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Die zwei Massenstreiks 1917 und 1918.

Die Unterdrückung der Arbeiter. – Der Fall Eckardstein. – Aprilstreik 1917. – Die Forderungen der Leipziger Arbeiter. – Massenstreik 1918. – Die Situation vor dem Streik im Januar 1918. – Unser Eintritt ins Streikkomitee. – Der nachmalige Reichspräsident als Verbrecher. – Straßendemonstrationen. – Ich werde von der Polizei mißhandelt. – Die Rolle der Unabhängigen und die Borniertheit der Regierung. – »In geordneten Bahnen.«

Die Unterdrückung der Arbeiter.

Die Unzufriedenheit oder besser gesagt die Empörung und der Hunger haben die Arbeitermassen während des Krieges zweimal zu großen Massenaktionen aus den Betrieben herausgeführt. Wollte ich in diesem Buch nicht nur die intellektuellen, sondern auch die moralischen Sünden der meisten einst führenden Männer an den Pranger stellen, so könnte ich Seite um Seite und Bogen um Bogen füllen mit den unerhörtesten Vergewaltigungen und Rechtsbrüchen gegen politisch Unbequeme, insbesondere gegen radikale Arbeiter und Sozialisten. Es war ja selbst uns, die wir Tag für Tag mit diesen Dingen zu tun hatten, immer aufs neue unbegreiflich, wie wenig Psychologie und leider auch Ehrlichkeit in den führenden militärischen Kreisen steckte. Aber auch die zivilen Stellen ließen es an der Nacheiferung solcher militärischen Praktiken nicht fehlen, wenn sie politisch nicht mehr weiter kamen oder gar in ihrer Eitelkeit sich gekränkt fühlten. Ich werde keinem Menschen auch nur noch ein Wort über die Behandlung von Arbeitern zu sagen brauchen, wenn ich hier den Fall eines Freiherrn und früheren hohen Reichsbeamten berichte und hinzufüge, daß die Recht und Gesetz verhöhnende Instanz in diesem Fall nicht etwa einer der regierenden Generale war, sondern der frühere Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Herr von Jagow.

Der Fall Eckardstein.

Anfang Januar 1916 erfuhr ich sehr böse Dinge über das Vorgehen des Außenministers von Jagow gegen den früheren Botschaftsrat in London, Baron von Eckardstein. Der Baron hatte einer Stuttgarter Verlagsanstalt das Manuskript seiner Memoiren verkauft. Darin sollte der Nachweis geführt sein, daß die deutsche Regierung um die Jahrhundertwende England, das dem Dreibund hatte beitreten wollen, vor den Kopf gestoßen und damit in die Arme Frankreichs getrieben hatte. Ein solcher dokumentarisch geführter Nachweis durch einen Mann, der diese Dinge in amtlicher Eigenschaft miterlebt hatte, mußte natürlich der deutschen Regierung und vor allem dem Auswärtigen Amt in damaliger Zeit ganz besonders peinlich sein. Immerhin beliebte Herr von Jagow ein Verhalten, das man nicht zu hart beurteilt, wenn man es skandalös nennt. Herr von Jagow ließ nicht nur das Manuskript der Memoiren beschlagnahmen, sondern ließ auch den Baron verhaften und viele Monate von Gefängnis zu Gefängnis schleppen, um ihn schließlich in einer Irrenanstalt internieren zu lassen.

Baron von Eckardstein, der vor seiner diplomatischen Laufbahn Kavallerie-Offizier gewesen war, war beim Ausbruch des Krieges nicht mehr felddienstfähig, er hatte sich aber für jeglichen Dienst zur Verfügung gestellt und wurde infolgedessen als Nachrichten-Offizier beschäftigt. Eines Tages wurde er aus dem Automobil heraus wegen angeblichen Verdachts des Landesverrats verhaftet. Es war nämlich dem Minister von Jagow inzwischen zur Kenntnis gekommen, daß Baron von Eckardstein, der früher in einem gewissen Freundschaftsverhältnis zum Kronprinzen gestanden hatte, diesem eine für den Kaiser bestimmte Denkschrift geschickt hatte. Diese Denkschrift war dem Herrn von Jagow ebenso unbequem wie die Memoiren; kurz gesagt, unter den fadenscheinigsten Gründen wurde Baron von Eckardstein eingesperrt und geradezu schandbar behandelt. So hatte er wochenlang nach seiner Verhaftung keinerlei Möglichkeit, seine Wäsche zu wechseln, obgleich seine Koffer in demselben Gefängnis, in dem man ihn festgesetzt hatte, herumstanden. Alle Versuche des Herrn von Jagow, dem Baron einen Prozeß wegen Landesverrats zu machen, schlugen fehl, weil sich kein Gerichtshof dazu bereitfand. Es blieb also nur als letzter Weg die Überweisung an eine Irrenanstalt, ebenfalls natürlich unter den fadenscheinigsten Gründen, übrig.

Durch einen Vertrauensmann des Barons erfuhr ich von diesen Dingen und wurde sofort im Auswärtigen Amt vorstellig. Herr von Jagow suchte mich zu beschwichtigen unter Angabe von Gründen, die gegen von Eckardstein sprachen, die ich aber nicht nachprüfen konnte. Als ich nach einiger Zeit erfuhr, daß der Baron immer noch in der Irrenanstalt festgehalten wurde, machte ich im Haushaltsausschuß des Reichstages Andeutungen, die für die Kommission wenig verständlich, für den Außenminister aber deutlich genug waren. Ich ließ ihm auch sagen, daß ich im Reichstage die skandalöse Affäre zur Sprache bringen würde, falls von Eckardstein noch länger interniert bleibe. Ich hatte den Baron bis dahin nicht persönlich gekannt. Eines Tages ließ er mich durch einen Vertrauensmann wissen, daß er mich gern sprechen möchte. Zu meinem lebhaften Bedauern mußte ich sagen, daß es mir kaum in den nächsten Tagen möglich sein würde, mein Bureau zu verlassen. Zu meiner großen Überraschung antwortete mir der Vertrauensmann darauf, daß von Eckardstein ja zu mir kommen könne. Auf meine erstaunte Frage, wie das möglich sei, wurde mir folgende Antwort: Der Direktor und das gesamte Personal der Anstalt sind empört über die Festhaltung des Barons. Der Direktor soll sich auch schon geweigert haben, den Mann fernerhin zu behalten, da seine Anstalt kein Gefängnis sei. Der Baron sei wohl jederzeit in der Lage, sich aus der Anstalt für einige Stunden zu entfernen, um mich aufzusuchen. Er müsse nur, um seine Situation nicht noch mehr zu verschlechtern, rechtzeitig wieder in der Anstalt sein.

