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Die Stockholmer Konferenz.

Die Hoffnung in allen Schützengräben. – Die mühseligen Vorbereitungen. – Elsaß-Lothringen. – Vielleicht eine Grenzberichtigung. – Die Parteiresolution: Ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen! – Die Regierung gegen unsere Formel. – Ludendorff hat Verständnis für eine Lösung der elsaß-lothringischen Frage. – Wir informieren Stauning für einen Bericht an Albert Thomas. – Viktor Adler. – Die Ermordung Stürghs. – Ein Abend in Kopenhagen. – Beim Grafen Rantzau. – Dänemark und der U-Boot-Krieg. – Die Verhandlungen in Stockholm. – Der erste »große Tag«. – Das Stockholmer Memorandum. – Ein lebendiger Franzose. – »Ohne Annexionen« – für alle, nicht nur für uns! – Beim schwedischen Außenminister. – »Après la guerre.«

Die Hoffnung in allen Schützengräben.

Die Stockholmer Konferenz der II. Internationale umfaßt mit allen ihren Vorbesprechungen beinahe ein Viertel des Jahres 1917, von April bis Juni. Sie war geboren hauptsächlich aus der Initiative unserer holländischen Parteifreunde, vor allem Troelstras, und wurde getragen vom Internationalen Sozialistischen Bureau. Wer nicht allzu vergeßlich ist und die Vorgänge nicht nur nach ihrem direkten Erfolg oder Mißerfolg beurteilt, wird heute noch fühlen und sich erinnern, welch ungeheures Maß von Hoffnungen sich in aller Welt an diese Friedensanbahnungen der Sozialdemokratie knüpften. Über allen Schützengräben stand der Gedanke an Stockholm wie ein neuer Stern von Bethlehem, der zur Krippe des Friedenskindes führen mußte. Während dreier Monate waren alle Gedanken der Millionenheere auf das Ergebnis der Besprechungen der Arbeitervertreter gerichtet, und es war nur zu verständlich, daß der ergebnislose – nicht durch unsere Schuld ergebnislose! – Verlauf der Konferenz die Kriegsmüdigkeit und den Abscheu vor kriegsverlängernden Annexionsgelüsten ins Ungemessene steigern mußte.

Die deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten hatten in jenen Wochen und Monaten eine Arbeit zu bewältigen, die fast nicht zu bewältigen war. So wie sich die Weltverhetzung gegen Deutschland gesteigert hatte, mußten sie auf die heftigsten Angriffe gefaßt und dafür gewappnet sein. Es galt also, das Material zur Beurteilung ihrer Stellungnahme so lückenlos wie möglich herbeizuschaffen; ein Dokument ohnegleichen, dem keine sozialistische Partei der Welt etwas Ähnliches entgegensetzen konnte, und welches Zeugnis für unsere rastlosen Friedensbemühungen ablegte, wurde die auf meinen Vorschlag beschlossene und von mir auch besorgte Sammlung aller Aktenstücke aus der Parteiarbeit während des Krieges. Neben dieser internen Vorbereitung hatten wir den täglich sich erneuernden Kampf mit der Regierung, die nur in einem einen festen Willen und einen unbeugsamen Charakter zeigte: in dem Entschluß, keine Farbe bekennen zu wollen! Zeugnis dafür legen die hier wiedergegebenen Unterredungen mit der Reichskanzlei und dem Auswärtigen Amt ab. Daneben ging der lächerliche und doch reichszerstörende Kampf im Verfassungsausschuß, wo sich die Regierung und die bürgerlichen Parteien darin überboten, die Situation zu verkennen und Angst vor der eigenen und noch mehr vor unsrer Courage zu zeigen. Dabei brach gerade während der ersten, von häufigen Reisen ins neutrale Ausland unterbrochenen Vorbereitungen für Stockholm der erste Massenstreik in Berlin und Leipzig aus, bei dem wir alle Hände voll zu tun hatten, um zu vermeiden, daß die »starken Männer« der Regierung nicht durch falsches Prestigebedürfnis und vollkommenes Verkennen der Arbeiterpsyche unabsehbaren Schaden anrichteten. Wir hätten an vielen Tagen zugleich in Berlin, Kopenhagen und Stockholm sein müssen.

Ich gebe im Folgenden eine zusammenhängende Darstellung der internen Vorgänge vor, in und nach Stockholm. Mit dem Konferenzgedanken wurden wir zum ersten Male befaßt, als der holländische Sozialistenführer Troelstra vom Haag nach Berlin kam.

Die mühseligen Vorbereitungen.

Troelstra wollte nach Stockholm reisen, um in Gemeinschaft mit dem Sozialistischen Internationalen Bureau Friedensfäden zu spinnen. Da die Schweizer schon eine etwas wilde Zusammenkunft arrangiert und die skandinavischen Länder zu dem gleichen Zweck eine interparlamentarische Konferenz zur Förderung des Friedens abgehalten hatten, nahmen wir den Plan auf das freudigste auf. Zu einer Besprechung waren einige österreichische und ungarische Parteivertrauensleute bereits nach Berlin zitiert worden. Wir waren uns nach jeder Richtung hin sehr schnell einig. – Troelstra und der österreichische Parteifreund Dr. Adler plädierten für die Zulassung auch der deutschen Minderheit bei den Verhandlungen in Stockholm, von denen man annahm, daß sie Mitte Mai würden beginnen können. – Wir erklärten: uns geht der Frieden über alles; wir werden Einwendungen nicht erheben, wenn auch die sog. Unabhängigen zur Teilnahme berufen werden. – Es folgte eine merkwürdige Aussprache über die Pässe, die wir für Haase und andere besorgen sollten. Wir sollten also wohl quasi den Beweis dafür erbringen, daß wir Regierungssozialisten seien. Ebert hielt sich sehr zurück, erklärte dann aber, daß wir protestieren würden, wenn man Mitgliedern des Reichstags, die zu einer Friedenskonferenz reisen wollten, die Pässe verweigern wollte. – Troelstra weiter: für die Verhandlungen auf einer Sozialistenkonferenz müsse man die Schuldfrage nach Möglichkeit ausschließen, ebenso die nationalen Parteistreitigkeiten. Alles müsse zugespitzt werden auf die eine Frage: Wie ist am schnellsten Frieden zu machen? – Damit hatte er unsere vollkommene Zustimmung. – Adler reiste abends nach Zürich, um dort den Russen Axelrodt zu sprechen.

Elsaß-Lothringen.

Wir arbeiteten jetzt fieberhaft für das Zustandekommen der Stockholmer Konferenz. Bereits am 22. April traf unser Freund Kiefer aus Kopenhagen in Berlin ein, um einen Brief Staunings zu überbringen, ungefähr folgenden Inhalts: Stauning hat mit Thomas geredet, der auf der Reise nach Petersburg in Stockholm gewesen ist. Thomas hat gesagt, daß die Franzosen wahrscheinlich zu einer Konferenz nach Stockholm kommen würden. Am schwierigsten sei für sie die elsaß-lothringische Frage. Darüber müßten sie hinwegkommen. Es komme darauf an, wie wir uns zu dieser Frage stellten. Thomas hat gestattet, daß Stauning uns informiere, hat jedoch strengste Verschwiegenheit zur Bedingung gemacht. – Des weiteren hat Stauning gewünscht, daß wir dafür eintreten, daß dänische Schiffe, die mit Futtermitteln nach Dänemark steuern, nicht mehr torpediert würden. Das Land komme dadurch in eine sehr schlimme Lage, und die Volksstimmung verschlechtere sich immer mehr. Träte keine Änderung ein, so könne sich Skavenius, der Minister, nicht mehr lange halten. Stauning ließ weiter durchblicken, daß er uns noch weitere Mitteilungen zu machen habe, woraus wir den Schluß zogen, daß er uns zu sprechen wünsche.

Vielleicht eine Grenzberichtigung.

23. April: Parteivorstandssitzung. Thema: Staunings Brief. Einstimmige Überzeugung, daß wir den Brief nicht schriftlich beantworten können. Ebert und ich wurden bestimmt, sofort nach Kopenhagen zu reisen. – Um 12 Uhr kam Troelstra, er las den Brief und beurteilte die Situation, soweit die Konferenz in Betracht kommt, nunmehr sehr günstig. Er reist am 24. nach Kopenhagen und wird Stauning über unsere Ankunft unterrichten. – Da Zimmermann im Hauptquartier war, vermittelte ich eine Unterredung mit Wahnschaffe, um ihm wegen Elsaß-Lothringen den Puls zu fühlen. Während wir – Ebert und ich – mit ihm sprachen, kam Rietzler dazu. Ja – Elsaß-Lothringen? Sie wollten nichts sagen, weil sie dazu nicht autorisiert wären. Als ich dann unsere prinzipielle Stellung auf Grund unseres Parteibeschlusses präzisiert hatte, knüpfte ich daran die Bemerkung: Sollte überhaupt nicht möglich sein, die Frage zu diskutieren, ob nicht eine Grenzberichtigung zu erwägen sei, etwa derart, daß wir einige lothringische Dörfer gegen entsprechendes Gebiet austauschten? – Darauf meinte Rietzler: Vielleicht könnte das in der Form geschehen, daß wir und die Franzosen gleichwertiges Gebiet an Luxemburg abtreten!! Wahnschaffe hielt zurück, da in erster Linie Zimmermann und der Reichskanzler gehört werden müßten. Er wollte morgen gleich mit beiden reden und uns dann Bescheid sagen, wann Zimmermann mit uns sprechen könne. Einverstanden. – Im Laufe des Tages hatte ich eine Unterredung mit Hoch. Als ich, ohne ihm zu sagen, wieso und warum, von Elsaß-Lothringen redete, wehrte er mit auffallender Heftigkeit ab. Von Elsaß-Lothringen könnten wir nicht mit den Franzosen sprechen. Die Frage könnten wir überhaupt nicht anschneiden!

Ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen.

Am 23. April hatte ich eine Unterredung mit Zimmermann. Er schimpfte zunächst entsetzlich auf den Türken Talaat Pascha, der ihm seit vier Tagen auf der Pelle liege und kostbare Zeit raube. Ich war froh, daß er sich zunächst über den Türken austobte, weil ich sofort merkte, daß ihn auch noch anderer Zorn erfüllte. Ich nahm an, daß das Toben gegen Talaat mir zugute kommen würde. Er ging dann ohne viele Umschweife auf den in unsrer letzten Parteiausschußsitzung gefaßten Beschluß über, der in der Presse veröffentlicht worden war und folgenden Wortlaut hatte:

Der Parteiausschuß und der Parteivorstand der sozialdemokratischen Partei Deutschlands haben in gemeinsamer Sitzung mit den Vorständen der Fraktionen des Reichstags und des preußischen Abgeordnetenhauses, sowie der Landeskommission für Preußen am 19. April einstimmig folgenden Beschluß gefaßt:

Wir bekräftigen den unverbrüchlichen Entschluß der deutschen Arbeiterklasse, das Deutsche Reich aus diesem Krieg als ein freies Staatswesen hervorgehen zu lassen. Wir fordern die sofortige Beseitigung aller Ungleichheiten der Staatsbürgerrechte in Reich, Staat und Gemeinde, sowie die Beseitigung jeder Art bürokratischen Regiments und seine Ersetzung durch den entscheidenden Einfluß der Volksvertretung.

