überließen es ihr, die hörbare Unterhaltung in Gang zu halten.

Mitunter blitzte etwas wie Schadenfreude in den Augen von Mutter und Sohn auf, ein Funke sprang über, und dann verklärte sekundenlang ein Licht ihre Züge, daß sie einander auf überirdische Weise glichen.

»Lacht nur, Kinder«,sagte Grand'maman, »wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Um keinen Preis hätte sie jemand im Glauben belassen, man könnte sie unbemerkt hintergehn!

Als sich weder Mutter noch Sohn zu einer Antwort bequemten, war die alte Dame sehr betroffen. Da ja in der Tat niemand ausdrücklich gelacht hatte – wäre es demnach nicht ein Gebot natürlicher Schicklichkeit gewesen, ihr Mißtrauen mit einem »Aber Grand'maman, wie kannst du nur glauben!« freundlich niederzuschlagen? Sie hätte sich dadurch nicht eines Besseren belehren lassen, aber der Respekt wäre gewahrt geblieben.

Ihre Nase wurde spitz und weiß.

»Die Leute wissen überhaupt nicht mehr, was Höflichkeit ist«, versicherte sie und stand auf.

Marie-Louise, mit ihrem Sohn allein gelassen, fragte: »Sag mal, du Schlingel, wie stellst du es an, dich jeden zweiten Samstag krank zu melden?«

»Mit dem Willen«, antwortete Robert.

»Aber da lügst du doch?«

»Nein, Mutter. Ich sage: Grand'maman macht mich krank, und das ist die Wahrheit.«

»Da blamierst du aber deine Familie.«

»Ich sage die Wahrheit.«

»Erzählst du noch mehr von uns?«

»Alles, was man wissen will.«

Marie-Louise ließ sich von seinem finster entschlossenen Blick nicht abhalten, hell aufzulachen.

 

Trotz des milden Winters gingen die Geschäfte schlecht. Als Grand'maman um Geld bat, um ihrem Enkel ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen, wurde ihr bedeutet, das Geschäft: könne solche Ausgaben nicht tragen. Sie schüttelte mit dem Kopf und murmelte etwas von einem Rechtsanwalt. Eine Stunde später ließ er sich melden. Edouard hatte ihn geschickt. Sie jagte ihn davon. Dasselbe Los traf den Doktor Walter, der nach gründlicher Untersuchung feststellen mußte, daß ihr nicht das geringste fehle. Sie ließ andre Ärzte kommen, die erklärten das gleiche.

Eine gewisse Entspannung trat ein, als der alte Pfarrer der nahe gelegenen Magdalenenkirche sie häufig besuchte. Eines Tages kam auch er nicht mehr, und Amanda kreischte vor Vergnügen, weil sie Tante Gudula beim Fluchen ertappte. Wochenlang herrschte Totenstille im Erkerhaus am Schiffleutstaden, und auch die Spatzen blieben aus, weil keiner sie fütterte. Grand'maman und Gudula beteten um die Wette, die eine in ihrem Bett, um die Heizung zu sparen, die andre in der Küche, wo der Ofen glühte, obwohl kaum darauf gekocht wurde. »Das Kaboß«, sagte Gudula.

Die Feste bei Marie-Louises Heimkehr wurden nicht mehr im Haus, sondern bei der Familie Walter gefeiert. Es machte übrigens wenig aus, ob Marie-Louise da war oder nicht. Auch wenn sie da war, erfüllte sie die Wohnung nur stundenweise mit ihrer erbärmlichen Heiterkeit.

Eines Samstags wurde Grand'maman die Droschke, in der sie zu Roberts Schule fuhr, unter einem nichtigen Vorwand verweigert. Sie ging zu Fuß. Robert geruhte im Sprechzimmer zu erscheinen. Als sie sich bei ihm über die Unritterlichkeit seines Vaters beschwerte, fragte er, ob es also wirklich stimme, daß die drei Hündchen wieder zu Leoparden geworden seien, wie in der Stadt das Gerücht gehe – und auf ihre mißtrauische Frage erzählte er ihr das Märchen von Veni, Vidi und Vici. Es war ein schönes Märchen, Grand'maman leugnete es nicht. Sie schüttelte nur furchterregend mit dem Kopf. Aber es kam kein Lächeln heraus. Der Junge starrte sie an.

Daß trotz heftigsten Schütteils das Lächeln im Kopf drinblieb, war für ihn wie das Versagen eines Naturgesetzes. Gleich trifft sie der Schlag, dachte er. Robert hatte Angst – eine gräßliche Angst. Er hielt sich bereit, ihr beizuspringen, und gleichzeitig war er entschlossen, sie nicht anzurühren, wenn sie umfiele. »Das Internat«, sagte sie und musterte entgeistert die weißgetünchten Wände des Saales.