Ich empfing dann bereits am nächsten Tage den Besuch des hart verfolgten Mannes und war über die Schilderung seiner Erlebnisse derart empört, daß ich sofort zum Auswärtigen Amt ging, um nun mit rücksichtsloser Energie die Freilassung zu fordern. Herr von Jagow machte wiederum allerlei Ausflüchte, denen ich aber dadurch ein Ende bereitete, daß ich ihm für die nächste Reichstagssitzung den größten Skandal ankündigte. Dazu kam es nicht, weil inzwischen Herr von Jagow abgelöst wurde durch Herrn Zimmermann, der auf mein Ersuchen die Freilassung des Barons verfügte.

Ich habe den Fall deshalb hier angeführt, weil er vielleicht geeignet ist, an einem drastischen Beispiel die Rechtlosigkeit zu kennzeichnen, die im Kriege obwaltete. Wenn man schon mit einem ehemaligen hohen Reichsbeamten in dieser brutalen und heimtückischen Weise verfahren ist, dann kann man sich vorstellen, wie mit Arbeitern umgesprungen wurde, die den Regierenden unbequeme Handlungen begangen hatten oder begangen haben sollten.


Aus einer politischen Verbitterung, wie sie an dem berichteten Fall abgelesen werden kann und aus Lebensmittelnöten, wie ich sie nur andeutungsweise in dem Kapitel »Für einen Frieden der Verständigung« gestreift habe, entstand der erste Massenstreik im April 1917.

Aprilstreik 1917.

In einer Besprechung mit der Generalkommission der Gewerkschaften hatten wir abgelehnt, uns an einem gemeinsamen Aufruf gegen den Streik zu beteiligen. Der besonnene Führer des Berliner Metallarbeiterverbandes Cohen hatte definitiv erklärt, daß jeder Aufruf gegen den Streik vollkommen nutzlos sein werde. Darauf antwortete ich, daß es nach dieser Erklärung eine grenzenlose politische Dummheit sein würde, einen Aufruf gegen den Streik zu veröffentlichen. – Besonders groß war die Sorge des Reichskanzlers, der die schlimmsten Dinge voraussah, wenn der Streik sich länger hinziehen sollte. Seine Besorgnisse trug uns Wahnschaffe in einer Besprechung vor, die am 14. April 1917 stattfand. Wir sagten ihm, Ebert und ich, warum jedes Bemühen, den Streik abbiegen zu wollen, vergeblich sein müsse: Ursache sei buchstäblich der Hunger, den man nicht dadurch stillen könne, daß man in der kritischsten Stunde auch noch die Brotration verkürzt hätte. Wir malten grau in grau. Was aus der Bewegung am 16. April werde, wisse kein Mensch. Er sollte dafür sorgen, daß die Behörden sich zurückhielten. – Er: er habe mit Herrn von Oppen, dem Polizeipräsidenten, gesprochen, der sehr ruhig und kühl urteile und nach Möglichkeit alle Eingriffe verhüten wolle. Er werde seine Aufgabe darin sehen, die Massen von der inneren Stadt fernzuhalten. – Ich bat ihn zum Schluß, den Reichskanzler in unserem Namen zu ersuchen, rücksichtslos gegen rechts den Weg zu gehen, den die ungeheure Mehrheit des Volkes als den einzig möglichen gegangen wissen wolle: Frieden, Brot und konsequente Demokratisierung. Solange nicht vollkommen gleiche Rechte eingeführt seien, werde keine Ruhe ins Land kommen. Die Psyche des Volkes sei eine andere geworden im Kriege, namentlich auch seit der russischen Revolution. Ich konnte es mir nicht versagen, hier die Bemerkung zu machen: Was würde der Zar jetzt alles zu bewilligen bereit sein! – Wahnschaffe: »Ja, gewiß, das glaube ich auch!« – Später nahm auch der Legationsrat Dr. Rietzler an unserer Unterhaltung teil. Als in seiner Gegenwart die Rede auf die Fuhrmann und Reventlow kam, meinte Wahnschaffe: das Häuflein wird ja wohl jetzt sehr klein geworden sein. Rietzler sagte: die sind alle reif für ein Panoptikum. – Der Berliner Streik verlief ruhiger als erwartet worden war. Es haben mindestens 125 000 Männer und Frauen aus der Munitionsindustrie gestreikt.

Es war bezeichnend für die skrupellos arbeitende Zensur, daß auf dem Zeitungswege in die Schützengräben fast nichts von dieser Massenbewegung hinausdrang. Desto mehr Berichte flogen natürlich mit der Feldpost an alle Fronten und trugen die Botschaft heraus von der Unterdrückung und dem Hunger daheim. Das war dann die stimmungsmäßige Grundlage und das Material, mit dem wir Sozialisten politisch zu arbeiten hatten, um das Schlimmste zu verhüten und das Volk nicht alle die Fehler der Regierenden entgelten zu lassen. Die Fehler, aus denen der Streik entstanden ist, konnten nie wieder gut gemacht werden: 125 000 streikende Munitionsarbeiter sind nach jeder Seite hin ein weithin leuchtendes Menetekel.

Die Forderungen der Leipziger Arbeiter.