Mit Entschiedenheit verwerfen wir die von den feindlichen Regierungen verbreitete Zumutung, daß die Fortführung des Krieges nötig sei, um Deutschland zu freiheitlichen Staatseinrichtungen zu zwingen. Es ist Aufgabe des deutschen Volkes allein, seine inneren Einrichtungen nach seinen Überzeugungen zu entwickeln.

Wir begrüßen mit leidenschaftlicher Anteilnahme den Sieg der russischen Revolution und das durch ihn entfachte Wiederaufleben der internationalen Friedensbestrebungen. Wir erklären unser Einverständnis mit dem Kongreßbeschluß des russischen Arbeiter- und Soldatenrats, einen gemeinsamen Frieden vorzubereiten, ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen auf der Grundlage einer freien nationalen Entwicklung aller Völker.

Wir betrachten es daher als die wichtigste Pflicht der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, wie der Sozialisten aller anderen Länder, die Machtträume eines ehrgeizigen Chauvinismus zu bekämpfen, die Regierungen zum klaren Verzicht auf jegliche Eroberungspolitik zu drängen und so rasch wie möglich entscheidende Friedensverhandlungen auf dieser Grundlage herbeizuführen.

Kein Volk darf durch den Friedensschluß in eine demütigende und unerträgliche Lage gedrängt werden, sondern jedem muß die Möglichkeit gegeben sein, durch freiwilligen Beitritt zu einer überstaatlichen Organisation und Anerkennung einer obligatorischen Schiedsgerichtspartei den dauernden Bestand des künftigen Weltfriedens sichern zu helfen.

Die Regierung gegen unsere Formel.

Diese Resolution sei nach außen hin wieder ein Zeichen der Schwäche, so versicherte Zimmermann. Die Regierung müsse in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung dazu Stellung nehmen. Ich fuhr ihn heftig an: die Regierung solle sich überlegen, was sie schreibe, sie stehe vor einer folgenschweren Entscheidung. Wenn sie nicht Farbe bekenne, vielleicht gar nach rechts liebäugele, dann werde – zwar nicht mit den gleichen Mitteln – die Situation in Deutschland sich russisch gestalten. Was wir in der vorigen Woche anläßlich des großen Streiks erlebt hätten, werde sich wiederholen und über das ganze Land erstrecken. Bringe es die Regierung dazu, dann sei der Krieg ohnedies sehr schnell erledigt. Wir würden, falls die Regierung nicht sehr verständig sich äußere, unsere bisherige Politik nicht beibehalten können. Wir wollen den Frieden und halten die gewählten Mittel auch für richtig. Er lenkte ein, um bald wieder recht heftig zu werden. »Ich werde froh sein, wenn ich aus dieser Bude heraus bin.« Er habe sich wieder mit den Behörden herumschlagen müssen: mit dem Generalstab und dem Marinestab usw. Die hohe Generalität habe keine Ahnung vom Volke und den Zuständen im Innern. Außerdem ständen die Generale alle sehr rechts. Er wolle den Frieden auch, aber so wie wir ihn machen wollten, ginge es nicht, usw.

Ludendorff hat Verständnis für eine Lösung der elsaß-lothringischen Frage.

Ich vertrat unseren Standpunkt sehr energisch. Elsaß-Lothringen: Ja, ja, ja. Endlich rückte er damit heraus – ganz im Vertrauen! –, daß er mit der Obersten Heeresleitung auch darüber geredet hätte. Sie sei, wenn es den Frieden erleichtere, auch für eine »Grenzberichtigung«, wie ich sie schon bei Wahnschaffe vertreten hätte. Im Hauptquartier sei er bei Ludendorff auf Verständnis gestoßen: militärisch habe dieser und jener Vorschlag mancherlei Bedenkliches, aber, so habe Ludendorff gesagt, das sei zu überwinden. Zum Beispiel, was er konzediert habe, die Hergabe von Château-Salins.

Als Fingerzeige für uns war das schon ganz wertvoll. Als ich von den inneren Verhältnissen sprach und auf die Einschätzung Preußens im feindlichen Auslande zu sprechen kam, meinte er: das wird anders, darauf verlassen Sie sich! Wir trennten uns dann ganz freundschaftlich.

Wir informieren Stauning für einen Bericht an Albert Thomas.

Ebert und ich fuhren am 25. April nach Kopenhagen, um die gewünschte Unterredung mit Stauning zu haben. Kiefer brachte uns am nächsten Morgen in das Amtszimmer des Ministers Stauning. Übermäßig luxuriös sieht's da nicht aus im Ministerium. Stauning sitzt in einem einfachen Zimmer des Verbindungshauses zwischen Schloß und Regierungsgebäude. – Wir berichteten über unsere Unterredung mit Zimmermann; daß dieser eintreten wolle für eine Schonung der Schiffe, die nach Holland und Dänemark fahren, die Oberste Heeresleitung wolle die Sache auch prüfen. Die Neutralen sollten geschont werden, so lange und so weit es die Führung des U-Bootkrieges überhaupt gestatte. Stauning war davon befriedigt. – Dann schilderten wir zur genauen Information Thomas' unsere Stellung zur elsaß-lothringischen Frage. Unsere ablehnende Haltung gegenüber der Forderung einer Rückgabe Elsaß-Lothringens bedeute nicht auch eine strikte Ablehnung jeder Unterhaltung über eine Grenzberichtigung. Von unserem Standpunkt aus lasse sich gewiß reden über eine Grenzberichtigung, bei der – sagen wir – 20 oder 30 Grenzdörfer ausgetauscht werden müßten. Wenn auf Grund einer solchen Lösung die Prestigefrage für Frankreich aus der Welt geschafft werden könne, so ließe sich gewiß darüber reden. – Stauning fand unsere Stellungnahme verständig und versprach uns, Thomas genau zu unterrichten, falls es ihm möglich sei, ihn zu sprechen, sobald er von Petersburg zurückkomme. – Stauning teilte dann weiter mit, daß alle seine brieflichen Mitteilungen an uns sich stützten auf direkte Angaben von Branting bzw. Thomas. Branting habe ihm gesagt, daß alle russischen Gruppen ihre Bereitschaft erklärt hätten, nach Stockholm zu kommen. Von Thomas meinte Stauning: er sei offenbar für den Frieden und suche über die elsaß-lothringische Frage hinwegzukommen. – Stauning erklärte uns, daß in Stockholm vor Eröffnung der Konferenz Vorverhandlungen stattfinden sollten mit allen nationalen Gruppen und auch mit den verschiedenen Gruppen der einzelnen Nationen. – Stauning holte abends van Kol ab, kam dann gegen ½11 noch zu uns in das Restaurant Rosenberg. Troelstra war nachmittags 5 Uhr nach Malmö gereist, um von da nach Stockholm zu gehen. Am nächsten Tag wollte ihm Stauning folgen. Wir mußten noch einmal nach Berlin zurück.

Viktor Adler.

Eine Fahrt mit dem Doktor.

Einige österreichische Sozialdemokraten waren schon gegen den 20. Mai in Stockholm eingetroffen, um mit den Mitgliedern unseres Internationalen Friedensbureaus Vorfühlung zu nehmen. Der Doktor, wie Viktor Adler in ganz Österreich genannt wurde, hatte zu seinem großen Bedauern nicht mit seinen Kollegen reisen können, aus den verschiedensten Gründen heraus, wie aus der Beschreibung unserer gemeinsamen Fahrt hervorgeht. Am 21. Mai lief ein Telegramm bei uns im Parteivorstand ein, durch das uns die Ankunft Adlers in Berlin mitgeteilt und die dringende Bitte vorgetragen wurde, ihn seines kranken Zustandes wegen unter gar keinen Umständen allein nach Stockholm reisen zu lassen. Was sollte Viktor Adler jetzt überhaupt schon oder noch in Stockholm? Er sollte sich dort festsetzen, und zwar als Auskünfter und Horchposten für die deutschen Delegationen aus Wien und Berlin. Das war sehr verständig. Der Parteivorstand bestimmte mich zur Begleitung Adlers. Es kam darauf an, Adler in sicherer Begleitung zu wissen, ohne daß er selbst merken sollte, für wie krank wir ihn hielten. Im folgenden gebe ich meine Tagebucheintragungen wieder.

Die Ermordung Stürghs.

23. Mai 1917. Fahrt mit Viktor Adler von Berlin nach Kopenhagen. Eine vergnügliche Fahrt ist's nicht gewesen, weil Viktor sich in einem bedauernswerten Zustand befindet. Ich habe ihn nie für einen gesunden Menschen gehalten, wußte vielmehr, daß er herzkrank und Asthmatiker, aber daß der arme Kerl mitunter direkt hilflos ist, wußte ich nicht. Er bekam, manchmal mit einer kleinen Pause, Anfälle, bei denen ich befürchtete, daß er seinen Wohnsitz sofort in Abrahams Schoß nehmen werde. Als nach Gjedser eine Dame in unserem Coupé kaum Platz genommen, bekam Adler einen Anfall besonders schlimmer Art. Er sank dann förmlich in sich zusammen, stöhnte furchtbar und rang um ein bißchen Luft. Entsetzt floh die Dame in ein Coupé nebenan. Ich half natürlich, so gut es ging, tat aber so, als ob es sich um eine Lappalie handle. Meine »Bemutterung«, so sagte ich, gefalle ihm wahrscheinlich so gut, daß er ab und zu einen Anfall markiere. Das sei der Dank für meine Gutmütigkeit, mit der ich auf den Schwindel hineingefallen sei.

Wenn er sich wieder erholt hatte, war er sofort Geist und Lebendigkeit. Seine Gedanken waren immer bei der sozialistischen Sache, dem Inhalt seines ganzen Lebens. So erzählte er mir von einer Unterredung, die er am Tag vorher mit Kautsky gehabt hatte. Adler sagte: »Bebel würde noch bis zur Stunde auf unsrer Seite stehen!« Kautsky erwiderte: »Nein, am Anfang hätte er mitgemacht, jetzt nicht mehr!« – Dann kam Adler auf mich zu sprechen; er war in allen politischen Fragen ganz d'accord mit mir. Aber einen Vorwurf machte er mir: mir fehle in den Reden die Bitterkeit; ich hätte keine Galle; ich sei immer »besonnen«, das sei ein Fehler. –

Dann sprachen wir über seinen Fritz, der ihn immer wieder und immer inniger beschäftigte. »Er ist der glücklichste von uns allen; er schafft Tag für Tag; er schreibt eine große Arbeit über Physik. Im Mai werden sie ihn wegen Mord zum Tode durch den Strang verurteilen. Das Gericht wird aber selbst den Justizminister auffordern, das Urteil zu mildern. Man wird ihm dann 10 oder 15 Jahre Zuchthaus aufhängen. Was weiter wird, werde man sehen. Ganz Wien habe gesagt: es sei recht gewesen, was Fritz getan, schon ein Jahr früher hätte es geschehen müssen! – Natürlich verurteilt Adler die Tat seines Jungen, aber er versteht sie: Fritz habe ein Beispiel geben wollen von Opfermut.

