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Eine lange Nacht

Wochen später, Marie-Louise war eben eingeschlafen, hatte geträumt, lachte Edouard plötzlich laut auf in seinem Bett: »Gut, daß wir damals mit den Kindern durchgehalten haben! Einmal mußten wir Schluß machen.«

Marie-Louise hob den Kopf aus den Kissen.

»Was ist los?« fragte sie aufgeschreckt.

»Ein historisches Ereignis! Gerade ist es mir eingefallen ... Ihre erste richtige Niederlage! Großartig ... Leider hat sie sich rasch erholt ... Wie der Doktor sagt: ein von Herzen boshafter Kerl sitzt im Saft seiner Bosheit wie der Embryo im Spiritus. Er hält sich ewig.«

»Wieso? Sprichst du von Grand'maman?«

»Freilich – von wem sonst? Bosheit ist eine Kraft. Sie trotzt dem Tod und der Fäulnis.«

Er lachte. Sie konnte ihn nicht sehn. Im. Zimmer war es so dunkel, daß sie kaum den Ausschnitt des offenen Fensters erkannte, und was er sagte, berührte sie unheimlich.

»Wenn sie stirbt«, sprach sie nachdenklich ... »Ich sage dir, mein Liebling, in ihrer Sterbestunde wird deine Mutter nichts als Weisheit und Güte sein. Mir kommt es vor, als hätte ich im Augenblick von ihr geträumt. Sie starb, wir standen dabei, und sie war wie verklärt.«

Nun war es an ihm zu fragen: »Wieso?« Im Grunde glaubte er nicht, daß Grand'maman je sterben könnte.

»Nun ja – wenn die Kraft, von der du sprichst, sie verlassen hat. Die Schwester meines Vaters war auch herrschsüchtig, daß man es nicht fassen konnte. Es ist viel häufiger bei Frauen, als man glaubt. Und es sind immer sehr leidenschaftliche Frauen, um die es eigentlich schade ist, sie stehn am falschen Platz ... Sie hatte eine Geschichte mit einem Priester, einem hochgebildeten, frommen Mann. Nichts Verbotenes. Er gewann nur einen ungeheuren Einfluß auf sie, und sie, sie war zutraulich zu aller Welt wie ein Reh, das dem Tiger aus dem Maul frißt – wenn es je so was an Dressur gegeben hat. Da sie alles mit großer Leidenschaft tat, war sie auch leidenschaftlich sanft – und durchscheinend vor Güte. Wer das nicht gesehn hat, sagte mein Vater, weiß nicht, was Frömmigkeit ist ... Dann starb er, in drei Tagen war er tot. Das machte sie verrückt. Wahrscheinlich, weil es so unerwartet kam und so schnell zu Ende ging ... Die reine Bestie ... Sie sagte, Gott habe ihn vergiftet, Gott sei neidisch auf ihn gewesen. Stell dir vor! ... Sie wollte nicht, daß ihre Geschwister beteten – zu einem Giftmörder bete man nicht, und wenn die Menschen ihn nicht mit ihren Gebeten ernährten, hätte er längst die Macht verloren, ihnen zu schaden. Schon Adam und Eva habe er lediglich aus Neid aus dem Paradies vertrieben. Ein glückliches Menschengesicht sei für ihn eine Fratze, die man austilgen müsse ... Und die Arme zeigte die Fratze, als die ein glückliches Gesicht ihrem Gott erschien, sie schnitt entsetzliche Grimassen und erschreckte einen jeden im Haus. In einem Haus, wo es nur fröhliche Gesichter gab! ... Sie wußte sich nicht mehr zu helfen, und wie andre ins Wasser springen, so trat sie in einen strengen Orden ein ...

Erst hieß es, das Kloster wolle sie wieder loswerden, sie sei unerträglich. Aber schließlich wurde sie doch Äbtissin und starb im Geruch der Heiligkeit. Sie hieß Marie-Louise wie ich und war die Lieblingsschwester meines Vaters. Ja, und er – er sah in ihr immer noch das Kind. Als Kind, weißt du, war sie ein Wunder von Anmut und Laune, mit ihren Einfällen machte sie das Alltäglichste zu einem Ereignis. Sie zauberte! Mein Vater sagte, sie hätten bis in ihr sechzehntes Jahr, wenn nicht länger, wie im Märchen gelebt, und Vater war auch der einzige, der später einigermaßen mit ihr fertig wurde. Sicher bewog er sie auch, ins Kloster zu gehn, indem er es ihr als eine Art wiedergefundener Kindheit darstellte, von wo es gleich in das Märchenhafteste von allem, in den Himmel gehe ... Hörst du noch zu?«

Sie richtete sich in ihrem Bett auf und sprach mit gedämpfter Stimme weiter.