Radikaler als die Berliner haben sich die Leipziger Arbeiter benommen. In Leipzig hatten, wie uns Helfferich in einer Sitzung berichtete, an der auch Loebell, Groener und Bauer teilnahmen, angeblich 18 000 Arbeiter eine Resolution folgenden Inhalts beschlossen:

»Die Versammlung verlangt sofortige hinreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Kohlen; sie verlangt weiter: Erklärung sofortiger Bereitschaft zum Frieden ohne jede Annexion; Beseitigung des Belagerungszustandes und der Zensur; Abschaffung des Hilfsdienstgesetzes, freies und gleiches Wahlrecht in allen Bundesstaaten. – Die Versammlung verlangt, daß der Reichskanzler sofort als Deputierte der Versammlung empfängt: Lieberasch, Liebmann und Lipinski. Es bliebe den Deputierten vorbehalten, im Namen der Versammelten beim Reichskanzler weitere Forderungen aufzustellen.

Die Arbeit soll in Leipzig erst wieder aufgenommen werden, wenn der Reichskanzler der Deputation befriedigende Antwort gegeben hat. Geschieht das nicht, dann soll sofort ein Arbeiterrat eingesetzt werden.«

Wahnschaffe ergänzte diese Mitteilung: Laut Telegramm des Generalkommandos hätten am 17. April viele die Arbeit in Leipzig wieder aufnehmen wollen, seien aber von Streikposten daran gehindert worden. Es herrsche Ruhe. Die Versammlungsteilnehmer würden auf 12 000 geschätzt. – Später wurde mitgeteilt (telephonisch von Leipzig), daß das Versammlungslokal nur 5000 Personen fasse.

Helfferich wünschte zu wissen, wie wir die Lage beurteilten, ob man empfangen solle oder nicht. Er sei prinzipiell gegen den Empfang, denn wohin solle es führen, wenn jetzt aus allen möglichen Orten Deputationen kommen wollten, angeregt durch das erfolgreiche Leipziger Beispiel? Eventuell könne man sich über die Lebensmittelfrage unterhalten, keinesfalls aber über die politischen Fragen. Dafür sei mit den gegebenen Faktoren zu verhandeln, vor allem mit dem Reichstag des allgemeinen Wahlrechts. – Ich sprach für den Empfang. Man solle die Gesamtsituation berücksichtigen. Es würde sehr böses Blut machen, wenn man den Empfang ablehne. Wegen der Lebensmittelfrage müßten die erforderlichen wahrheitsgemäßen Aufklärungen gegeben werden. Dann würden die Arbeiter einsehen müssen, daß zurzeit nicht mehr geschehen könne als das, was versprochen worden ist. Wegen der politischen Fragen könne man sich auch, ohne Konsequenzen zu befürchten, mit der Deputation unterhalten. Die Regierung könne doch auf ihre ehrliche Absicht in bezug auf das Wahlrecht und ihre Friedensbemühungen hinweisen. Das werde nicht ohne Eindruck bleiben. Schließlich kam eine Einigung durch folgenden Beschluß zustande: Wahnschaffe wird, wenn Unterhandlungen nachgesucht werden, sagen, daß die Regierung gern bereit sei, über Ernährungsfragen zu verhandeln. Man wollte dann aber auch nebenher in der Verhandlung nicht strikte ablehnen, politische Fragen zu erörtern. An der Aussprache mit den Leipziger Vertretern sollten nach Verabredung auch Groener, Michaelis, Batocki und Helfferich teilnehmen.

Die Stellung der Sozialdemokratie in diesem Streik geht aus folgenden Tagebuchblättern hervor:

20. April 1917. Früh 9 Uhr besuchen uns im Parteivorstand Arbeiter der Munitions- und Waffenfabriken, die auf unserem Standpunkt stehen und die Fortsetzung des Streiks für Wahnsinn halten. Wir rieten ihnen, in der für nachmittags 5 Uhr anberaumten Versammlung eine geheime Abstimmung durchzusetzen. Die Arbeiter waren überzeugt, daß dann die Wiederaufnahme der Arbeit beschlossen werde.

Von 6½ Uhr nachmittags ab findet beim Reichskanzler eine Besprechung statt; Teilnehmer: Bethmann Hollweg, Loebell, Helfferich, Batocki, Groener, Wahnschaffe, Legien, Bauer, R. Schmidt, Ebert, Molkenbuhr, ich. – Thema: Streik der Munitionsarbeiter. Was tun? Legien und ich raten dringend von scharfem Zugreifen ab; man solle doch ruhig zusehen, die Geschichte sei im Abflauen. Wir machten auf die für heute nachmittag angesetzt gewesene Versammlung aufmerksam. Zu unserer Überraschung erfuhren wir, daß diese Versammlung verboten und die Waffen- und Munitionsfabrik vom nächsten Morgen ab »militarisiert« sei. – Darüber sprachen wir unser höchstes Befremden und Bedauern aus, da jetzt vielleicht die Bewegung erneut aufflammen werde. – Der Reichskanzler und Helfferich, ebenso auch Groener erklärten, daß nicht länger hätte zugesehen werden können. Die Arbeiter verspotteten die Behörden, die nichts tun könnten, wenn die Arbeiter wollten. Die Straße habe man erobert usw. Das schließe in jetziger Zeit die größten Gefahren in sich. An der Militarisierung sei jetzt nichts zu ändern, sie werde wohl die Arbeiter zur Vernunft bringen. Am verständigsten erwiesen sich noch Löbell und Gröner, während Helfferich den starken Mann spielte. Loebell war genau informiert aus allen Versammlungen, in denen Haase, Ledebour, Stadthagen, Dittmann und die beiden Hoffmänner geredet hatten. Er wies aus allerlei Paragraphen nach, daß es sich hier um glatten Landesverrat handle. Man habe bisher ein Auge zugedrückt, das gehe jedenfalls nicht mehr lange. – Die Regierungsherrschaften erklärten uns, daß sie es jetzt nicht mehr zulassen würden, daß außerhalb der Betriebe stehende Männer in den Betriebsversammlungen redeten. Es handle sich jetzt um politische Versammlungen, die überwacht werden müßten. – Wir mahnten immer wieder zur Ruhe und zum Abwarten; Legien stellte eine Proklamation aller Gewerkschaftszentralen in Aussicht. – Wahnschaffe hielt Ebert wieder fest, als wir gingen. Er hat ihm, wie bereits schon am Mittag, zugesetzt wegen unseres Aufrufs, den der Parteiausschuß beschlossen hat. In solchen wichtigen Angelegenheiten sei es sehr zu empfehlen, vorher mit der Regierung Rücksprache zu nehmen. Ich verstehe es sehr wohl, daß Wahnschaffe, der mich länger und besser kennt als Ebert, mit solchen Ratschlägen – im 33. Kriegsmonat – mir nicht gekommen ist. –

Die Situation vor dem Streik im Januar 1918.