»Ich habe zwei Söhne, Scheidemann, davon ist der eine, Fritz, die Karikatur meiner Tugenden, der Karl ist die Karikatur meiner Laster.«

»Fritz hat sich doch eigentlich am Gericht sehr männlich benommen. Ich bitte, er wollte unter allen Umständen gehenkt werden. Er war von vornherein der Meinung, daß er vor ein Militärgericht komme und daß man dann kurzen Prozeß machen werde. Als ich ihn das erstemal besuchte, um ihm zu sagen, daß ich ihm den ersten Wiener Verteidiger stellen wollte, den Harpner, da hat er heftig abgewehrt: er wolle sich selbst verteidigen, er brauche keinen Verteidiger. Er stimmte erst zu, als ich ihm sagte, daß er nach dem Gesetz einen Verteidiger haben müsse. Ja, ich bitte, unter allen Umständen wollte er gehenkt werden.«

Dann wieder sprach er so: »Sie glauben ja gar nicht, was ich an dem Fritz verloren habe. Er wußte, wo jede Broschüre stand, die ich haben wollte; ich wußte nicht Bescheid, wo meine Bücher waren. Ich war der Meinung, daß es gar nichts zu bedeuten hat, wenn mich mal der Teufel holt. Dann würde der Fritz die Schubladen aufmachen und alles in Ordnung bringen, und gut – na ja, so ist's wirklich. Er hat mich genau gekannt und alle meine Gewohnheiten …«

Über die Konferenz in Stockholm urteilte er mit einem Optimismus, den ich nicht verstehen konnte. »Wer will denn den Krieg fortsetzen? Wer kann ihn denn noch fortsetzen? Es ist doch nicht mehr zum Aushalten!« Meine Hinweise auf die unverständlichen Redensarten, besonders der englischen und französischen Genossen beantwortete er so: »Denen muß man reinen Wein einschenken, wenn die erst erfahren, was wir eigentlich gemacht haben, dann müßten sie doch Esel sein, wenn sie keine Vernunft annehmen wollten.«

Ein Abend in Kopenhagen.

Adler hatte sich schließlich so weit erholt, daß er nach unserer Ankunft in Kopenhagen darauf bestand, noch am selben Abend eine Besprechung mit Stauning zu haben. Ich alarmierte also schnell einige Genossen.

Erst aß ich mit Adler zusammen zu Abend. Es war rührend, wie schnell mit einer kleinen Besserung seines Zustandes auch sofort sein Humor und seine gute Laune sich wieder einfanden. Ein Beweis dafür war mir die kleine Anekdote, die er mir, mitten in den schweren politischen Bedrängnissen der Gegenwart, bei Tisch erzählte. Er klagte wehmütig, was er sein Lebenlang für ein kranker Kerl gewesen sei: »Ich bitte: als Kind hatte ich schon einen Leistenbruch, als Beigabe kriegte ich dann einen Wasserbruch. Gestottert habe ich schon von Kindesbeinen an«. Dann erzählte er, wie er kurz nach Ablegung seines Maturitätsexamens eine Stottererkur in Burgsteinfurt bei Münster i. W. gemacht habe. Das war im Siebziger Krieg. Als dann in Burgsteinfurt eine Sedanfeier veranstaltet wurde; bei der als offizielle Festredner angesehene Bürger geredet hätten, habe ihn plötzlich der Direktor der Stottereranstalt durch einen Trompetentusch als Redner ankündigen lassen. Es sei ihm nichts übrig geblieben, als auf das Podium zu treten, um zu reden – und ad oculos zu demonstrieren, wie schnell man in Burgsteinfurt das Stottern verlernen kann. Er habe dann »im Namen von 8 Millionen Österreichern« das deutsche Volk zu dem Siege bei Sedan beglückwünscht.

»Wissens, Scheidemann, mit den Millionen bin ich nie kleinlich g'wesen. Ich hab' mehr als einmal im Namen von ein paar Millionen g'sprochen, wenn auch bloß ein paar hundert Leut' hinter mir g'standen sind!«


Nach dem Essen gingen wir in Adlers Zimmer, wo sich zu der ersten Besprechung eingefunden hatten Borgbjerg, Stauning, Nina Bang, Janson, Andersen und ich. Wir sprachen über hunderterlei. Borgbjerg erzählte Petersburger Erlebnisse. Dabei stellte er wiederholt fest, von Stauning unterstützt, daß Rußland absolut nicht mehr in der Lage sei, den Krieg fortsetzen zu können. Wenn Österreich und Deutschland den Krieg mit den Russen nicht fortsetzen wollten, könne der Krieg im Osten als erledigt angesehen werden.

Adler in großer Erregung: »Wir den Krieg fortsetzen? Ich bitte, wir können ihn gar nicht mehr fortsetzen, und wir wollen auch gar nicht. Das kann ich wirklich autoritativ für ganz Österreich feststellen. Ich weiß ganz genau, daß der Kaiser und Czernin unter allen Umständen Frieden haben wollen.«

Borgbjerg berichtete dann, daß ein Tourist selbst bei sparsamstem Leben in Petersburg nicht unter 30 Rubel pro Tag leben könne. Alles wolle den Frieden, aber jeder weise einen Separatfrieden heftig ab.

Stauning flüsterte mir zu, daß er und Borgbjerg mich am nächsten Tag nachmittags 3 Uhr in seiner Wohnung erwarten, um mit mir reden zu können.


Beim Grafen Rantzau.

Wie immer, so benutzte ich auch diesmal meinen Kopenhagener Aufenthalt zur Rücksprache mit den offiziellen deutschen Vertretern. Graf Rantzau und sein wichtigster Mitarbeiter, der Handelsattaché Dr. Toepffer, der spätere Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, haben während des Kriegs sich die größten Verdienste um gute Beziehungen zu Dänemark erworben. Sie standen in der auswärtigen Politik durchaus in einer Linie mit uns und beurteilten vor allem den rücksichtslosen U-Bootkrieg genau so wie wir. Es war darum nur allzu verständlich, daß die Kopenhagener Gesandtschaft der Tollpunkt für alle Annexionisten und Alldeutschen geworden war, insbesondere durch eine verständnisvolle Zusammenarbeit mit den dänischen Sozialdemokraten, die wir natürlich nach Kräften förderten.

Ich machte zuerst dem Grafen Rantzau meinen Besuch. Wir sprachen sehr offenherzig. Er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube und drückte sich besonders über die Wilhelmstraße sehr deutlich aus. Ich machte es übrigens nicht anders, und als ich ihm Jagows Verhalten im Fall des Barons von Eckardstein schilderte, fluchte er ganz volkstümlich. Er schilderte mir sein angenehmes Verhältnis zu Skavenius, den er als großen Staatsmann bezeichnete. Skavenius habe immer offen mit ihm gespielt und schließlich, als der U-Bootsblödsinn immer toller wurde, zu Rantzau gesagt, er werde seinen Posten aufgeben. »Wenn jetzt Deutschland alles zerschlagen will, gibt es keinen anderen Weg für mich als den, einem andern Platz zu machen.«

Der Graf sagte mir dann vertraulich, daß er dem Staatssekretär Zimmermann seinen Posten zur Verfügung gestellt habe. Durch die absolut sinnlose Torpedierung der schwedischen und dänischen Lebensmittel- und Futtermittelschiffe werde alles zertrümmert, was er mühsam in den letzten drei Jahren aufgebaut habe. Dänemark wolle uns wieder 12 000 Pferde geben, könne es aber nur unter der Bedingung, daß wir seine Schiffe auch nach und von England ungehindert laufen lassen. Die Engländer wollten unter diesen Umständen beide Augen zudrücken. Sie tun, als ob sie wirklich glauben, daß die 12 000 Pferde für die Landwirtschaft bestimmt seien, obwohl kein Mensch daran zweifeln könne, daß sie bis auf das letzte sofort an die Front gingen. Für uns sei die Ausfuhr aus Dänemark nach Deutschland – Butter, wöchentlich 7000 Rinder usw. usw., dazu die Pferde – selbstverständlich von viel größerer Bedeutung als die Ausfuhr von Schinken und Butter nach England. Offenbar haben sich die Dinge durch die kluge Politik Skavenius' so entwickelt, daß quasi ein Abkommen zwischen Dänemark, Deutschland und England über die jeweiligen Austauschgüter bestehe. Dabei habe sich Deutschland ohne Zweifel am besten gestanden. Nun werde alles darauf angelegt, uns mit Dänemark auch noch zu verprellen. Die dänische Regierung will keinen Schlitz im Sperrgebiet, aber zwischen diesem und der dänischen Küste soll kein dänisches Schiff aufgebracht oder torpediert werden. Graf Rantzau versichert, daß auf den Kopf der englischen Bevölkerung die dänische Zufuhr so lächerlich gering sei – 10 Gramm pro Tag –, daß sie für uns nicht ausschlaggebend sein dürfte für die Marinepolitik, die nicht an wirtschaftliche und politische Folgen denke. Die dänische Bevölkerung werde immer ungehaltener, die Stimmung gegen Deutschland wachse zusehends. Wenn Skavenius' Ministerium (mit Stauning) durch ein konservatives, deutschfeindliches ersetzt werde, stehe Dänemark auch sofort im Lager der Gegner. Für die Zeit nach dem Frieden sei das besonders schlimm.

Wir sprachen auch über unsere Diplomaten; dabei erzählte er, daß er von verschiedenen Seiten bei dem letzten Wechsel als Staatssekretär lanciert werden sollte. Er habe aber selbst für Zimmermann gewirkt, denn wenn er ernstlich in Betracht gekommen wäre neben Zimmermann, dann würde wahrscheinlich ein Dritter das Amt übernommen haben.

Dann die Friedensfrage! Er ist, wie auch Graf Bernstorff, in der Einschätzung der Situation vollkommen einverstanden mit mir. Dabei sagte er aber, daß er das Friedensangebot des Reichskanzlers im Dezember 1916 nicht hätte gutheißen können, weil er zu jener Zeit damit sicher rechnete, daß man es wirklich als Zeichen der Schwäche deuten werde. Ich widersprach ihm hierin natürlich. »Das Aneinandervorbeireden hat jetzt keinen Sinn mehr«, fügte er schließlich hinzu. Er sieht ganz richtig in meiner Formel »ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen« einen Schutz für uns! – Sehr nachdrücklich betont er wiederholt, wie weit links er stehe, das wisse man in Berlin, und deshalb machten ihm einflußreiche Kreise Schwierigkeiten. Hier habe es ihm seine Stellung auf der Linken ermöglicht, mit Skavenius vortrefflich zu arbeiten. Dabei hätten ihm die Sozialdemokraten ausgezeichnete Dienste geleistet. Wir schieden voneinander wie alte Freunde.