»Ich vermute, weißt du, Grand'maman ist so böse, weil sie sich leidenschaftlich fürchtet ... Sie fürchtet sich vor allen, die jünger sind und sie vermutlich überleben werden. Sie hält sie eben deshalb für stärker und setzt sich mit ihrer Bosheit zur Wehr. Bestimmt! ... Wenn sie sagt, sie lasse sich niemand über den Kopf wachsen, dann sieht sie sich leibhaftig bis an den Hals in der Grube stehn und glaubt, der nächste werde sie ganz hineinstoßen. Und dann werde Erde über sie fallen, Erde und Finsternis ... Sie weiß: am unbedenklichsten sind die Kinder ... Sie traut ihnen jede Grausamkeit zu, wenigstens in Gedanken ... Und für Grand'maman sind Gedanken Taten. Sie lebt ja selbst nur in Gedanken. Das ist schlimm! Sie sitzt zwischen den Fenstern ihres Erkers und lebt mit ihrer ganzen, ungeheuern Kraft nur in Gedanken ... Menschen, die nur in Gedanken leben, vergiften sich damit ... Deshalb soll man auch die Kinder spielen lassen. Damit sie sich nicht in Gedanken verzehren ... Meinst du nicht auch?«

»Alles recht und gut«, erwiderte Edouard. »Aber, liebes Kind, ich muß dir sagen: sie war schon immer so. Außerdem hadert sie nicht mit Gott, sie macht es sich viel bequemer, sie hat sich ein für allemal zu seinem Generaladjutanten ernannt. Sie war immer so.«

»Du kannst es nicht wissen ... Du warst fünf Jahre alt, als du deinen Vater verlorst.«

»Da war die Ernennung jedenfalls schon vollzogen. Seit meinem fünften Jahr lebe ich unter ihrem Schrecken.«

Er war vergnügt, als spräche er von einem glücklich überwundenen Zustand: »Hör mal, Edouard! Vielleicht hat sie sich schon viel früher zum Generaladjutanten befördert ... Als sie meinen Vater dabei überraschte, wie er ihre Schwester in den Nacken küßte! Du weißt.«

»Ich weiß.«

»In der Familie wird immer darüber gelächelt. Es war aber eine ganz böse Sache. Sie liebte den Vater und glaubte sich stillschweigend mit ihm verlobt. So wie wir.«

»Wie wir? Kann ich mir nicht denken. Sonst hätte sie ihn gekriegt.«

»Erlaube mal! Wenn ich dich dabei erwischt hätte, wie du meine Schwester auf den Knien schaukelst und in den Nacken küßt und die Person auch noch ruhig sitzen bleibt, während ich erblassend vor euch stehe.«

»Ich mache dich darauf aufmerksam, daß die Person, von der du sprichst, deine Mutter war – oder bald darauf deine Mutter wurde, was auf das gleiche herauskommt ... Aber du hättest mich trotzdem gekriegt.«

»Du willst sagen: genommen? Na, weißt du! Na, na und schließlich bin ich ja auch nicht Grand'maman.«

Grand'maman hatte sich nämlich damals überlebensgroß gezeigt, beinahe wie das Riesenfräulein auf Burg Niedeck, indem sie die beiden Verbrecher gewissermaßen in ihre Schürze packte.

»Ein artig Spielding!« ruft sie, »das nehm' ich mit nach Haus.«
Sie kniet nieder, spreitet behend ihr Tüchlein aus
Und feget mit den Händen, was da sich alles regt,
Zu Haufen in das Tüchlein, das sie zusammenschlägt.

So wanderte sie mit ihnen durch die Stadt und verkündete die Verlobung dieser ihrer Schwester mit diesem Dombaumeister Walter, als wäre es ein neu eingesetztes Kirchenfest. Dann erst ließ sie die ›Kleinchen‹ aus der Schürze springen, ließ sie laufen, aber nur, um die Hochzeit als Fuchsjagd zu betreiben, hoch zu Pferd und mit einer Meute, der die Zungen fingerlang aus dem Halse hingen. Sie fürchtete bis zuletzt, der Bräutigam könnte entwischen und er sowohl wie die Braut ihrer lebenslänglichen Strafe entgehn. Daß, nach erreichtem Ziel, ›das Verächtlichste an Mann und Frau, was es gab‹, in der Ehe blühte und anerkannt schöne Früchte hervorbrachte, bereitete ihr keine Enttäuschung. Sie glaubte es nicht und hielt Marie-Louises Eltern bis zu deren Tod für Verdammte, die der Teufel bei aller Verschwiegenheit keinen Augenblick aus der Zange ließ.