Einen wesentlich anderen Charakter trug der Massenstreik in Berlin im Jahre 1918. Die Zustände für die werktätige Bevölkerung waren direkt unerträglich geworden. In einem Bericht über den Streik an die Sozialdemokratische Partei habe ich im Auftrage des Parteivorstandes Anfang Februar 1918 auch die Situation vor dem Ausbruch des Streiks geschildert; dieser Schilderung entnehme ich die folgenden Einzelheiten:

Der Belagerungszustand wird wieder schärfer gehandhabt. Versammlungen der Arbeiter werden verboten; in Schlesien sollen sogar Betriebswerkstättenversammlungen 10 Tage zuvor angemeldet werden. Zeitungen werden unter schärfere Zensur gestellt. Der »Vorwärts« wird mehrfach hintereinander verboten. Demgegenüber steht die Tatsache, daß die Vaterlandspartei im ganzen Lande ungehindert Versammlungen abhalten kann, in denen sie ihre Eroberungsziele propagiert. Die Arbeit der Vaterlandspartei peitscht die Massen, die sich nach Frieden sehnen, geradezu auf. Im Osten sind die Verhandlungen ins Stocken gekommen. Die Überzeugung festigt sich, daß die Schwierigkeiten nicht unwesentlich auf das Verhalten der deutschen Unterhändler zurückzuführen sind. Tirpitz schickt an die Mitglieder der Vaterlandspartei ein Rundschreiben, in dem er sagt, Hertling und die Vaterlandspartei seien sich einig. Auf die Frage an Hertling am 24. Januar im Hauptausschuß des Reichstags, ob Tirpitz Grund zu dieser Behauptung habe, erfolgt keine Antwort. Alle diese Dinge haben eine ungeheure Spannung im Volke hervorgerufen. In Arbeiterkreisen spricht man zudem von einem Entlassungsgesuch Ludendorffs ganz anders, als die »vaterlandsparteilichen« Kreise, die in ihrer Presse damit Stimmung machen wollten: Der General, von dem weite Kreise unseres Volkes überzeugt sind, daß er für die Heerführung ganz unentbehrlich ist, »droht in den Streik einzutreten, falls seine Forderungen von der Regierung nicht akzeptiert werden«. Wenn ein General zur Durchsetzung seiner Forderungen in den Streik einzutreten bereit ist, so sagt man sich, wer kann es dann den Arbeitern verdenken, wenn sie das gleiche Mittel in Anwendung bringen? An das Dementi, in dem gesagt wurde, daß ein Entlassungsgesuch Ludendorffs nicht vorliegt, glaubte niemand. Zu alledem kamen die Nachrichten über den Massenstreik in Österreich. –

Im Hauptausschuß des Reichstags kamen alle diese Dinge zur Sprache. Abgesehen von den konservativen brachten alle übrigen Redner in mehr oder minder scharfer Weise zum Ausdruck, daß die Zustände, die namentlich der Belagerungszustand gezeitigt hat, schier unerträglich geworden sind. Die sozialdemokratischen Redner ermahnen eindringlich die Regierung, sie solle durch klares Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und ihren unerschütterlichen Friedenswillen auf Grund der Reichstagsresolution vom 19. Juli 1917 beruhigend wirken. Die Rede des Reichskanzlers auf die Forderungen Wilsons war unbefriedigend. Der Abgeordnete Naumann wies besonders nachdrücklich hin auf die drohenden Gefahren und sprach dabei auch von Streikflugblättern, die im Lande vertrieben würden.

Es ist wohl angebracht, auf zwei der im Ausschuß erwähnten Flugblätter hier näher hinzuweisen. In einem Aufruf der Unabhängigen, der von den Mitgliedern der unabhängigen Reichstagsfraktion unterzeichnet ist, wird die politische Situation, wie sie sich der unabhängigen Partei darstellt, geschildert, und dann u. a. wörtlich gesagt:

»Bleiben jetzt kräftige Willenskundgebungen der werktätigen Bevölkerung aus, so könnte es scheinen, als ob sie mit diesem Treiben einverstanden wären, als ob die Massen des deutschen Volkes noch nicht genug von dem grauenhaften Elend des Krieges hätten … Es ist keine Zeit zu verlieren: Nach allen Schrecken und Leiden droht neues, schwerstes Unheil unserem Volke, der gesamten Menschheit! Nur einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker kann uns davor retten. Die Stunde ist gekommen, Eure Stimme für einen solchen Frieden zu erheben! Ihr habt jetzt das Wort!«

In einer der anonymen Flugschriften wird ganz offen zum Massenstreik aufgefordert, dann aber u. a. gesagt:

»Die Vertrauensmänner der Betriebe müssen an jedem Ort sofort zusammentreten und sich als Arbeiterrat konstituieren. Außerdem wird für jeden Betrieb ein leitender Ausschuß gewählt. Sorgt dafür, daß die Gewerkschaftsführer, die Regierungssozialisten und andere »Durchhalter« unter keinen Umständen in die Vertretungen gewählt werden. Heraus mit den Burschen aus den Arbeiterversammlungen! Diese Handlanger und freiwilligen Agenten der Regierung, diese Todfeinde des Massenstreiks haben unter den kämpfenden Arbeitern nichts zu suchen!«

Unser Eintritt ins Streikkomitee.

Am 28. Januar 1918 lief schon am frühen Morgen die Nachricht im Vorstand der Sozialdemokratischen Partei ein, daß in zahlreichen Berliner Betrieben die Arbeit niedergelegt worden sei. Es erschienen dann in schneller Folge Arbeiterdeputationen von Mitgliedern unserer Partei aus vielen Betrieben, die über die rasch um sich greifende Bewegung informierten und die Bitte aussprachen, daß der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Vertreter in die Streikleitung entsenden möge; das sei zweifellos für den guten Verlauf des Streiks, der auch nach ihrer Überzeugung notwendig geworden sei, von der größten Wichtigkeit.