Dänemark und der U-Bootkrieg.

Am Tage nach meiner Unterredung mit dem Grafen Rantzau war ich mit seinem Handelssachverständigen, Dr. Toepffer, zusammen, der sehr besorgt in die Zukunft sah. Er befürchtete einen ernsthaften Konflikt zwischen Deutschland und Dänemark in kürzester Zeit, wenn nicht schleunigst den Militärs bei uns Zügel angelegt werden würden. Es gäbe vielleicht Militärs in Deutschland, die es gern sähen, wenn wir Dänemark in 3 Tagen »eroberten« und unsere Kriegsschiffe nach Kopenhagen schickten. Irgendein ochsiger General, der als Gouverneur dann Dänemark verwalte, werde sich gern bereit finden. – Ich fragte ihn: »Was müßte nach Ihrer Meinung sofort geschehen, wenn usw.«. Er: die Bergenfahrt müsse freigegeben werden. Er sei überzeugt, daß Skavenius in der festen Überzeugung, daß Deutschland nichts gegen Dänemarks Ausfuhr und Einfuhr nach und von England unternehmen werde, was gegen die ehemaligen Abreden ginge, England gegenüber sich auch für dies und jenes gebunden habe. Nur so sei beispielsweise die Pferdeausfuhr nach Deutschland von England konzediert worden. Wenn ihn Deutschland jetzt durch seine Maßnahmen desavouiere, sei er unmöglich geworden und werde gehen. Dänemark verlange keinerlei Schonung im Sperrgebiet, aber bis dahin, und zwar sowohl von der Küste aus direkt wie auch über Bergen müsse die Fahrt freigegeben werden! Ich schrieb ihm nach kurzem Überlegen schließlich ein Telegramm auf für Zimmermann, das er nach Rücksprache mit Rantzau absenden sollte. Das Telegramm hatte dem Sinne nach diesen Wortlaut: »Ich habe in vertraulicher Unterredung mit Stauning den absolut sicheren Eindruck gewonnen, daß die Entwicklung der Dinge eine katastrophale Wendung im Ministerium nimmt, wenn nicht mindestens Bergenfahrt freigegeben wird. Bitte dringend angesichts der Stimmung in deutschen Arbeiterkreisen alles aufzubieten, um dieses Mindestzugeständnis durchzusetzen. Scheidemann.«

Als ich abends in Borgbjergs Wohnung mit Stauning zusammentraf, sagte er mir, daß er Skavenius, dem wirklich vortrefflicher, dänischen Außenminister, über meine Anwesenheit in Kopenhagen Mitteilung gemacht hätte. Skavenius habe ihm nahegelegt, mir zu sagen, daß ich in Berlin doch energisch einwirken möge auf Zugeständnisse in der Führung des U-Bootkrieges. Stauning war froh, als ich ihm von meinem Telegramm an Zimmermann Mitteilung machte. Mein Eingreifen ist erfreulicherweise nicht ohne Erfolg geblieben.


Die Verhandlungen in Stockholm.

Über die Stockholmer Konferenz ist wohl alles veröffentlicht worden, was sich nahezu vor aller Welt abgespielt hat. Ich kann mich deshalb in diesem Buch darauf beschränken, mancherlei zu berichten, was bisher weniger oder gar nicht bekannt geworden ist. Selbstverständlich unterlasse ich jegliche Polemik gegen das Verhalten der deutschen Minderheitssozialisten, die sich in Stockholm ebenso kurzsichtig benommen haben wie später gelegentlich der Debatten über den Versailler Friedensvertrag. »Wir müssen unterzeichnen! Wir werden unterzeichnen!«

Am 2. Juni 1917 reiste die deutsche Delegation, die tags zuvor in Kopenhagen eingetroffen war, nach Stockholm. Viktor Adler wohnte im Grandhotel, wir quartierten uns im Kontinentalhotel, einer großen Karawanserei, ein. Adler war sehr ungehalten über die Art des Prozedierens vor dem internationalen Friedensbureau. Er erzählte uns unter anderem von einem umfangreichen Fragebogen, der uns vorgelegt werden sollte und der allerdings, wie wir uns später überzeugen konnten, einem preußischen Geheimrat alle Ehre gemacht hätte. Wir hielten sofort eine Delegationssitzung ab, an der auch Stauning, Adler und Hueber-Wien teilnahmen, um uns zu informieren. In dieser Sitzung sagte uns Adler, um hier nur ein Beispiel über die Verhandlungen anzuführen, daß alle Streitereien über das Selbstbestimmungsrecht der Völker töricht seien, weil es ein Unfug sei, den kleinen Nationen und Natiönchen einzureden, daß sie sich in jeder Beziehung selbständig machen könnten, Es müsse sich für das Komitee darum handeln, so rasch als möglich nur über die eine Frage zu verhandeln und Klarheit zu bekommen: wie arbeiten wir am schnellsten dem Frieden vor. »Aufhören zu schießen«, darauf kommt's an.

Nach längerer Debatte, an der auch Stauning sich beteiligte, einigten wir uns dahin, zu verlangen: In der 1. Sitzung mit dem Internationalen Bureau lediglich Entgegennahme des Fragebogens; eine Darlegung unserer Politik im Kriege, dann Vertagung, damit wir in der Delegation die Antwort auf den Fragebogen beraten könnten. – Im übrigen: die Protokolle und Erklärungen der Konferenz haben nur dann für uns Bedeutung, wenn wir sie gelesen und gezeichnet haben! Diese Forderungen wurden nötig, weil uns Adler und Hueber mitteilten, daß Camille Huysmans in der französischen Wiedergabe österreichischer Formulierungen willkürlich den Sinn ändernde Streichungen vorgenommen habe. Bemerkenswert ist noch eine Auslassung Adlers: er hätte es lieber gesehen, wenn die deutsche Minderheit vor uns vernommen worden wäre, weil er befürchte, daß sie hinter uns her auf Grund unserer Darlegungen endlose Polemiken spinnen würden – man brauche nur an Ede Bernstein zu denken, aber auch Kautsky sei leider von ähnlicher Veranlagung. – Endgültiger Entschluß über unsere Taktik: Wir verlangen 1. absolute Vertraulichkeit der Verhandlungen in dieser Vorkonferenz; 2. Kontrolle und Gegenzeichnung der Protokolle; 3. Verständigung über herauszugebende Notizen für die Presse; 4. Klarheit über die etwa beabsichtigte Austauschung der Erklärungen der einzelnen Sektionen. In bezug auf den umfangreichen Fragebogen soll unsere Stellung vorbehalten bleiben. –


Der erste »große Tag«.

4. Juni. Die Sitzungen finden in einem Privathause statt, in dem Huysmans eine nicht übel möblierte Wohnung für längere Zeit gemietet hat. Anwesend sind Branting, Stauning, Troelstra, van Kol, Huysmans, Vitnös-Christiania, als Sekretäre Engbjerg und Möller-Stockholm. Außerdem wir neun Delegierten. Troelstra begrüßt uns und macht auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die zu überwinden sind. Er läßt dabei durchblicken, daß es uns als den »Hauptangeklagten« am schlimmsten ergehen werde, weil unsere Politik in der Internationalen ja am meisten erörtert worden sei. Ebert, den wir zum Vorsitzenden der Delegation bestimmt hatten, trug unsere Bedingungen vor, die glatt akzeptiert wurden. Dann antwortete er auf die Anfrage, ob wir den Fragebogen kennen (der uns im selben Augenblick zum ersten Male zu Gesicht kommt!): Nein! Wir können uns also heute noch nicht auf eine Erörterung desselben einlassen, weil wir ihn erst prüfen und unter uns besprechen müssen. »Dagegen«, so fuhr er fort, »halten wir es, besonders auch nach der Einleitungsrede Troelstras, für notwendig, Ihnen unsere Politik im Kriege einmal zusammenhängend darzustellen. Zu diesem Zweck erbitten wir das Wort für Scheidemann.« – Ich erörterte daraufhin in einer fünfviertelstündigen Rede an der Hand der auf meinen Vorschlag hergestellten und auch von mir gemachten »Sammlungen« Die deutsche Sozialdemokratie über Krieg und Frieden. dokumentarisch unsere Kriegspolitik, dabei flocht ich allerlei kleine Bosheiten hinein, indem ich beiläufig Entschließungen der französischen Sozialisten anführte usw. Zum Schluß sprach ich die große Bosheit in verbindlichster Form aus: das I.S.B. oder die jetzige Konferenzleitung würden sich große Verdienste um die Internationale erwerben und Großes zum gegenseitigen Verstehen beitragen, wenn sie ähnliche Sammlungen dokumentarischer Aktenstücke über die Friedensarbeit der Ententesozialisten herausgeben wollten.

Nach mir hielt van Kol eine wirklich sehr dumme Rede gegen Deutschland, seine Regierung und seine Sozialdemokraten, weil alle Schuld am Kriege bei diesen liege. Die ganze Ententeargumentation trug er kritiklos vor. Wenn Bethmann friedliche Töne angeschlagen habe, so deshalb, weil er eingesehen habe, daß der gewollte Sieg nie zu erreichen sei. Und dergleichen mehr. – Branting sprach in ähnlicher Weise, natürlich nicht so töricht wie van Kol, aber noch ententefreundlicher. –

Es gab dann eine Debatte über die Geschäftsführung. Ebert wandte sich als unser Obmann gegen diese Art der Verhandlungen. Sei die Konferenzleitung ein Anklagetribunal oder sei sie zur Herbeiführung einer Verständigung berufen? Im ersteren Falle wollten wir von vornherein mit aller Deutlichkeit feststellen, daß wir hier nicht als Angeklagte erschienen seien. Nachdem die Anklagereden der beiden Konferenzleiter Branting und van Kol gegen uns gehalten worden seien, sei es selbstverständlich, daß wir darauf antworten. Was dann weiter geschehe, bleibe vorzubehalten. – Einverständnis! – Wann tagen? Branting hat morgen keine Zeit, weil er im Reichstag eine Interpellation zu begründen hat. Außerdem muß Stauning dringlich nach Kopenhagen. Nächste Sitzung also erst am 6. Juni.


Am 5. Juni trat unsere Delegation zu eingehenden Beratungen zusammen. David wurde beauftragt, die Schuldfrage, die er ja gründlich studiert hat, für ein Referat zu verarbeiten und nunmehr rücksichtslos in der nächsten Konferenz gegen die Ausführungen van Kols und Brantings loszugehen. David hatte den ganzen Nachmittag des 4. und den Vormittag des 5. Juni für diese Arbeit benützt. Dann wurde er examiniert. Der Vortrag seiner Rede dauerte nahezu 2 Stunden, obwohl er die Zitate nicht vortrug. Wir veranlaßten ihn zu mancherlei Kürzungen, durch die die Rede gewinnen müßte.