»Und du meinst«, fragte Edouard, »wir sollen nun weiter für sie büßen?«

»Wir? Die Menschheit! ... Billiger tut es Grand'maman nicht. Denk nur, die Kränkung, die furchtbare Kränkung, als du dann mich heiratetest, mich, die Tochter des Verräters! Zwei allein sollten genügen, das zu büßen?«

»Wenn ich es mir recht überlege, ist es doch besser geworden – obwohl sie sich dem schönen Beispiel deiner Tante verschloß und nicht ins Kloster ging, sondern nur ein bißchen zu Verwandten aufs Land ... und zu dem Dorftrottel von Pfarrer, der mit offenem Mund unter seinen Pfirsichspalieren schnarcht ... Seitdem du da bist, Marie-Louise, geht es besser.«

»Ich danke dir, mein Lieber ... Sie fürchtet mich auch weniger als die Kinder. Sie weiß, ich überlebe sie nicht.«

Marie-Louise spürte, wie sein Gesicht sich mit einem Schlag veränderte. Sie bedauerte ihre Worte, aber schon glitt seine Traurigkeit wie eine Welle, dunkler als die Finsternis, zu ihr hinüber und vereinte sich mit der Schwermut, die auf dem Grund ihres Wesens lag, seitdem sie aus dem Traum von Grand'mamans Tod aufgeschreckt war.

»Fängst du wieder an?« sagte er, halb klagend, halb erbittert.

»Warum bloß? Warum? An deiner Krankheit ist keiner gestorben.«

»Nein, das nicht ... Wenigstens nicht so geradezu. Aber ich bin wieder so unruhig, Lieber ... Sicher werde ich bald fortmüssen ... Verzeih mir!«

Er tastete nach ihr, ergriff sie, zog sie zu sich hinüber.

»Ach du! Ich bin doch erst ein Mensch, seitdem ich dich habe ...

Was macht es viel aus, wenn du mal – wenn du mal – fortmußt ...« Er suchte mit zitternden Fingern auf ihrer Brust. »Versprich mir, daß du nie das Medaillon ablegst – nie! Das letzte Mal hat es so schrecklich, lang gedauert, bis du wiederkamst, nur weil du es hier hattest liegenlassen. Niemand weiß dann, wo du hingehörst. Und du auch nicht.«

»Ich lege es nie wieder ab, mein Lieber! Nie. Nie. Ach, Edouard, deine Mutter dürfte noch hundertmal böser sein, wenn ich dafür – das nicht hätte! Die Schande! Die schreckliche Schande! Als ob ich dir davonliefe – dir, mein Liebes, Liebes, mein Herz, mein Schatz, dir.«

Sie weinte still.

»Du kommst ja immer wieder, Marie-Louise. Denk nur an die Freude dann – alle freuen sich, alle. Alle haben dich lieb, gute, kleine Marie-Louise ...«

Er wiegte sie, und allmählich weinte sie sich in Schlaf. Und er hielt sie fest, Stunde um Stunde, aus Angst, sie könnte fortgehn, wenn er sie losließe, und am Morgen wäre es im Bett neben ihm leer. Er zählte die Stundenschläge der Kirchen, die Wilhelmerkirche sprach zu ihm, die Magdalenenkirche, als letzte und gewichtigste das Münster.

Im offnen Fenster wurde es lichter, die Wolken verschwanden, er sah Sterne.

Die Bläue der Nacht ergraute, und langsam begannen die Gegenstände eine Feuchtigkeit abzusondern wie kalten Schweiß. Die Glockenschläge waren Seufzer von Lebensmüden, hallend in einem riesigen Gewölbe. Wilhelmerkirche, Magdalenenkirche – das Münster.

Endlich, mit dem Ruf der Grasmücke, einem reinen, kurzen Laut wie aus einer Glasflöte, huschte ein rosiger Schein durchs Zimmer – ein Schmetterling, der herumflattert, bis er sich plötzlich setzt und einen stillen Schein um sich verbreitet. Und der Mann, der seine Frau im Arme hielt, aus Angst, sie an unbekannte Mächte zu verlieren, atmete auf. Von den kurzen, eifrig wiederholten Rufen ihrer schwarzköpfigen Schwester verlockt, begann bald danach die rote Grasmücke im Nachbargarten ihr morgenseliges, schwelgendes Lied. Wilhelmerkirche, Magdalenenkirche, das Münster, sie alle hatten ins Leben zurückgefunden.

Als die Schwarzamsel, überlaut vor Eifersucht, sich einmischte, machte Marie-Louise eine Bewegung, als wollte sie ihre Lage verändern. Auch dem Mann hätte es gut getan, seine Lage zu wechseln, sein Arm war abgestorben, er fühlte sich am ganzen Körper zerschlagen wie nach einem Sturz, aber er drückte sie an sich, er hielt sie fest. Sie öffnete große helle Augen, die Augen dunkelten, Marie-Louise erkannte ihn, ernst und nachdenklich, wie vom andern Ufer des Lebens – schlief wieder ein.