Wir entgegneten, daß der Streik ohne irgendwelches Zutun der Partei oder der Gewerkschaften entstanden sei; die Arbeiter der vom Streik betroffenen Betriebe hätten bereits Delegierte entsandt, die sich zu einem »Arbeiterrat« konstituiert hätten, der eine Streikleitung gewählt und bestimmte politische Forderungen aufgestellt habe. Angesichts dieser Tatsachen könne uns niemand zumuten, nachträglich eine Verantwortung zu übernehmen.

Die Frage der Arbeiter, ob wir eine Delegation in die Streikleitung zu entsenden bereit sein würden, wenn die Delegiertenversammlung der Streikenden uns selbst darum ersuche, wurde nach eingehender Aussprache bejaht. Es kam für uns in Betracht, die Bewegung in geordneten Bahnen zu halten und so schnell als möglich durch Verhandlungen mit der Regierung geschlossen zum Abschluß zu bringen.

Daraufhin ging eine Kommission der bei uns vorstellig gewordenen Arbeitervertreter in die gerade tagende Versammlung der Delegierten, um zu beantragen, daß Vertreter der Sozialdemokratischen Partei in die Streikleitung eintreten sollten. Noch ehe sie ihren Antrag einbringen konnten, war bereits ein ähnlicher Antrag debattiert und mit 198 gegen 196 Stimmen abgelehnt worden. Die geringe Stimmendifferenz und der neue Antrag veranlaßten die Delegiertenversammlung, die Debatte von neuem aufzunehmen. Ein sozialdemokratischer Vertrauensmann begründete den Antrag in sachlicher Weise und fügte hinzu, daß der Parteivorstand bereit sein werde, eine Vertretung in die Streikleitung zu entsenden, falls die Versammlung entsprechend beschließe. Der Abg. Ledebour bekämpfte den Antrag in heftigster Weise. Er wurde aber häufig stürmisch unterbrochen. Nach den beiden Reden wurde die Debatte geschlossen. Die Abstimmung ergab nunmehr zirka 360 Stimmen für und nur etwa 40 gegen den Antrag.

In das Aktionskomitee der Delegiertenversammlung traten nun zu den bereits gewählten elf Arbeiterdelegierten und den drei (unabhängigen) Abgeordneten Dittmann, Haase und Ledebour, drei Mitglieder des sozialdemokratischen Parteivorstandes: Braun, Ebert, Scheidemann. Der Eintritt erfolgte unter der den Arbeiterdelegierten unserer Partei gegenüber ausgesprochenen Voraussetzung, daß das Aktionskomitee entsprechend der mittlerweile erfolgten großen Ausdehnung des Streiks erweitert, d. h. in paritätischem Sinne umgestaltet und eine nochmalige Beratung der bereits aufgestellten Forderungen ermöglicht werde.

Im Laufe des 29. Januar wurden alle Versammlungen, auch die der Delegierten der ausständigen Arbeiter, verboten. Das Aktionskomitee befaßte sich infolgedessen nach dem Eintritt der drei Sozialdemokraten, die zu den bereits aufgestellten Forderungen weder in sachlicher noch in formeller Beziehung irgendwie hatten Stellung nehmen können, sofort mit der Frage, wie eine Versammlung der Vertreter der streikenden Arbeiter zu ermöglichen sei. Ich wurde beauftragt, bei dem Staatssekretär des Innern, Wallraf, telephonisch um eine Unterredung zu ersuchen, in der man sich über das Versammlungsverbot und das Versammlungsrecht zu unterhalten wünschte, um den streikenden Arbeitern schnellstens die Möglichkeit zu verschaffen, Stellung zur gesamten Situation zu nehmen und Beschlüsse zu fassen. Ich sollte dem Staatssekretär mitteilen, daß die zu ihm zu entsendende Delegation aus je zwei Abgeordneten der beiden Fraktionen und fünf Arbeitern des Aktionskomitees bestehen sollte. Herr Wallraf antwortete telephonisch, daß er wohl die Abgeordneten zu empfangen bereit sei, nicht aber die Arbeiter aus dem Streikkomitee. Ich widersprach dieser Auffassung, erklärte mich aber bereit, dem Aktionskomitee davon Kenntnis zu geben und erwirkte das Einverständnis des Staatssekretärs, daß dieser sich für 12 Uhr mittags auf jeden Fall zu einer Aussprache bereithalten wollte, gleichviel ob eine Unterredung zustande komme oder nicht.

Das Aktionskomitee lehnte es ab, die Arbeiter ausschalten zu lassen, ließ aber dem Staatssekretär erneut sagen, daß um 12 Uhr zwei Abgeordnete (Haase und Scheidemann), sowie zwei Arbeiter zu ihm kommen würden, um ihm lediglich Mitteilungen über das Versammlungsverbot zu machen.

Als die Deputation im Reichsamt des Innern erschien, ließ ihr Herr Wallraf durch einen Diener erklären, daß er bereit sei, die Abgeordneten zu empfangen. Die Deputation erwiderte ihm durch den Diener, daß sie nur in der Lage sei, gemeinsam mit ihm zu verhandeln. Der Diener kam zurück mit der Bitte an die beiden Abgeordneten, in ein bestimmtes Zimmer zu treten, in dem sich Freiherr vom Stein und General Scheuch befanden. Herr Wallraf änderte seine Stellungnahme auch nicht, nachdem wir ihm unter Ausschaltung des Dieners durch den zufällig eintretenden Zentrumsabgeordneten Giesberts den Ernst der Situation hatten vortragen lassen. Schließlich schickte uns Herr Wallraf den Ministerialdirektor Dammann. Durch diesen ließen wir nach längerer Aussprache Herrn Wallraf noch einmal ausdrücklich sagen, daß die Deputation mit ihm nicht über politische Fragen verhandeln, sondern ihm nur Mitteilungen über die Wirkung des Versammlungsverbots machen wollte. Auch diese Verhandlungen blieben ohne Erfolg, da Herr Wallraf erneut sagen ließ, er könne nur mit den Abgeordneten sprechen, worauf diese antworteten, daß sie nicht in der Lage seien, mit dem Staatssekretär ohne Hinzuziehung der Arbeiter zu verhandeln.