7. Juni 1917. David hat seine Sache gestern glänzend gemacht. – Nachdem er eine halbe Stunde geredet hatte, ging Branting, weil er in den Reichstag müsse. David sprach von ½11 bis kurz nach 1 Uhr, füllte also die ganze Sitzung aus. Er wies nach, daß das »Weltverteilungssyndikat« den Krieg vorbereitet und unvermeidlich gemacht habe. Das Deutsche Reich sei doch als imperialistische Macht ein Waisenknabe gewesen im Vergleich zu England usw. Dann die diplomatische Schuldfrage: auf Grund der bisher bekannt gewordenen Dokumente stehe Deutschland glänzend da. Die Beweisführung Davids war geradezu ein Meisterstück und machte großen Eindruck. Troelstra gab dem als Vorsitzender auch Ausdruck: er spreche dem Genossen David für diese Rede, die sehr eindrucksvoll gewesen sei, seine Bewunderung aus.

Nach einigen einfältigen Bemerkungen van Kols gingen wir auseinander, um am nächsten Tage entweder – falls es Branting wünschen sollte – weiter über David zu diskutieren oder an die Besprechung des Fragebogens heranzugehen.

Gestern nachmittag Delegiertensitzung, in der der Fragebogen erörtert und die einzelnen Redner für die verschiedenen Abteilungen bestimmt wurden.

Heute vormittag von 10 Uhr an Sitzung unter Troelstra. Wir berieten die »Technik« des Fragebogens und stellten allerlei verfängliche Fragen. Da, um nur eines zu nennen, in dem Bogen nur von Belgien, Elsaß-Lothringen, Nordschleswig usw. gesprochen wird, erkundigten wir uns auch sehr eingehend nach Irland, Ägypten, Indien, Marokko, Tripolis, Malta, Gibraltar usw. Entweder, so argumentierten wir, soll die ganze Welt bei dem Frieden neu eingeteilt werden, dann muß auch von den Gebieten geredet werden, die wir neu genannt haben, oder es wird nur von solchen Gebieten geredet, die im Kriege »in Bewegung gesetzt« oder den Besitzer gewechselt haben, dann scheiden Elsaß-Lothringen und Schleswig ohne weiteres aus. Branting machte ein verdrießliches Gesicht, aber niemand konnte die Logik unserer Darlegungen erschüttern. Zum Schluß wurde auch noch die von mir schon im Referat angeregte, heute aber bestimmte geforderte Frage dem Bogen hinzugefügt: was haben Sie (an jede Sektion gerichtet) bisher zur Herbeiführung eines sozialistischen Friedens getan? Unserer Dokumentensammlung wird keine andere Partei ähnliches an die Seite stellen können!

David und ich wurden sodann von der Delegation beauftragt, einen knappen Zeitungsbericht für heute nachmittag 5 Uhr zu entwerfen, der über unsere Reden einigermaßen orientieren soll. Um 5 Uhr prüft die Delegation, um 6 die Konferenz den Bericht.

8. Juni 1917. David und ich hatten bis gestern nachmittag 5 Uhr unseren Bericht fertig, er wurde mit ganz bedeutungslosen Änderungen akzeptiert. Ebert, Fischer und ich gingen dann in das Zentralbureau des Friedens, um dem Komitee den Bericht vorzulegen. Alle Komiteemitglieder waren anwesend, mit Ausnahme van Kols. – Ich las den Bericht vor und bemerkte, wie unfreundlich ihn Branting aufnahm. Es erfolgte dann eine Aussprache, an der sich vornehmlich Branting und Troelstra auf der einen, wir drei auf der andern Seite beteiligten. Es sollte nichts in dem Bericht bleiben, das erkennen lasse, daß die Komiteemitglieder mit uns debattiert hätten! Ich hatte auch am Schluß des Berichts von Davids »sehr eindrucksvoller Rede« geschrieben. Das müsse fort, verlangten Troelstra und Branting, denn das Komitee komme sonst in den Verdacht, daß es nicht absolut objektiv sei. Ich wandte ein, daß ich zwar alles Material gekannt hätte, das David benützte, trotzdem hätte die Rede auf mich einen sehr tiefen Eindruck gemacht. David war nach Jahr und Tag sehr unglücklich über diese Rede, die auch als Broschüre gedruckt worden ist. Nachdem alle Welt Kenntnis von den Randbemerkungen des deutschen Kaisers und dem Verhalten unserer Diplomatie bekommen hatte, blieb von dem zugunsten Deutschlands angeführten Material leider nicht viel übrig. Damit soll allerdings keineswegs gesagt sein, daß das offizielle Deutschland der allein schuldige Teil am Ausbruch des Krieges gewesen sei. Wenn die Regierungen der Ententestaaten sich vollkommen unschuldig wissen, dann ist nicht einzusehen, warum sie ihr Material nicht ebenso restlos der Öffentlichkeit unterbreiten, wie das auf deutscher Seite geschehen ist. Hier rief Stauning boshaft dazwischen: »Auf mich auch, ich wäre damit einverstanden, daß gesagt wird: die Rede machte auf Scheidemann und Stauning tiefen Eindruck.« – Troelstra war es bei dieser Auseinandersetzung nicht wohl, denn gerade er hatte als Vorsitzender nach der Davidschen Rede gesagt, daß er für diese Leistung seine große Bewunderung zum Ausdruck bringen wolle. Das hätte er kaum sagen können, wenn die Rede auf ihn ohne Eindruck geblieben wäre. Ich akzeptierte die Streichung mit dem Bemerken, es komme mir darauf an, daß die tiefen Eindrücke haften blieben, nicht aber darauf, daß man die Tatsache ausdrücklich konstatiere. Den Genossen Branting beruhigten wir schließlich, indem wir betonten, daß der Bericht ja nicht als offizielles Kommuniqué des Komitees, sondern als Bericht der deutschen Delegation bzw. des Privatkorrespondenten des Vorwärts laufe. – Der Bericht ist dann so vereinbart worden, wie er abends von Baake an den Vorwärts telegraphiert worden ist.

10. Juni 1917. David, Müller und ich haben den ehrenvollen Auftrag erhalten, das Memorandum zu entwerfen als Antwort auf den Fragebogen. Dr. David schreibt zu der Frage I, Müller zu II und ich zu dem Rest plus unserer neuen Frage. Ich habe mir die Arbeit ziemlich leicht gemacht; ich erledigte sie gestern mittag zwischen halb zwölf und halb zwei. Müller saß den ganzen gestrigen Tag. David gestern und heute vormittag. Um 11 Uhr vormittags Besprechung über unsere Antwortentwürfe. David wurde mancherlei gestrichen; ebenso Müller; ich kam ziemlich gut davon. Mit Rücksicht auf Davids Ausführungen mußte ich meine Einleitung preisgeben.

Das Stockholmer Memorandum.

Auf dem der deutschen Delegation vorgelegten Fragebogen und die ihr im Laufe der verschiedenen Sitzungen unterbreiteten Fragen gab sie die folgende Antwort:

I.

Die deutsche Sozialdemokratie erstrebt einen Frieden der Verständigung. Wie sie die Gewähr der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsfreiheit des eigenen Volkes fordert, so verurteilt sie auch die Vergewaltigung der Lebensinteressen der anderen Völker. Nur ein solcher Friede trägt die Gewähr der Dauer in sich, nur er ermöglicht es den Völkern, die Atmosphäre feindseliger Spannungen zu überwinden und alle ihre Kräfte in den Dienst des sozialen Aufstiegs und der Förderung höchster nationaler und menschheitlicher Kultur zu stellen.

Von dieser allgemeinen Zielsetzung aus haben wir dem Vorschlag des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrats auf Frieden ohne Annexionen und Kontributionen auf der Grundlage nationaler Selbstbestimmung unsere Zustimmung gegeben. Daraus ergibt sich unsere Stellungnahme zu den Einzelpunkten wie folgt:

1. Annexionen: Wir sind Gegner gewaltsamer Gebietsaneignungen. Bei Grenzveränderungen auf Grund beiderseitiger Verständigung muß der betroffenen Bevölkerung, soweit sie das Verbleiben bei dem alten Staatsverband wünscht, die rechtliche und wirtschaftliche Möglichkeit der Umsiedelung gesichert werden.

Mit der Verwerfung aller gewaltsamen Annexionen ist selbstverständlich auch die Rückgabe entrissener Kolonien gefordert.

2. Kriegsentschädigungen: Die Aufzwingung einer Kriegsentschädigung ist zu verwerfen. Sie wäre auch nur nach vollständiger Niederschlagung einer der kriegführenden Parteien zu erreichen. Jeder Tag weiteren Kampfes aber erhöht die Summe der Opfer an Gut und Blut für beide Teile so gewaltig, daß schon aus diesem Grunde eine Hinauszögerung des Friedens, um Entschädigungen zu erzwingen, nicht zu verantworten wäre. Die ökonomische Versklavung eines Volkes durch das andere würde aber auch einen dauernden Frieden unmöglich machen.

3. Wiederherstellung: Soweit mit dieser Frage die politische Wiederherstellung, das heißt die Wiederaufrichtung der staatlichen Unabhängigkeit, gemeint ist, beantworten wir sie mit ja.

Ablehnen müssen wir dagegen den Gedanken einer einseitigen Verpflichtung zur Wiederherstellung von Zerstörungen in den vom Kriege betroffenen Gebieten. Diese Schäden sind auf allen Kriegsschauplätzen von Freund und Feind bei Vorstößen oder Rückzügen, zum Teil als mittelbare Maßnahme zur militärischen Sicherung erfolgt. Eine nachträgliche Feststellung des Ursprungs der einzelnen Zerstörungen und Prüfung auf ihre militärische Berechtigung hin erscheint uns ungemein schwierig. Eine einseitige Schadenersatzpflicht wäre nichts anderes als eine Kriegsentschädigung in verschleierter Form.

Für Staaten, die aus eigener Kraft ihr durch den Krieg zerstörtes Wirtschaftsleben nicht wieder aufbauen können, kann internationale finanzielle Hilfe auf Grund gegenseitiger Vereinbarung vorgesehen werden.

Im übrigen betrachten wir Sozialisten die Zerstörung von privatem Eigentum nur als den geringsten Teil des angerichteten Schadens. Der größte Verlust, der die Menschheit betroffen hat, die Vernichtung von Menschenleben, von Arbeitskraft und Menschenglück, läßt sich nicht ersetzen.

4. Selbstbestimmungsrecht der Nationen: Wir verstehen unter dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen das Recht der Völker auf Aufrechterhaltung oder Neuaufrichtung ihrer politischen Unabhängigkeit.

Als erste Gruppe kommen hier die Staaten in Betracht, die wie Belgien sowie Serbien und andere Balkanstaaten ihre Unabhängigkeit in diesem Kriege verloren haben.

Wir sind für die Wiederherstellung eines unabhängigen Belgiens. Belgien soll weder ein Vasallenstaat Deutschlands noch Englands oder Frankreichs werden.

Hinsichtlich Serbiens und der anderen Balkanstaaten schließen wir uns dem von unseren österreichischen Genossen Gesagten an.