Sie schlief unruhig, sie machte immer die gleiche Bewegung von seiner Schulter weg, und einmal stöhnte sie leise.

»Nein«, flüsterte er und hielt sie fest. »Nein, nein ...«

Es war sinnlos, was er tat. Er konnte sie nicht immer so halten, er konnte sie nicht halten, wenn sie fortmußte. Und nun war auch der helle Tag da, hinten im Hof bei den Ställen lärmten die Spatzen, der Tag war da. Er konnte sie nicht lange mehr festhalten, wie er es jetzt noch tat, der Tag war da, der Beruf, die Wege von einem Bauplatz zum andern, das Büro und immer die Frage: »Ist sie noch da?«, die ein Uhrwerk war, dessen lautloses Wirken die Zeit wachsen und an drohender Gewalt zunehmen ließ, statt sie zu verringern. Das Uhrwerk der größeren, der hellen Angst, der einsamen Angst – schon war es im Gang, und er hatte nicht mehr die Kraft zu erschrecken, als seine Stille plötzlich in laute, schwingende Töne ausbrach: Wilhelmerkirche, Magdalenenkirche.

»Bist du noch da?« fragte er leise, ohne wie gewohnt Antwort zu erwarten, »bist du? ...«

Da erfolgte der Zuspruch des Münsters, tief und bestimmt, er vernahm ihn noch, der Ton, licht und glatt wie Gold, erfüllte ihn mit Vertrauen, mit Leichtsinn, so schlief er ein.

Als er aufwachte, stand sie über ihn gebeugt, das Medaillon baumelte an ihrem Hals. Er schnappte nach dem goldenen Ding, sie beugte sich tiefer, er nahm es zwischen die Lippen. Dann richtete er sich auf und öffnete die flache Kapsel.

»Marie-Louise Schmittlin«, las er halblaut. »Straßburg, Schiffleutstaden, Haus zum Erker. Ich muß schnell heim zu Edouard und Robby.«

Sie nahm es ihm weg und sagte: »Grand'maman sitzt schon im Erker und paßt auf. Sie spürt es ... Sie spürt es immer ... Aber ich bin noch da!«

»Vielleicht geht es diesmal vorüber?« fragte er zögernd.

»Vielleicht ... Gott, wäre das schön!«

»Sicher!« rief er. »Sicher!«

»Sicher«, sagte auch sie.

Dann holte sie tief Atem und küßte ihn: »Guten Morgen!«

Sie sagte es mit frischer, eiliger Stimme, und als sie fröstelte, verließ mit dem Schauer auch die Erinnerung an die traumschwere Nacht Marie-Louise, fiel von ihr ab wie draußen der Tau von den Sträuchern. Der helle Tag war da, mit der Sonne, den vertrauten Geräuschen der Stadt, der Tag schien ihr ein Schutz, schien Gewißheit.

Er zog sie zu sich herunter und bettete sein Gesicht in den zarten Erdgeruch ihres Körpers. Auch das war Gewißheit – die größte von allen. Eine Zeitlang lagen sie ruhig atmend, kreatürlich dankbar mit gelösten Gliedern. Dann packte ihn von neuem die Angst. Er umschlang sie, als wollte er sich die Frau einverleiben, sie mit Feuer und Blut sich verbinden, als schlüge er sie in Banden, die keine Macht zu sprengen vermöchte, am allerwenigsten der Tod, dem sie glühend entgegenflogen.

In Roberts Zimmer schrillte der Wecker. Das Uhrwerk wurde abgestellt, und die Stimme des Knaben stieg, wie ein Springbrunnen kühl und frohlockend:

»Mutter! ... Der Münsterturm! ... Leuchtendrot!«

Sie wollte antworten, mit einer Stimme, die sich der Knabenstimme gleichgeartet beigesellte, antworten aus einem hellen, nüchtern fröhlichen Winkel ihres Wesens.

Er war verschüttet.

Sie fand nicht hinauf aus der heißen Tiefe, in der sie hingerissen wurde. Eine fremde Verzückung hielt sie gefangen.

Sie stammelte: »Ich bleibe bei euch ... Immer.«

Doch als die Dämmerung mit der Milde der ersten vollkommenen Sommerabende herabsank, war sie fort, und aus den weitgeöffneten Fenstern des Hauses am Schiffleutstaden blickten zwei Gestalten, ein Erwachsener und ein Knabe, jeder in einem andern Zimmer, und suchten im letzten Schimmer des Tages ihre Spur.


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