Das Sprechzimmer der Schule lag im Hochparterre, es war groß und leer bis auf einen Tisch, einige Stühle und eine schmale Bank, die an der einen Wand entlanglief. An den Besuchstagen rumorte in der Ecke ein überheizter Ofen aus Gußeisen. Die hohen Fenster hatten Gitterstäbe. Als einzigen Schmuck wies das Zimmer ein Kruzifix und zwei schwarzgerahmte Bildnisse auf: Papst Leo XIII. und der derzeitige Bischof, und jedes davon hing ganz allein an einer großen, weißen Mauer. »Eine Wüste«, murmelte Grand'maman. Seltsamerweise genügte das Lächeln Leos XIII., den Raum zu beleben. Der winzige, blasse Vogelkopf folgte dem Besucher durch den Saal, das Lächeln, so fein es war, erfüllte die Luft, die Wüste lächelte.

Obwohl die Fenster aufstanden und die Wintersonne durch die Gitterstäbe hereinfiel, roch es muffig. Und wiederum war da jenes feine Lächeln und zeigte sich mit der Sonne und der einströmenden Frische im Bund und verbreitete einen herben, winterlichen Duft.

Robert hatte längst entdeckt, daß das Lächeln Leos XIII. seine Grand'maman gleichsam austilgte. Deshalb pflegte er sich auch so zu setzen, daß er an ihr vorbei auf die weiß schimmernde Gestalt an der Mauer blickte. Heute jedoch fühlte er sich vom Oberhaupt der Kirche in peinlicher Weise beobachtet. Er bat Grand'maman um Erlaubnis, mit ihr den Platz zu tauschen, und sie willigte ein, ohne den Ausdruck von Geistesabwesenheit zu verlieren. »Das Internat hat dich«, wiederholte sie, und als sie auch diesmal den Satz nicht zu Ende sprach, fragte Robert aufmunternd: »Ja? Bitte?«

Er wußte, was sie sagen wollte. Seit sechs Monaten wartete er darauf ...

»Nein, Grand'maman«, sagte er endlich. »Es ist nicht das Internat.«

»Doch«, flüsterte sie, »doch. Es hat dein Herz zu Stein gemacht.«

»Im Gegenteil«, behauptete er. »Du brauchst nur Mama zu fragen, ob mein Herz aus Stein ist.«

Kaum hatte er es ausgesprochen, schämte er sich. In seiner Verwirrung fuhr er mit den Fingernägeln zum Mund, doch gelang es ihm, die Hand noch rechtzeitig anzuhalten, er beugte sich ein wenig vor und betrachtete die gespreizten Finger.

Und dann kam es. Sie machte ihm das Angebot, ihn sofort aus der Anstalt zu nehmen.

»Komm, mein Kind, komm! Verlassen wir dieses entsetzliche Haus.« Sie sah sich um. »Es ist wirklich eine Sprechstunde für Zuchthäusler.« Und indem sie auf den Schatten der Gitterstäbe zu ihren Füßen zeigte: »Siehst du, wir sitzen beide wie gefangen.« Er lehnte ab. Er wollte nicht nach Hause. Er fühlte sich wohl im Internat. Er wollte Priester werden.

Sie schüttelte wie außer sich, und wiederum kam kein Lächeln. Als das Schütteln vorbei war, legte sie ihm die Hand auf den Kopf. Er richtete sich auf, und sie mußte ein wenig nachrücken, um die Hand auf ihrem Platz zu behalten. Er sah ihr fest in die wasserblauen Augen.

»Robby, mein Kind«, fragte sie. »Sag mir – sind wir Feinde?«

Er antwortete: »Ja, Grand'maman.«

Er mußte alle Kraft zusammennehmen, um ihre Berührung zu ertragen, und so saß er, innerlich zitternd, aber steif, mit einer Last auf dem Scheitel, die jede Sekunde schwerer wurde.

»Feinde«, betonte sie ... »Und wie verträgt sich das mit der Religion?«

»Ich bin kein Heiliger«, stieß er hervor.

»Du willst es aber vielleicht werden?

»Es verträgt sich mit der Religion.«

»Willst du mir nicht erklären –?« Sie ließ den Unterkiefer hängen und zeigte die Zunge.

»Man soll dem Bösen widerstehn«, sagte er.

Sie dachte nach, und dann nickte sie wiederholt.

»Ja, freilich, das soll man. Ich habe es mein Leben lang – so gut ich konnte – getan.«

»Wirklich?« fragte er mit einem gehässigen Lächeln.

»Ja, mein Kind – wirklich und wahrhaftig. Und das Herz deiner Großmutter ist darüber nicht zu Stein geworden.«

Er sagte langsam: »Nimm, bitte, die Hand weg.«

Er schwankte, das weiße, verschwimmende Gesicht vor ihm war wie mit Fliegen besät – da verließ ihn die Hand, und er atmete tief.

»Ich will für dich beten, armes Kind«, sagte sie leise.

Er sah sie noch immer an. Sie hatte die klarsten Augen der Welt, stella matutina, der Morgenstern.

Sie erhob sich und durchschritt den Saal, Er begleitete sie gewohnheitsmäßig, öffnete ihr die Tür. Sie sah ihn nicht an. Er schloß die Tür und ging in die Mitte des Saales zurück. Während er, ohne bestimmtes Gefühl, ein plötzlich aufsteigendes Schluchzen in der Kehle erstickte, hörte er, wie sie draußen Schritt um Schritt die Steintreppe hinabstieg.

Sie besuchte ihn nicht mehr.


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