Am 29. Januar – also am selben Tage, an dem unsere drei Genossen in den Ausschuß eingetreten waren – wurde den Mitgliedern des Aktionsausschusses ein Schreiben zur Unterschrift vorgelegt, das vom Oberkommando in den Marken an den Polizeipräsidenten gerichtet war. Dieses Schreiben hatte folgenden Wortlaut:

Nach Nr. 29 des »Vorwärts« vom 29. Januar ist zur Leitung des gegenwärtigen Ausstandes eine Streikleitung aus Delegierten der Streikenden und Vertretern der beiden sozialdemokratischen Parteien eingesetzt worden. Ich verbiete hiermit im Interesse der öffentlichen Sicherheit auf Grund des § 9b des Gesetzes über den Belagerungszustand jede weitere Zusammenkunft und jede weitere Betätigung dieser Streikleitung.

Euer Hochwohlgeboren wollen dieses unverzüglich den Mitgliedern der Streikleitung eröffnen unter Hinweis auf die Strafen des Belagerungsgesetzes. Zugleich spreche ich dasselbe Verbot hiermit gegen jede neue Vereinigung aus, die sich etwa zu weiterer Leitung des Ausstandes bilden sollte.

gez. Kessel.


Kriminalbeamte suchten alle Mitglieder der Streikleitung auf, um ihnen die Kesselsche Bekanntmachung und die darin erwähnten Strafparagraphen vorzulesen, sie außerdem aber zu zwingen, folgenden Schein zu unterzeichnen:

Ich bescheinige, daß mir diese Eröffnung heute vorgetragen ist.

(Datum.) (Unterschrift.)

Der nachmalige Reichspräsident als Verbrecher.

Ebert, der erste Reichspräsident, Bauer, der erste Reichskanzler und ich, der erste Ministerpräsident der deutschen Republik mußten also ein Jahr vor Übernahme unserer Ämter bestätigen, daß es uns wohl bekannt sei, eine wie schwere Strafe uns treffen würde, falls wir uns weiterhin an der Streikleitung beteiligten.

Am 30. Januar erschien auch der »Vorwärts« nicht, er war inzwischen verboten worden. Am gleichen Tage wurden die Bureaus des Gewerkschaftshauses geschlossen. Die Arbeiter durften sich also nicht versammeln, das Aktionskomitee war aufgelöst, das Organ der Arbeiter unterdrückt worden. Es bestand nach den unsinnigen Anordnungen der Behörden, besonders aber nach dem törichten Verhalten Wallrafs keinerlei Möglichkeit für die streikenden Arbeiter zu einer Verständigung. Es war niemand da, der sie hätte beraten können, ohne sich der angedrohten schweren Gefängnisstrafe auszusetzen, und auch das Arbeiterblatt war nicht in der Lage, auch nur ein Wort über die Bedeutung des Streiks zu sagen.

Die Folge war, daß die Arbeiter sich in großen Massen am 31. Januar auf den Straßen und Plätzen versammelten.

Ich werde von der Polizei mißhandelt.

Nachdem uns die Kriminalpolizisten die erwähnten Eröffnungen gemacht hatten, wurde ich auf Schritt und Tritt von Spitzeln verfolgt, so daß ich in den ersten Stunden nicht die Möglichkeit hatte, mich wieder mit den übrigen Mitgliedern der Streikleitung, denen es nicht besser als mir ergangen war, zusammenzukommen. In den Morgenstunden des 30. Januar aber waren wir bereits alle wieder versammelt, denn keiner hatte auch nur eine Minute lang daran gedacht, wegen der Drohungen mit dem Jahr Gefängnis die den Arbeitern gegenüber übernommene Pflicht irgendwie zu versäumen. Freilich mußten wir in Wirtshauskellern und Hinterzimmern versteckt gelegener Wirtshäuser zusammentreffen.

Am 31. Januar waren Hunderttausende Männer und Frauen, denen man verboten hatte, geordnete Versammlungen abzuhalten, auf der Straße. Wir hatten vereinbart, wo die Mitglieder der Streikleitung zu den Massen sprechen sollten. Der Abgeordnete Dittmann, der den Kollegen Ebert als Redner auf der gleichen Stelle abgelöst hatte, wurde verhaftet und, weil er zum Streik aufgefordert haben sollte, zu 5 Jahren Festungshaft verurteilt. Noch bevor ich die Stelle erreicht hatte, an der ich sprechen sollte, wurde ich von Schutzleuten in der rohesten Weise mißhandelt. Da alle übrigen Straßenpassanten – es handelte sich übrigens an der betreffenden Stelle nur um einen Trupp von 20 bis 25 Personen, der sich in bestimmter Richtung bewegte – geflohen waren, als plötzlich aus dem Nebel, der es zeitweilig unmöglich machte, auch nur drei Schritte weit zu sehen, eine Schutzmannkette auftauchte, die schreiend und drohend die Straße sperrte, stand ich den etwa zwanzig bis an die Zähne bewaffneten Helden ganz allein gegenüber. Ich wurde gepufft und in die Waden getreten, ohne den geringsten Anlaß dazu geboten zu haben. Wenn ich Widerstand geleistet hätte, würde ich verhaftet worden sein; wäre ich geflohen, so hätte man mich wahrscheinlich »auf der Flucht erschossen«. Das Verhalten der Schutzleute in jenen Tagen machte mir den Haß, der sich gegen die »Blauen« richtete, vollauf verständlich.

Die Rolle der Unabhängigen und die Borniertheit der Regierung.

