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An der Schwelle des Weltkrieges.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands war vor dem Kriege taktisch und politisch auf eine friedliche Entwicklung zur Demokratie und über die Demokratie zum Sozialismus eingestellt. Die Ergebnisse der Reichstagswahlen ließen mit Sicherheit erkennen, daß in verhältnismäßig kurzer Zeit die große Mehrheit des deutschen Volkes hinter der Sozialdemokratie stehen werde. 1912 hatte ja schon jeder dritte Wähler sozialdemokratisch gewählt. Wie lange konnte es also noch dauern, bis jeder zweite, ja bis die Mehrheit hinter uns stand! Daß wir nicht gewillt waren, uns dann noch von einer Minderheit beherrschen, politisch mißhandeln und wirtschaftlich ausbeuten zu lassen, war eine Selbstverständlichkeit. Gegenstand des Streits aber waren innerhalb der Partei die von einer bestimmten Gruppe ausgehenden Bestrebungen, schon vor Feststellung der Mehrheit auf unserer Seite durch »fortgesetzte Straßendemonstrationen, Massenstreiks usw.« die politische Macht zu erobern.

Ich gehörte zu denen, die diese besonders von den Frauen Luxemburg und Zetkin propagierte Taktik ablehnten. Es schien mir nicht nur unserm Parteiprogramm, auf dessen wissenschaftliche Grundlage wir uns allezeit mit Stolz beriefen, zuwiderzulaufen, daß eine Minderheit sich mit Gewalt in den Besitz der politischen Macht zu setzen versuchte; es war sicherlich auch undemokratisch und – bei Lichte besehen – sehr dumm. Denn wenn die sichere Aussicht besteht, daß eine revolutionäre Partei in zehn oder fünfzehn Jahren – und was bedeuten die im Leben eines Volkes! – nahezu automatisch die Mehrheit des Volkes auf ihrer Seite und damit das unbestreitbare Recht erworben hat, die politische Macht auszuüben, dann erschien es mir unverantwortlich, vorzeitig das Volk in einen Bürgerkrieg zu stürzen, bei dem nach meiner Überzeugung der Sieg nicht hätte errungen werden können, durch den aber die sozialdemokratische Bewegung auf unabsehbare Zeit hinaus zurückgeworfen worden wäre. Auf mehreren Parteitagen kam es dieser verschiedenartigen Auffassung wegen zu heftigen Auseinandersetzungen. Lebhaft erinnere ich mich an den letzten Kampf, den ich mit Frau Rosa Luxemburg auf dem Parteitag in Jena 1913 hatte. Je klarer hervortrat, daß die Putschisten auf eine Mehrheit in der Partei nicht rechnen konnten, um so heftiger und häßlicher wurde der Kampf von ihnen geführt. Wäre der Krieg nicht ausgebrochen, der zur Trennung führte, so würde es meines Erachtens dennoch zu einer Spaltung der Partei gekommen sein, freilich mit einer andern Gruppierung, denn bekanntlich verließen uns im Kriege auch einige Männer, die bis dahin zu den von den Frauen Luxemburg und Zetkin am meisten gehaßten und bekämpften Revisionisten gehört hatten. Ich erinnere nur an Eduard Bernstein.

Wenngleich die Sozialdemokratie sich vollkommen klar darüber war, daß im Zeitalter des Imperialismus die Kriegsgefahren sich ständig steigern müßten, so lebte sie doch der Hoffnung, daß nicht nur die sozialdemokratischen Parteien der europäischen Großstaaten bereits stark genug seien, um den Ausbruch eines Krieges aufhalten zu können; sie nahm auch an, daß der Ausgang eines Krieges für jeden Großstaat derart zweifelhaft sei, daß alle Staaten bemüht sein würden, mit allen ihren Kräften dem Ausbruch eines Krieges entgegenzuwirken. Mit andern Worten: die Sozialdemokratie rechnete immer mit der Möglichkeit eines Krieges, aber auch damit, daß die Wahrscheinlichkeit seiner Verhütung noch größer sein werde.

Bestärkt wurde diese Auffassung in den letzten Jahren vor dem Krieg durch den überaus glücklichen Verlauf der deutsch-französischen Verständigungskonferenzen in Bern (1913) und Basel (Pfingsten 1914). In Bern war Bebel noch zugegen gewesen. In Basel sah und sprach ich Jaurès zum letzten Male. Die Berner Konferenz, für die Öffentlichkeit angeregt und propagiert von Ludwig Frank, in Wirklichkeit aber von Friedrich Stampfer vorgeschlagen, hatte einen so guten Eindruck hinterlassen, daß in Basel schon Vertreter bürgerlicher Parteien aus Frankreich sowohl wie aus Deutschland erschienen waren. Aus Deutschland waren einige Zentrumsleute und Demokraten vertreten; aus Frankreich neben andern die bekannten Politiker Augagneur und Constant d'Estournelle. Die deutsche Reichsregierung hat diese Konferenz gern gesehen, ihren Verlauf mit lebhaftem Interesse verfolgt und die erfreulichen Ergebnisse mir gegenüber mit großer Genugtuung festgestellt.