Eine zweite Gruppe, für die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in Frage kommt, bilden diejenigen Völker, die ihre ehemalige Selbständigkeit verloren hatten, durch die Ereignisse dieses Krieges aber von der fremden Oberherrschaft sich befreit sehen. Das trifft zu für Kongreßpolen und Finnland. Die Anerkennung des Rechts der Selbstbestimmung darf ihnen nicht versagt werden. Bei anderen fremdstämmigen Gebieten ist, soweit eine staatliche Unabhängigkeit nicht in Frage kommt, mindestens Autonomie zur Entfaltung des eigenen nationalen Lebens zu gewähren.

Eine dritte Gruppe bilden die ehemals selbständigen Völker gehobener Kultur, die früher das Opfer imperialistischer Unterwerfung geworden sind, deren staatsrechtliche Zugehörigkeit aber durch diesen Krieg keine Änderung erfahren hat. Hierher gehören: Irland, Ägypten, Tripolis, Marokko, Indien, Tibet, Korea und andere Länder ehemaligen eigenen staatlichen Lebens. Die deutsche Sozialdemokratie bringt den Bestrebungen aller dieser Völker auf Wiedererlangung ihrer nationalen Freiheit die größte Sympathie entgegen und würde es begrüßen, wenn die Sozialisten der jene Länder beherrschenden Staaten ihre Stimme zugunsten der Befreiung jener Nationen vom Druck der Fremdherrschaft erheben wollten.

5. Autonomie der Nationalitäten: Soweit hierunter die kulturelle Autonomie der innerhalb eines größeren Staatsverbandes eingegliederten fremdsprachigen Teile gemeint ist, wird die deutsche Sozialdemokratie gemäß ihrer seitherigen Stellung auch fernerhin für deren weitherzigste Einräumung eintreten. Für das Deutsche Reich kommen hier die Ansprüche unserer in Nordschleswig, Posen und Westpreußen sowie in Elsaß-Lothringen wohnenden Mitbürger dänischer, polnischer und französischer Muttersprache in Betracht. Wir verurteilen auf das schärfste jede Beeinträchtigung im Gebrauch der Muttersprache sowie sonstige Behinderung der freien Pflege ihrer besonderen nationalen Eigenart und Kultur, solche in das Gebiet eines Staates übergreifenden Teile anderer Nationen sollten nicht Hemmungen und Hinderungen wechselseitiger freundnachbarlicher Beziehungen bilden, sondern Verständigungsbrücken von Volk zu Volk, von Kultur zu Kultur sein. Die Herbeiführung wahrer demokratischer Zustände in allen Ländern wird die Erreichung dieses Zieles ermöglichen.

Was die Verhältnisse der verschiedenen Nationalitäten innerhalb des österreichisch-ungarischen Staatsverbandes betrifft, so schließen wir uns auch hier dem von unseren österreichischen Parteigenossen Gesagten an.

6. Elsaß-Lothringen: Was das in dem Fragebogen des Komitees unter Nationalitäten mitaufgezählte Elsaß-Lothringen anlangt, so ist zunächst zu sagen, daß Elsaß-Lothringen niemals weder ein selbständiges nationales Staatswesen war, noch überhaupt als eine besondere Nationalität angesehen werden kann. Seiner ethnographischen Natur nach, das heißt nach Abstammung und Sprache ist die Bewohnerschaft Elsaß-Lothringens zu beinahe neun Zehnteln deutscher Nationalität. Nur 11,4 Proz. der Bevölkerung sprechen Französisch als Muttersprache.

Elsaß-Lothringen gehört weiterhin auch nicht zu den Gebieten, die durch den Gang des Krieges ihren Besitzer gewechselt haben; es ist, von einem schmalen Grenzstreifen abgesehen, im Machtbereich des deutschen Staates geblieben. Die Aufrollung der Frage seiner staatlichen Zugehörigkeit ist also von diesem Gesichtspunkte aus nicht zu begründen.

Die ursprünglich staatsrechtlich wie ethnographisch zu Deutschland gehörigen elsaß-lothringischen Gebiete sind neben anderen Gebieten von Frankreich seinerzeit auf dem Wege gewaltsamer Annexion aus dem Verbande des Deutschen Reiches herausgerissen worden. Durch den Frankfurter Frieden 1871 erhielten sie die ursprüngliche Staatszugehörigkeit wieder. Es ist sonach gänzlich ungerechtfertigt, von einem historischen Recht Frankreichs auf diese Gebiete zu sprechen. Die gewaltsame Erzwingung einer Rückgabe Elsaß-Lothringens wäre nichts anderes als eine Annexion und zudem größtenteils eine Annexion fremdsprachigen Gebiets durch Frankreich. Sie ist somit gemäß dem Grundsatz eines Friedens ohne Annexionen abzulehnen.

Die deutsche Sozialdemokratie fordert für die Elsaß-Lothringer die Gewährung voller Gleichberechtigung als selbständiger Bundesstaat innerhalb des Deutschen Reiches sowie den freiheitlichen demokratischen Ausbau seiner inneren Gesetzgebung und Verwaltung. Sie hat dies zuletzt in einer Beschlußfassung des Jenaer Parteitages von 1913, die von elsaß-lothringischen Genossen eingebracht war, festgelegt. Mit der Regelung der elsaß-lothringischen Frage in diesem Sinne bundesstaatlicher Gleichberechtigung und weitestgehender innerpolitischer Autonomie haben sich auch vor dem Kriege die französischen Parteigenossen einverstanden erklärt. Diese Regelung entspricht außerdem den wiederholt und noch neuerdings kundgegebenen Willensäußerungen der aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorgegangenen elsaß-lothringischen Volksvertretung.

Der Grundsatz eines Friedens ohne Annexion schließt freundschaftliche Vereinbarungen über Grenzberichtigungen, wo sie auch immer seien, natürlich nicht aus.

II. Hauptgrundzüge internationaler Vereinbarungen.

Das Recht eines jeden Volkes auf politische Unabhängigkeit und wirtschaftliche Entwicklungsfreiheit kann unter Beachtung der berechtigten Lebensinteressen aller Völker nur dann dauernd garantiert werden, wenn es in den Friedensverträgen gelingt, das künftige Völkerrecht in seinen Grundzügen festzulegen. Aufgabe der kommenden Friedensjahre wird es dann sein, das Staatsrecht, das Arbeiterrecht, das bürgerliche Recht, das Handelsrecht international nach einheitlichen Grundsätzen auszubauen, mit dem Ziele, eine immer engere Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft der Völker zu schaffen.

1. Völkerrechtliche Bestimmungen: Bereits in den Kriegszielleitsätzen, die der Parteiausschuß und die Reichstagsfraktion der sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 16. August 1915 aufgestellt haben, ist die Erstrebung eines durch internationale Rechtseinrichtung dauernd gesicherten Weltfriedens als höchstes sittliches Pflichtgebot gefordert.

In Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Kopenhagener internationalen sozialistischen Kongresses von 1910 fordern wir im einzelnen durch die Friedensverträge

die Anerkennung eines internationalen Schiedsgerichts, dem alle Streitigkeiten zwischen den einzelnen Staaten vorzulegen sind.

Zur Verhinderung der Verletzung völkerrechtlicher Verträge ist eine überstaatliche Rechtsorganisation zu schaffen.

2. Abrüstung und Freiheit der Meere: In die Friedensverträge sind Abmachungen über eine Rüstungsbegrenzung zu Wasser und zu Lande aufzunehmen. Das Ziel der Abmachungen muß die Schaffung eines Volksheeres sein zur Verteidigung des Landes gegen kriegerische Angriffe und gewaltsame Unterdrückungen. Für die einzelnen Waffengattungen dieses Volksheeres ist die Dienstzeit durch internationalen Vertrag möglichst kurz zu bemessen.

Die im Kriege zulässigen Kriegsmittel sind vertraglich zu beschränken. Die Rüstungsindustrie ist zu verstaatlichen. Die Lieferung von Waffen und Munition aus neutralen Staaten an kriegführende Mächte ist international zu verbieten. Das Seebeuterecht ist zu beseitigen. Die Bewaffnung von Handelsschiffen ist zu verbieten. Die für den Weltverkehr wichtigen Meerengen und interozeanischen Kanäle sind unter internationale Kontrolle zu stellen.

Für die Sicherung des Welthandels während eines Krieges sind wirksame Garantien zu schaffen. Der Begriff der Bannware ist international festzulegen. Rohstoffe zur Bekleidung und Nahrungsmittel sind von der Bannwarenliste auszuschließen. Das Privateigentum ist gegen Eingriffe der Kriegführenden sicherzustellen. Der Postverkehr zwischen Kriegführenden und Neutralen und den Neutralen untereinander ist auch im Kriegsfalle zu sichern. Der Begriff der Blockade ist neu festzusetzen.

3. Wirtschafts- und sozialpolitische Fragen: Damit die Wiederannäherung der Völker nicht gehemmt wird, sind in die Friedensverträge Bestimmungen aufzunehmen, die Sicherheit dagegen gewähren, daß der Krieg als Wirtschaftskrieg fortgesetzt wird.

Durch die Friedensverträge muß die Verkehrsfreiheit zu Lande und zu Wasser wiederhergestellt werden.

Das Schutzzollsystem ist abzubauen. In die Friedensverträge ist die Meistbegünstigungsklausel aufzunehmen. Das handelspolitische Ziel muß die Beseitigung aller Zoll- und Verkehrsschranken bleiben.

Für die Kolonien ist die »offene Tür«, das heißt gleiches Recht für wirtschaftliche Betätigung aller Völker, festzulegen.

Internationale Freizügigkeit, Koalitionsrecht, Arbeiterschutz, Arbeiterversicherung, Arbeiterinnen- und Kinderschutz und Heimarbeit sind nach dem bekanntgegebenen Programm des Internationalen Gewerkschaftsbundes zu regeln.

4. Abschaffung der Geheimdiplomatie: Wir fordern die Unterwerfung aller Staatsverträge und zwischenstaatlichen Vereinbarungen unter die demokratische Kontrolle der Volksvertretungen.

III. Praktische Durchführung der Ziele.

Wir beziehen uns auf unsere Darlegungen zu 1 und 2. Im Interesse eines baldigen Friedens scheint es uns dringend geboten, in erster Linie die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen zu erörtern. Studienkommissionen können zweifellos wertvolle Vorarbeiten für fruchtbringende Auseinandersetzungen über die ökonomischen und nationalen Probleme leisten. Es darf jedoch nicht verkannt werden, daß es sich für den internationalen Sozialismus um die möglichst schnelle Herbeiführung des Friedens handeln muß. Dieser kann nach unserer Überzeugung als ein Verständigungsfrieden auf der Grundlage: »Keine Annexionen, keine Entschädigungen« erreicht werden, ohne daß zuvor besondere Studienkommissionen eingesetzt werden.

IV. Aktion der Internationalen.

Die europäischen Neutralen sind ausnahmslos durch den Krieg in mehr oder weniger große Mitleidenschaft gezogen worden. Sie alle haben ein Interesse am baldigen Frieden. Sie sind deshalb bei der Neuregelung wirtschaftlicher, sozialpolitischer und rechtlicher Fragen internationaler Art heranzuziehen.