Am Nachmittag des 31. Januar fand im Anschluß an eine Unterredung über Wirtschaftsfragen zwischen den Abgg. Schmidt-Berlin und Bauer-Breslau mit dem Staatssekretär von Stein auf Anregung des letzteren und im Einverständnis mit uns eine Aussprache zwischen dem Reichskanzler und den Abgeordneten Schmidt und Bauer statt, um eine Basis zu suchen, auf der Verhandlungen stattfinden könnten. Der Reichskanzler erklärte sich zu Verhandlungen bereit, wenn außer den Abgeordneten der beiden sozialdemokratischen Fraktionen die Generalkommission als Vertreterin der Gewerkschaften beteiligt werde. Es könnten dann auch noch gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, deren Beteiligung oder Nichtbeteiligung am Streik nicht nachgeprüft werden sollte, an den Verhandlungen teilnehmen. Von den Unabhängigen wurde jedes Hinzuziehen der Generalkommission strikte abgelehnt. Seitens der Beteiligten, die der Sozialdemokratischen Partei angehören, wurde gegen die Hinzuziehung nichts eingewendet, um eine Verhandlung unter Teilnahme einiger streikender Arbeiter zu ermöglichen.

Die lächerliche Prinzipienreiterei der Unabhängigen, unter keinen Umständen die Generalkommission zu beteiligen, machte den Abbruch des Streiks in der von uns gewünschten Weise, die aller Welt Achtung abringen, der Regierung aber Respekt vor der Arbeiterdisziplin einflößen sollte, leider unmöglich.

Es begann nun ein Hängen und Würgen, das wenig erbaulich war. Zu irgendwelchen Verhandlungen mit der Regierung mußte es aber kommen, wenn der Streik nicht sang- und klanglos zusammenbrechen sollte.

Es muß betont werden, daß die Generalkommission der Gewerkschaften ihre Neutralität gegenüber der Streikbewegung öffentlich erklärt hatte, da es sich offenkundig um einen politischen Streik handele. Einige Abgeordnete der beiden sozialdemokratischen Fraktionen kamen dann zu der Entschließung, dem Reichskanzler zunächst folgendes Telegramm zu senden:

»Unterzeichnete Abgeordnete und 5 Funktionäre der Gewerkschaftsorganisationen, die von den Streikenden als ihre Vertrauenspersonen bezeichnet worden sind, ersuchen, empfangen zu werden, zunächst zur Erörterung des Versammlungsrechts. Antwort an Abg. Ebert erbeten.

Ebert. Haase. Ledebour. Scheidemann.«

Nachdem dieser Vorschlag von der Regierung abgelehnt war, verständigten sich die Vertreter der Unabhängigen und der Sozialdemokratischen Partei schließlich noch dahin, dem Reichskanzler nunmehr vorzuschlagen, einer Verhandlungskommission in folgender Zusammensetzung zuzustimmen: Haase und Ledebour für die Unabhängigen, Ebert und Bauer für die Sozialdemokratische Partei, sowie drei gewerkschaftlich organisierte Arbeiter. Nach diesem Vorschlag wäre zwar die Generalkommission nicht offiziell, aber doch durch einen ihrer Vorsitzenden, der als sozialdemokratischer Abgeordneter an meine Stelle eintreten sollte, vertreten gewesen. Auch diesen Vorschlag hat der Reichskanzler nach mehrmaligen Verhandlungen zwischen Ebert und dem Unterstaatssekretär von Radowitz abgelehnt. Er bestand grundsätzlich darauf, nicht mit einer Vertretung der Streikleitung, sondern nur mit Vertretern der Partei und Gewerkschaften zu verhandeln. Deshalb müsse er dabei bleiben, daß die Generalkommission der Gewerkschaften offiziell bei den Verhandlungen vertreten sein müsse.

War die strikte Ablehnung einer Teilnahme der Generalkommission bei den Verhandlungen durch die Unabhängigen schon wenig verständig, so wurden wir noch mehr überrascht, als am gleichen Tage seitens des Abg. Haase eine Sitzung beim Reichskanzler angeregt wurde, an der nur Abgeordnete teilnehmen sollten. Freilich sollte diese Verhandlung nur den Zweck haben, eine Versammlung für die Betriebsdelegierten der streikenden Arbeiter möglich zu machen. Immerhin – das muß festgehalten werden: geordnete Verhandlungen über die gesamte Situation wären nach dem Vorschlag des Reichskanzlers möglich gewesen unter Teilnahme der Abgeordneten und der streikenden Arbeiter, wenn die Unabhängigen mit der Teilnahme der Generalkommission sich einverstanden erklärt hätten.

Mit den Abgeordneten zu sprechen, wie Haase gewünscht hatte, war der Reichskanzler bereit. An der Besprechung beim Reichskanzler nahmen teil: Reichskanzler v. Hertling, Vizekanzler v. Payer, Staatssekretär des Innern Wallraf, Preußischer Minister des Innern Drews; seitens der Abgeordneten: Haase und Ledebour, Ebert und ich. Haase führte aus: Es sei notwendig, den Arbeitern die Möglichkeit zu geben, ihre Delegierten zu versammeln, um die Frage zu erörtern, unter welchen Bedingungen der Streik beigelegt werden könne. Wie solle der Streik denn überhaupt abgeschlossen werden, wenn nicht ein Beschluß über die Beendigung des Streiks herbeigeführt werden könne? Eine andere Möglichkeit, den Streik zu beenden, gäbe es ja gar nicht.

Es kam dann zu einer eingehenden Besprechung über die Vorgeschichte und den Verlauf der Ausstandsbewegung. Das Endergebnis war folgendes: Die Regierung gab zu erkennen, daß sie bereit sei, dahin zu wirken, eine Versammlung der Delegierten zu ermöglichen, wenn die Abgeordneten die Garantie dafür übernehmen könnten, daß in dieser Versammlung lediglich die Beendigung des Streiks beschlossen werde. Da wir vier Abgeordneten eine solche Garantie natürlich nicht übernehmen konnten, ging auch diese Besprechung ergebnislos aus.

Überall und immer mit dem Kopfe durch die Wand – das ist die Taktik der Unabhängigen. Wo geschlossenes Vorgehen und eine einheitliche, klug abwägende Taktik am dringendsten notwendig ist, da verderben die Ledebour und Männer ähnlicher Veranlagung, deren Mund und Rechthaberei weitaus größer sind als ihre Erfahrungen in der Arbeiterbewegung, die Situation regelmäßig.

