Heinrich Schaumberger
Umsingen
Heinrich Schaumberger

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7.

»Ei Du Tausendsapperloter!« rief mir der Vetter entgegen, als ich am Morgen in das freundlich zusammengeräumte Stübchen trat. »Was sind das für Geschichten! Konntest Du es über das Herz bringen, Deine Base und mich so lange in Angst und Sorge zu lassen? Ei, ei, Karl! Ist eine gerechte Strafe, die Verwicklung, die Noth, in der ihr nun steckt. Hätte nicht ein Wort zu mir oder der Base all' den Lärm, die Thränen und den Unmuth verhütet? – Nun, laß nur gut sein, wollen uns freuen, daß wenigstens die Hauptsache so weit in Ordnung! – Komm', laß den Kaffee nicht kalt werden, und dann berichte, wie bei solch' einfacher, klarer Sachlage diese wunderlichen Verwicklungen eintreten konnten.«

Der Vetter schüttelte oft den Kopf während meines Berichtes. »Und was sagte nun Margareth zu all' dem?«

»Sie hatte nicht viel zu sagen. Am zweiten Feiertag wollte sie nicht mit mir tanzen, da sie Streit voraussah und mich, als Lehrer, davor bewahren wollte. Dann glaubte sie wirklich, ich habe mich von dem Schmidt als Boten brauchen lassen – das machte sie irr an meiner Liebe.«

»Wunderlich, wunderlich! Warum redete sie nicht offen mit Dir? Ich begreife das Mädchen nicht!«

»So fragte auch ich mehr denn einmal. Dann ward sie verlegen, das Wasser kam ihr in die Augen – zu sagen wußte sie nicht viel. ›Ich konnt' nicht – ich wollt' oft, aber ich konnt' nicht!‹ Dabei blieb sie!«

»O über euch Männer!« rief die Base. »Versteht ihr die Schüchternheit eines Mädchens so wenig? Laßt mir nur meine Margareth, ich begreife sie ganz und gar. Sie war 130 von je ein gar absonderlich Wesen, ganz anders als ihre Kameradschaft, so verzagt, so ängstlich, so schämig. Laßt sie nur, ich sag' selber, sie hat nicht anders gekonnt!«

»Ja, das wäre nun Alles recht und gut – was soll aber nun werden?«

»Komm' an mein Herz, Junge!« rief der Vetter und zog mich fest an sich. »Die schönste, liebste Hoffnung unseres Lebens ist erfüllt, in Friede und Freude können wir nun abscheiden, da wir noch das Glück unserer Kinder gesehen, nicht, Gertrud? Sind uns auch eigne Kinder versagt geblieben, der Himmel hat uns reich, überreich entschädigt! Mein lieber, lieber Karl, der Herrgott segne Dich und Deine Margareth. Reichlich hast Du vergolten, was wir an Dir gethan, stets warst Du ein gehorsamer, guter Sohn, hast uns viele, viele Freude bereitet, jetzt darf ich Dir's auch sagen: wir sind schon lange gar stolz auf Dich! – Du warst ein guter Sohn, darum wirst Du auch ein guter Hausvater, ein rechter Mann werden. Halte nur fest an Deinen Grundsätzen, bleibe Dir selbst getreu, gedenke auch als Mann der Lehren, die ich und Deine Mutter Dir mit auf den Lebensweg gaben – und – und Karl – vergiß auch uns nicht! – – 's ist schon gut, Junge, jetzt mache mich nicht vollends weich, wir kennen und verstehen uns ja! – Die Sorgen wegen den Wagnersleuten gib auf, es kostet ja nur ein Wort, und auch dort ist Alles in Ordnung. Am liebsten nähme ich freilich gleich jetzt meine Alte und Dich an die Hand, um droben auch das Leid in Freude zu verwandeln – aber so mit der Thüre in's Haus fallen, das schickt sich bei so ernster Sache doch nicht, und dann wäre mir's auch lieb, wenn Du gleich als ordentlicher Schulmeister um Deine 131 Margareth freitest. – Karl, ich habe einen Vorschlag! Du wirst zwar noch müde sein von den letzten Tagen her, aber ein rüstiger Bursche darf Müdigkeit gar nicht achten. Also meine ich, Du gehst heute gleich nach Blumenthal und kehrst morgen mit Deiner Vokation, die sicher nunmehr angekommen ist, zu uns zurück. Ich selber werde heute noch die Wagnersleute über den wahren Sachverhalt aufklären, sie vorbereiten, und morgen Abend feiern wir, will's Gott, eine fröhliche Verlobung!«

Wohl hätte ich Margareth gerne noch einmal gesehen und gesprochen, aber der Vorschlag des Vetters war so wohlgemeint und so klug – ohne mich lange zu besinnen, rüstete ich mich zum Marsch. Die gute Base machte Einwendungen, hätte mich so gerne im Haus behalten, gepflegt, sich meiner Anwesenheit erfreut, doch war auch sie zufrieden, als sie meinen Eifer sah. Rasch rüstete sie mir ein Essen, der gute Vetter selber brachte meine Stiefeln in Ordnung, um sie ganz wasserdicht zu machen – bald schritt ich durch Nebel und Wind rüstig dahin.