Wenige Wochen nach Bern brach die Katastrophe über uns herein. Ich hatte zwei Wochen lang Hochtouren in den Dolomiten gemacht und kam am 24. Juli 1914 in Mittenwald a. d. Isar an, um mich dort, wie ich das seit Jahren getan hatte, nun eine Woche wirklich auszuruhen. Ich konnte aber der Versuchung nicht widerstehen und bestieg am 25. Juli noch die westliche Karwendelspitze. Infolgedessen erfuhr ich erst abends von dem österreichischen Ultimatum an Serbien. Ich war starr vor Empörung, überlegte aber nicht lange, sondern ging in eine Buchhandlung und – kaufte mir ein umfangreiches Taschenbuch, um von nun ab Tagebuch zu führen. Die Zukunft schien mir trostlos. Am Abend schon begann ich mit meinen Eintragungen, und ich schrieb dann bis Weimar – Nacht für Nacht, oft nach wirklich aufregenden Tagen – 26 dicke Bücher voll. Sie mögen später, soweit die Eintragungen allgemeines Interesse haben, unretouchiert veröffentlicht werden. Ich stütze mich bei der Niederschrift dieses Buches auf meine Tagebücher, aus denen ich mancherlei wörtlich übernehme. Ich zitiere hier gleich die Niederschriften aus den letzten Tagen vor dem Kriege.

Aus meinem Tagebuch.

25. Juli 1914. Ich empfinde das Ultimatum als eine Ungeheuerlichkeit und bin mir vollständig im klaren, daß Österreich den Krieg will.

26. Juli. Mein Geburtstag. Ich trete ins 50. Jahr; schade, schon! Ich lese neue Zeitungen. Kein Zweifel: ein Wunder muß geschehen, wenn noch alles gut gehen soll. Wir gehen über die Grenze nach Scharnitz, der ersten Eisenbahnstation in Tirol. Dort – so nahm ich an – müßte etwas zu erfahren sein, wenn Österreich wirklich an die Mobilmachung gehe. Richtig! Im Stationsgebäude hingen schon die »Kundmachungen« über die Einschränkungen im Eisenbahnbetriebe vom 28. Juli ab, dem »ersten Mobilmachungstag«. Sofort zurück auf bayerischen Boden, damit ich von da aus dem »Vorwärts« telegraphieren konnte. Abends schon Abfahrt über München nach Berlin.

28. Juli. Von ½10 Uhr ab Sitzung des Parteivorstandes in Gemeinschaft mit der Kontrollkommission … Ebert ist noch nicht nach Berlin zurückgekehrt … Abends große Demonstration in der Friedrichstadt gegen den Krieg und die Kriegsschreier, die sich schon tagelang unter den Linden breitgemacht hatten. Unsere Demonstration war gewaltig, vermochte aber nicht dauernd das Übergewicht über die patriotischen Schreier, die zumeist Schüler waren, zu behalten. Die Polizei verhielt sich ziemlich reserviert.

30. Juli. Der »Berl. Lokalanzeiger« gibt ein Extrablatt heraus folgenden Inhalts:

»Mobilmachung in Deutschland.

Die Entscheidung ist gefallen, gefallen in dem Sinne, wie es nach den Nachrichten der letzten Stunden erwartet werden mußte:

Wie wir erfahren, hat Kaiser Wilhelm soeben die sofortige Mobilisierung des deutschen Heeres und der deutschen Flotte angeordnet.

Der Schritt Deutschlands ist die notgedrungene Antwort auf die drohenden kriegerischen Vorbereitungen Rußlands, die sich nach Lage der Dinge gegen uns nicht minder wie gegen unsern Bundesgenossen Österreich-Ungarn richten.«

Dieses Blatt wurde um die Mittagszeit verbreitet. Sobald es in unsere Hände kam, reisten Ebert und Braun im Parteidienst nach Zürich ab. Wir konnten ihnen jedoch noch auf dem Bahnhof ein neues Flugblatt desselben »Berl. Lokalanz.« zustellen lassen, das folgenden Inhalt hatte:

»Durch einen groben Unfug sind heute mittag Extrablätter des Berliner Lokalanzeiger verbreitet worden mit der Meldung, daß Deutschland die Mobilmachung des Heeres und der Flotte angeordnet habe. Wir stellen fest, daß diese Meldung unrichtig ist.«

Ob jemals die hinter diesem Treiben steckenden Kriegshetzereien gänzlich aufgedeckt werden können?


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