Die Mitarbeit der erwählten Volksvertretungen erscheint als eine Selbstverständlichkeit. Angesichts der Erfahrungen, die das Proletariat aller am Kriege beteiligten Länder mit den Parlamentsmehrheiten im bisherigen Verlauf des Krieges gemacht hat, wird deren Mitarbeit freilich nur dann kriegsverkürzend sein, wenn die sozialistischen Parteien mit aller ihnen zu Gebote stehenden Kraft wie auf ihre Regierungen so auch auf die Parlamente im Sinne der baldigen Herbeiführung des Friedens wirken.

Damit sind auch gleich die weiteren Fragen betreffend Mitarbeit der Internationale während der Friedensverhandlungen hinreichend beantwortet. Die Einwirkung der sozialistischen Parteien auf die Regierungen, die Volksvertretungen und auf die offizielle Friedenskonferenz muß seitens der sozialistischen Parteien aller kriegführenden Länder immer stärker werden.

V. Tätigkeit der sozialistischen Parteien für den Frieden.

Damit kommen wir zu der Frage, die auf Antrag der deutschen Delegation am 7. Juni dem Fragebogen noch hinzugefügt worden ist:

Bericht jeder Delegation über die Arbeit ihrer Partei zugunsten eines dauerhaften Friedens.

Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hat in zwei Heften eine »Sammlung der Erklärungen, Aufrufe und Reichstagsreden«, in denen die Stellung der Partei zum Kriege und zu den Friedenszielen dargelegt wird, herausgegeben. In dieser Dokumentensammlung wird der Beweis geführt, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die gleich allen anderen sozialistischen Parteien grundsätzlich auf dem Boden der Landesverteidigung steht, für den Friedensschluß seit dem ersten Tage des Krieges gewirkt hat, und daß sie für einen Verständigungsfrieden keine andere Voraussetzung kennt, als die Bereitschaft auch der Gegner zu einem solchen Frieden. Mit den in der Sammlung angeführten Parlamentsreden, Aufrufen und Erklärungen hat sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bei ihrer Friedensarbeit aber nicht begnügt. Sie hat in allen Teilen des Reiches Friedensversammlungen abgehalten, auch im ganzen Reiche Petitionen verteilt und unterzeichnen lassen, in denen unter strikter Ablehnung aller Eroberungspläne die Bereitschaft der Regierung zu Friedensverhandlungen verlangt wurde.

Diese Friedensarbeit ist von großem Erfolge begleitet gewesen. Erfolglos dagegen waren leider die Versuche der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die zerrissenen Fäden mit den sozialistischen Parteien Englands und Frankreichs wieder anzuknüpfen.

Die Arbeit für den Frieden kann nur dann Erfolg versprechen, wenn sie gleichzeitig auf beiden Seiten unternommen wird. Das könnte geschehen und hätte unseres Erachtens längst geschehen müssen, ohne daß auf der einen Seite von der anderen etwas verlangt worden wäre, was einer Preisgabe der Sache des eigenen Volkes gleichgekommen wäre. Wir sollten auf allen Seiten aussprechen, daß wir nur die Pflicht haben, das eigene Volk zu verteidigen, nicht aber die Aufgabe, andere Völker für die wirklichen oder vermeintlichen Verbrechen ihrer Regierungen zu züchtigen. In diesem Sinne hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ununterbrochen gewirkt.

VI. Allgemeine sozialistische Konferenz.

Wir sind ohne Vorbehalt zur Teilnahme an einer allgemeinen sozialistischen Friedenskonferenz bereit, weil wir es für die selbstverständliche Pflicht eines jeden Sozialisten halten, für den Frieden zu wirken. Eine Auseinandersetzung über das Verhalten der sozialistischen Parteien wird sehr vereinfacht werden, wenn alle Sektionen in der von uns gewählten Form eine Sammlung der Dokumente über ihre Tätigkeit für den Frieden unterbreiten würden.

Von einer Erörterung der Schuldfrage, der wir nicht aus dem Wege gehen, können wir uns eine Förderung des Zwecks der Konferenz nicht versprechen. Es kann sich nicht darum handeln, über Vergangenes zu streiten, es muß sich vielmehr darum handeln, über das Zukünftige sich zu verständigen, nämlich über die möglichst schnelle Herbeiführung eines dauernden, unseren Grundsätzen und Idealen entsprechenden Friedens.

Gegen die Teilnahme aller sozialistischen Minderheitsparteien an der allgemeinen Konferenz haben wir nichts einzuwenden.

Stockholm, den 12. Juni 1917.

Die Delegation der Sozialdemokratie Deutschlands.
Fr. Ebert. Scheidemann. Herm. Müller. Molkenbuhr. Ed. David. R. Fischer. Sassenbach. G. Bauer. C. Legien.

Ein lebendiger Franzose.

Am 12. Juni erfuhr ich, daß ein französischer Parteigenosse namens Lafont unserem Friedenskomitee einen Besuch gemacht und bei dieser Gelegenheit auch mit Adler gesprochen hatte. Lafont, so ließ mir Frau Nina Bang, die hervorragende dänische Genossin, durch Ebert sagen, sei bereit, mit mir zu reden! Das erschien uns allen nahezu unglaublich. Ich ging ins Grand-Hotel, um von Adler möglichst Näheres zu hören. Ich fand Adler in wahrhaft bejammernswertem Zustand; er lag im Stuhl, lediglich mit Unterhosen und zwei Jacken bekleidet, als sei er schon tot. Erst nachdem ich mehrfach geklopft, die Tür geöffnet und wieder geschlossen hatte, entschloß ich mich, das Zimmer zu betreten, und zwar möglichst geräuschvoll. Nun öffnete Viktor die Augen, Er tat gar nicht erstaunt, und fing sofort an zu murmeln, aber so, daß ich ihn kaum verstehen konnte. Mit Mühe und Not hörte ich dann dies: man habe ihn telephonisch gebeten, ins Bureau zu kommen, da er Gelegenheit hätte, einen »lebenden« Franzosen zu sehen. Danach habe er sich doch längst gesehnt. Und nun weiter: Lafont sei offenbar ein geistreicher Franzose, der aber kaum Fühlung mit Arbeitern haben könne. Er hätte gar zu töricht geredet von der Notwendigkeit, den Krieg eventuell noch drei Jahre fortzusetzen, bis Straßburg wieder in französischem Besitz sei.

Als Adler ihm den Star gestochen und u. a. gesagt hatte, daß niemand in Deutschland Straßburg abzutreten geneigt sei, habe Lafont eine kleine Schwenkung gemacht und sei etwas verständiger geworden. Er sei mit einer Russin verheiratet. Mit seiner Frau habe er sich den Abgeordneten Cachin und Montet zur Reise nach Rußland angeschlossen und sei nunmehr auf der Rückreise. Bei der Erörterung des Themas unserer Stockholmer Konferenz habe er sich sehr vorsichtig, wie es eben nur ein Pariser Advokat – das ist Lafont – könne, ausgedrückt; dabei habe er aber doch zugesagt – aus eigenem Antrieb –, sich mit Scheidemann unterhalten zu wollen.

Adler erzählte dann weiter, daß er sehr pessimistisch in bezug auf Stockholm geworden sei; die Geschichte ginge nicht voran; er gehe ab und zu auf das Bureau, um den Komiteemitgliedern den Kopf zu waschen, aber das helfe ja alles nichts. Trotz alledem würde er es für einen großen Fehler halten, wenn wir, wie wir bereits beschlossen hätten, bis auf Müller alle fortreisen würden. Wenn nicht alle, so müßten mindestens mehrere Genossen hier bleiben, sonst schliefe die ganze Geschichte schließlich ein. Alle Welt sähe auf Stockholm. Was jetzt auch immer geschehen möge in der Friedensfrage, es werde alles von den Völkern angesehen als geschehen unter dem Stockholmer Druck. (Es liegt eine Zeitungsmeldung vor, der zufolge österreichische Offiziere als Friedensparlamentäre ins russische Lager gegangen seien.) Ginge aber alles in die Brüche, weil die Engländer und Franzosen nicht kommen, dann seien wir jeglicher Verantwortung bar, wenn wir bis zum äußersten hier ausgehalten hätten. – Ich eilte dann in unsere Delegationssitzung, um dort zu berichten. Ich erfuhr dort, daß Frau Bang mit der Meldung zurückgekommen sei, Lafont und Frau hätten bereits abreisen müssen, weil sie sonst ihren Dampferanschluß nicht erreicht hätten. An sich wäre bei der Unterredung mit Lafont wahrscheinlich auch nichts herausgekommen. Wir beschlossen noch den Text eines Briefes an den Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat, den sein Vertreter in Stockholm besorgen wollte. Diesen Vertreter hatte ich übrigens noch in Adlers Zimmer, gerade als ich mich verabschiedete, kennengelernt.

»Ohne Annexionen« – für alle, nicht nur für uns!

Am Nachmittag des gleichen Tages hatten wir wieder eine Sitzung mit dem Friedenskomitee, in der wir uns stundenlang lediglich über Elsaß-Lothringen unterhielten. Dabei kam es zu lebhaften Zusammenstößen mit Branting und van Kol. Wir verteidigten ganz entschieden unseren Standpunkt und wiesen auf unsere schriftliche Antwort hin, davon gingen wir nicht ab.

Wie gewöhnlich entfernte sich Branting, der übermäßig als Redakteur und Abgeordneter beschäftigt war, so daß er die Rede Troelstras, die Öl auf die Wogen goß, nicht hörte.

Am 13. Juni vormittags hatten wir wieder offizielle Sitzung (abermals ohne Branting). Beratung unseres Memorandums. Zuerst »Belgien«. Camille Huysmans hielt zur Einleitung eine lange Rede. – David antwortete; dann sprach van Kol in so aufreizender Weise, daß ich meinen Zorn kaum bändigen konnte. Genossin Bang gab mir, als ich mich zum Wort meldete, einen Zettel über den Tisch: »Bitte, werden Sie nicht heftig, Genosse Scheidemann!« Ich bemühte mich, aber es gelang mir nicht ganz. »Wir brauchen nur die eroberten Gebiete herauszugeben, Elsaß-Lothringen dazu, zahlen an alle Welt Kriegsentschädigungen, teilen unser Land auf, um es zur dauernden wirtschaftlichen und politischen Ohnmacht zu verurteilen usw. usw.; und dann wird uns schließlich verziehen werden, daß wir nicht schon am 4. August 1914 direkt Landesverrat begingen zur höheren Ehre des französischen und englischen Kapitalismus und des Zaren!« Ich wies nachdrücklich darauf hin, was die Formel bedeute: Keine Annexion, keine Kriegsentschädigung, und hob zum hundertsten Male hervor, daß diese Grundlage für alle zu gelten habe.