Der Streik war ein schwerer Schlag für die Regierung und die sogenannte Vaterlandspartei; er hätte aber mehr sein können, nämlich ein vernichtender Schlag.


Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei hatte sofort nach Ausbruch des Streiks den Parteiausschuß zusammenberufen, der am 30. Januar schon eingehend informiert werden konnte. Der Ausschuß nahm folgende Resolution einstimmig an:

I.

»Der Parteiausschuß stellt fest, daß sich die gegenwärtige Streikbewegung nicht gegen die Landesverteidigung richtet und nicht die Ziele eines feindlichen Imperialismus fördern will. Sie ist aus einer tiefen Mißstimmung entstanden, die durch die Ernährungsschwierigkeiten und den Druck des Belagerungszustandes hervorgerufen wurde. Das Treiben der Reaktion im preußischen Dreiklassenhaus, das auf die Verhinderung der preußischen Wahlreform gerichtet ist, das herausfordernde Auftreten der sogenannten Vaterlandspartei und die unklare Haltung der Regierung in der Friedensfrage haben diesen Stimmungsdruck verschärft. Da alle Ratschläge und Warnungen der Sozialdemokratischen Partei ungehört verhallten, wurde ein Ausbruch dieser Volksstimmung unvermeidlich.

Durch den Eintritt sozialdemokratischer Abgeordneter beider Fraktionen in die Streikleitung war die volle Gewähr dafür gegeben, die Bewegung in geordneten Bahnen zu halten und sie rasch, ohne Schädigung der Allgemeinheit zum Abschluß zu bringen. Voraussetzung war, daß die Regierung auf Gewaltmaßregeln verzichtete und Forderungen erfüllte, die von einer erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung als berechtigt anerkannt werden.

Statt diesen Weg zu gehen, hat die Regierung unter kleinlich-formalistischen Vorwänden Verhandlungen mit den Arbeitervertretern der Streikenden abgelehnt. Sie hat zugleich geduldet, daß ihr nachgeordnete Organe mit erbitternden Unterdrückungsmaßregeln gegen die Bewegung vorgingen. Das Versammlungsrecht wurde vollständig unterdrückt, der »Vorwärts« verboten, schließlich der gewählten Streikleitung jede Betätigung untersagt. Die Folge davon ist, daß sich der Streik explosionsartig auf immer neue Gruppen ausdehnt, und daß er auf immer neue Orte überspringt, jeder Regelung und Kontrolle entbehrend.

Die Verantwortung für diese Entwicklung der Dinge trifft jene Stellen, die sich vor Ausbruch des Streiks und während seiner Dauer beharrlich geweigert haben, die Stimme der Vernunft zu hören, und deren Politik offensichtlich auf die Erzwingung eines Macht- und Gewaltfriedens gegen die eigene Bevölkerung hinsteuert.

Die Sozialdemokratische Partei hat sich während des ganzen Krieges rückhaltlos zur Landesverteidigung bekannt. Die Landesverteidigung wird jedoch gefährdet durch die politische Einsichtslosigkeit derer, die den Krieg zu kriegverlängernden, vom Volke nicht gebilligten Zielen führen wollen, die dem Volk versprochenen Rechte verweigern und jeden Protest gegen einen immer unerträglicher werdenden Druck mit verstärktem Druck beantworten. Darum müssen sich heute alle Kräfte vereinigen, um eine Abkehr von dem verhängnisvollen Kurs herbeizuführen, im Interesse der Selbsterhaltung unseres Volkes und eines baldigen, gerechten Friedens.

II.

Der Parteiausschuß fordert die Reichsregierung auf, sich in eindeutiger Weise zu erklären:

1. für die ausgiebigere Lebensmittelversorgung durch Erfassung der Lebensmittelbestände bei den Erzeugern und in den Handelslagern zur gleichmäßigen Zuführung an alle Bevölkerungsklassen;

2. für ihre Bereitwilligkeit, schleunigst den Belagerungszustand aufzuheben; sofort aber alle, das Vereins- und Versammlungsrecht sowie die freie Meinungsäußerung durch die Presse einschränkenden Bestimmungen zu beseitigen;

3. für die Aufhebung der Militarisierung der Betriebe;

4. daß sie entschlossen ist, die schnellste Durchführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für Preußen mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu sichern;

5. daß sie bereit ist zu einem allgemeinen Frieden ohne offene oder verschleierte Annexionen und Kontributionen auf Grund des nach demokratischen Grundsätzen durchzuführenden Selbstbestimmungsrechts der Völker.«

Die Reichstagsfraktion hat die Stellungnahme der sozialdemokratischen Mitglieder der Streikleitung ebenfalls einstimmig gebilligt.

»In geordneten Bahnen.«

In der Entschließung des Parteiausschusses wird betont, daß es durch das Eintreten der sozialdemokratischen Mitglieder in die Streikleitung gelungen ist, die Bewegung in geordneten Bahnen zu halten. Das trifft tatsächlich zu. Als die ganze Borniertheit des alten Preußentums durch die Weigerung Wallrafs, Streikende zu empfangen, den deutschen Arbeitern wieder einmal drastisch vor Augen geführt worden war, bedurfte es der ganzen Kaltblütigkeit und sorgfältigsten Überlegung der in der Arbeiterbewegung aufgewachsenen sozialdemokratischen Mitglieder in der Streikleitung, um übereilte Beschlüsse zu verhüten. Es wurde damals schon in den Besprechungen im engsten Kreise die Lahmlegung der lebenswichtigen Betriebe angeregt, als Antwort auf die Hervorkehrung des Wallrafschen Herrenstandpunktes. Dagegen haben wir Sozialdemokraten uns mit aller Entschiedenheit gewandt, denn wir wollten nicht Greise, Kranke, Frauen und Kinder büßen lassen für den Unverstand des Herrn Wallraf. Wenn der Januarstreik nicht zu einer Katastrophe geführt hat, so ist das dem Verhalten der damaligen »Regierer« gewiß nicht zu danken.



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