Troelstra goß wiederum Öl auf die Wogen, wobei er kein Wort gegen mich sprach, aber eine harte Strafpredigt gegen seinen Freund und Landsmann van Kol hielt. Wir blieben grundsätzlich bei unserem Text, stellten aber kleine stilistische Änderungen in Aussicht

14. Juni 1917. Sitzung mit dem Komitee. Branting ist wieder nicht da. Abermals lange Auseinandersetzung über unser Memorandum. Abgesehen von der Konzession in bezug auf Untersuchungen von Schäden nach dem Kriege: statt »halten wir für ganz unmöglich« zu sagen: »halten wir für ungemein schwierig« blieben wir bei unserem Text. Nur in der elsaß-lothringischen Frage unterstrichen wir auf den Wunsch der Genossin Bang noch einmal das Wort »Autonomie«.

Dann die üblichen Dankreden: Ebert für das Bureau, Troelstra für uns. Troelstra ließ dabei erkennen, daß er auf unserem Standpunkt stehe. Auf unsere Anfrage erklärte er, daß er mit nach Petersburg gehen werde, wenn das Bureau sich zur Abreise entschließe; er werde dahin wirken, daß die Abreise bald erfolge.

Beim schwedischen Außenminister.

Damit war die Arbeit der Vorkonferenz und – wenn die Pessimisten recht hatten – vielleicht der ganzen Konferenz zu Ende. Die meisten Parteifreunde reisten ab, David, Müller und ich blieben noch, ohne Hoffnungen, nur um der Arbeiterschaft der Welt nicht jeden Glauben an das sozialistische Gewissen der Entente-Parteigenossen zu nehmen und diesen nicht die billige Ausrede zu geben, daß wir ja die Verhandlungen abgebrochen hätten.

Die paar Tage, die wir noch in Stockholm blieben, brachten aber zwei Unterredungen, die bedeutungsvoll waren und deren ich hier deshalb gedenken will. Zuerst war es der schwedische Außenminister Lindmann, der mich durch unsern Parteifreund Lindquist vor der Abreise noch um meinen Besuch bitten ließ. Ich nahm diese Aufforderung gern entgegen und begab mich am 14. Juni ins Ministerium des Äußern, wo ich sehr liebenswürdig empfangen wurde.

»Wie sind Sie mit Ihrer Mission hier zufrieden und wie sind Sie mit Ihrem Genossen Branting fertig geworden?« »Meine Mission ist ja nur vorläufig abgeschlossen; mit Branting haben wir auf kameradschaftlichem Fuße verhandelt; er war offenbar bemüht, objektiv zu sein, wenngleich – –« Minister: »… er vollkommen auf Seite der Entente steht.« »Ja, das ist mir bekannt.«

Lange Unterhaltung über Krieg und Frieden, Kaiser Wilhelm, Verfassungsänderung usw. – Die Schuldfrage beurteilt er nach seiner Versicherung ebenso wie ich. Er glaube nicht mehr daran, daß der Krieg vor Jahresschluß beendet sein werde. Die Entente rechne wohl bestimmt mit dem Zusammenbruch Deutschlands, deshalb ziehe sie den Krieg in die Länge. Die Einmischung in die inneren Zustände Deutschlands sei absolut unzulässig.

Dann schilderte er, wie er 1908 mit Wilhelm II. sich zweieinhalb Stunden unterhalten habe; dabei sei der Kaiser so offen gewesen, daß er ihn unter direktem Hinweis auf die Daily-Telegraph-Affäre gewarnt habe. Wilhelm II. habe dann gesagt: So sei er; wem er Vertrauen entgegenbringe, dem schenke er es absolut. Er müsse sich gänzlich auf Lindmann verlassen. Lindmann erzählte dann weiter: Wilhelm II. habe so offen geredet über viele Dinge, daß er nicht einmal seinem König alles berichtet hätte. Ich solle es aber nicht falsch verstehen: Wilhelm habe sich vollkommen »frei« gezeigt und den größten Wert darauf gelegt, daß man nicht an seiner unbedingten Friedensliebe zweifeln möge.

Ich sagte u. a.: Die Entente irrt vollkommen, wenn sie mit der Revolution im Kriege bei uns rechnet. Die sei m. E. nur möglich unter den Voraussetzungen, die ich im Mai dieses Jahres skizziert hätte. Darin stimmt er mir auch zu; ebenso in der Beurteilung der Lebensmittelschwierigkeiten in Deutschland.

Er schilderte mir dann, wie sehr Schweden in Mitleidenschaft gezogen sei: Abgeschnitten von der Zufuhr durch England, Torpediergefahr durch Deutschland. Dabei beurteilte er den U-Bootkrieg in überraschend objektiver Weise. Er habe auch Branting stets geantwortet: da ist England doch der Schuldige, wie Sie zugeben müssen, wenn Sie in chronologischer Folge die Etappen aufzählen. Er sagte weiter: Am Tage der letzten Torpedierung schwedischer Schiffe hat die Stockholmer Presse furchtbar auf Deutschland gewütet. Er habe sich dann sofort die Redakteure »in diesen Saal« kommen lassen und ihnen gesagt: Sie haben sich nun einen ganzen Tag lang heftig gegen Deutschland ausgetobt, nun stellen Sie aber, bitte, morgen wahrheitsgemäß fest, wie die Dinge in Wirklichkeit liegen!

Er sprach über alle diese Dinge durchaus offen deutschfreundlich. »Es wäre ein Unglück für unser Land geworden, wenn wir jetzt ein Ministerium Branting bekommen hätten!«

Ich lenkte das Gespräch auf die Möglichkeit der Friedensvermittlung durch die Neutralen. Er: »Es gab eine solche Möglichkeit, solange Amerika nicht am Kriege direkt beteiligt war.« – Er kritisierte dann die amerikanische Politik, die vom Dollar beherrscht werde. Dabei bezog er sich auf seine Kenntnis Amerikas. »Alles wird auf den Dollar eingestellt.« – In bezug auf die Kriegsziele Deutschlands sagte er, daß er es für selbstverständlich halte, daß die Reichsregierung ehrlich den Frieden wolle und nicht an eine Fortsetzung des Krieges zum Zwecke von Eroberungen denke. Wer nicht ausgesprochener Parteimann sei, müsse zugeben, daß der Reichskanzler nicht mehr hätte öffentlich sagen können, als er gesagt hat. – Schweden beobachte Deutschland gegenüber eine wohlwollende Neutralität. – Er bat mich dann um Aufklärung über den Unterschied zwischen meinen Freunden und den Haase-Leuten. Ich bemühte mich, ganz objektiv zu schildern auf Grund von Tatsachen. Er konnte absolut nicht verstehen, daß man dem eigenen Lande, das in so schlimmer Lage sei, wie das unsere, nicht die Mittel zu seiner Verteidigung bewillige. – Mit der wiederholten Versicherung, daß Schweden Deutschland gegenüber bemüht sein werde, weiterhin zu helfen, soweit es gehe, gab er mir die Hand. Ich sagte ihm, daß man in Deutschland wisse, was Schweden getan habe. Die Unterredung hatte länger als eine Stunde gedauert. – –

»Après la guerre.«

Mein letzter Tag in Stockholm brachte schließlich ein indirektes Zusammentreffen mit Albert Thomas, der von Petersburg zurückkam. Frau Bang war mit ihm zusammen gewesen und berichtete mir über die Unterredung. Ich notierte mir folgendes:

18. Juni. Thomas soll wütend gewesen sein über unser Memorandum und besonders über die Stellen, die sich auf die elsaß-lothringische Frage beziehen. Er habe sich ausgedrückt, wie ein Mann, der weder vom Sozialismus, noch von der Politik etwas wisse: eben wie ein Mensch, der nur Munitionsminister sei. Als Frau Bang ihn fragte, ob der Krieg wegen Elsaß-Lothringen, das doch nicht erobert sei, endlos weitergeführt werden soll, habe er geantwortet: Der Krieg geht weiter, wir können nicht anders. Frau Bang war ganz verzweifelt. Sie hat mit Stauning, der in Kopenhagen ist, telephonisch gesprochen und ihn hierher gebeten. Ich sprach ihn soeben, direkt nach seiner Ankunft. Thomas hat sich, nebenbei gesagt, gestern Frau Bang gegenüber bereit erklärt, mit Stauning zu reden, wenngleich seine letzte Begegnung mit ihm in Frankreich großen Lärm verursacht habe. Heute früh hat Thomas Stauning wissen lassen, daß er ihn beim Frühstück mit Branting und Huysmans sehen wolle. Er will also nur in Gegenwart Brantings mit Stauning verhandeln. David, Müller und ich haben noch einmal eingehend mit Stauning wegen Elsaß-Lothringen geredet und ihn nachdrücklich auf die Bedeutung unseres Memorandums über Annexionen im allgemeinen und über Elsaß-Lothringen im besonderen aufmerksam gemacht.

19. Juni 1917. Stauning und Frau Bang haben uns über die Unterhaltung mit Thomas berichtet. Nach dem Essen fand sich beim Kaffee Gelegenheit für sie, ihn allein zu sprechen. Neues hat er eigentlich nicht gesagt: Elsaß-Lothringen gehöre zu Frankreich; unsere Berufung auf den statistischen Nachweis, daß 90 % der Einwohner Deutsch reden, beweise nicht, daß die Einwohner auch deutsch denken und fühlen. In Frankreich wisse man, daß die Elsaß-Lothringer wieder zu Frankreich wollten und dergleichen mehr. Nach langem Hin und Her habe er aber doch von einer »Arbitrage obligatoire après la guerre« gesprochen. Stauning und Frau Bang haben den Eindruck gewonnen, daß die Franzosen nach einer Brücke suchen, um über Elsaß-Lothringen, auf das sie sich festgebissen haben, hinwegzukommen. Ein Schiedsgericht nach dem Friedensschluß sollte also die Frage prüfen, ob Elsaß-Lothringen über seine Zugehörigkeit zu Deutschland oder Frankreich abstimmen müsse. Frau Bang hatte sich in den Gedanken verliebt, daß wir einen solchen Vorschlag machen möchten. Dem widersprach ich. David meinte, daß ein Dritter – vielleicht Dernburg oder Bernstorff – nach beiden Seiten hin Fühler ausstrecken müßten über die Form der Frage, die dann von beiden Seiten angenommen werden könne. Es sei freilich Unsinn, nach dem Kriege eine solche Frage wieder aufzurollen; aber da kein Mensch nach dem Kriege die Frage, ob erneut mit einem Kriege gespielt werden solle, stellen werde, könne man vielleicht, um aus der Affäre herauszukommen, eine Einigung herbeiführen. Das schlimmste ist natürlich für die Franzosen die Frage des Prestiges! – Wir gingen auseinander in der Absicht, eine Lösung zu suchen.

Für 6 Uhr hatte mich Huysmans noch einmal zu sich gebeten. Thomas sei sehr bestimmt, aber doch sehr verständig gewesen. Sofort nach seiner Ankunft in Paris werde er die Pässe für die Sozialisten erzwingen!

Abends 6 Uhr reiste ich mit Stauning nach Kopenhagen, wo ich am Mittwoch noch einmal eine gründliche Aussprache mit dem Grafen Rantzau hatte.



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