Ein wunderliches Wandern! Dichte, schwere Nebel lagen auf der Erde, verhüllten Berg und Thal, Wald und Wiese in einen grauen, undurchdringlichen Schleier. Die Bäume zur Seite des Weges tauchten zuerst wie gewaltige, schattenhafte Riesen aus dem wogenden Grau auf, selbst noch in nächster Nähe zeigten sie sich geheimnißvoll verhüllt. Gespenstisch huschten die Wanderer vorüber, ebenso schnell verschwindend, wie sie unerwartet auftauchten. Dagegen klangen die Schlittenglocken hell durch den Nebel, oft übertönt vom Peitschenknall oder Fluchen der Fuhrleute, und aus den 132 unsichtbaren Dörfern an den Thalrändern vernahm man das Gebell und Gekläff der Hofhunde.

War so recht ein Tag zu stiller Einkehr in sich selbst, zum Träumen und Sinnen. Eigenartige, wechselvolle Empfindungen bewegten mein Gemüth. Noch klangen mir die einfachen, und doch so anmuthigen Weisen der Umsinglieder in den Ohren, oft glaubte ich wirklich meine lieben Freunde, die Musikanten, um mich reden und lachen zu hören, ernste und heitere Erlebnisse der letzten Tage zogen an meinem inneren Auge vorüber und erweckten jenes Gefühl sehnsüchtiger Wehmuth, welches uns stets ergreift, wenn entschwundene glückliche Stunden so ernst an die Vergänglichkeit alles Irdischen mahnen. Aber doch ward diese Weichheit nicht zur herrschenden Stimmung. Ich liebte ja und ward wieder geliebt; eine heitere Zukunft voll Glück und Liebe hatte sich vor mir aufgethan, eine Zukunft, in der ich mich als Mann bewähren sollte, in der es galt, Hoffnungen zu erfüllen, durch Thaten der Welt und den Menschen zu nützen. Da konnte freilich die Trauer um vergangene schöne Tage nicht Stand halten, ein frischer, fröhlicher Lebensmuth quoll in mir auf, und aus tiefstem Herzen kam das Gelöbniß, Margareth glücklich zu machen und ein Mann zu sein allezeit!

In Blumenthal war meine Vokation wirklich eingetroffen. Der Freude über diese ehrenvolle Beförderung fehlte auch ein bitterer Tropfen nicht. Das Leid meiner guten Blumenthaler über meinen Verlust war so aufrichtig, ihre Liebe und Anhänglichkeit kam jetzt so herzlich, so warm hervor – ich mußte an mich halten, nicht selbst weich zu werden. Desto größere, ungetheiltere Freude erregte die Nachricht von meiner baldigen Verlobung, war doch gar 133 mancher Blumenthaler gut Freund mit dem bergheimer Wagnersjörgnikel.

Begreiflich hielt ich mich am nächsten Tag nicht länger, als unumgänglich nöthig war, in Blumenthal auf; mein Herz zog mich nach Bergheim. Wie vor acht Tagen am Weihnachtsheiligabend, wanderte ich heute durch dichtes Schneegestöber. Aber wie anders als vor acht Tagen! Was ich damals ersehnte, erstrebte, heute war es erreicht, all' mein Hoffen, wie überschwänglich hatte es sich erfüllt! Ich war so glücklich, so kindlich froh! Selbst der rieselnde Schnee vermehrte meine Freude; wie ich es als Knabe so oft gethan, rief ich in übermüthiger Lust: es schneit, es schneit! Auch ernste Gedanken blieben nicht aus; wie konnte es anders sein am letzten Tag eines scheidenden Jahres? Ward dieser Jahresschluß doch zu einem entscheidenden Wendepunkt für mein ganzes Leben! Allein aus dem Ernst quoll immer wieder siegreich die fröhlichste Hoffnung.

Erwartungsvoll rief mir der Vetter entgegen: »Junge, wie steht's?« Statt der Antwort legte ich ihm meine Vokation in die Hand, und der Vetter zog mich stürmisch an seine Brust mit den Worten: »Gott segne Dich, Junge! – Willkommen, Herr Kollege von Garnstett!«

»Setz' Dich und iß!« drängte die Base lächelnd, »wir wollen Margareth nicht unnöthig warten lassen!«

Lieber wäre ich allerdings sogleich nach dem Wagnershaus aufgebrochen, allein meine Betheuerungen, ich fühle ganz und gar keinen Hunger, wies die Base mit den Worten zurück: »Sei mir nur gleich still! Ein junger Magen ist immer hungrig, zumal nach solchem Marsch! Setz' Dich 134 nur an den Tisch, von Liebe ist noch Niemand satt geworden!«

Schon war im Wagnershaus Licht, als wir um Einlaß pochten. Die Wagnerschristel kam selbst, zu öffnen, in der weitgeöffneten Stubenthür stand der Hausherr und streckte mir die Hand entgegen – ich aber sah nur Margareth, das in holder Schüchternheit erglühende Mädchen. Willig ließ sie sich an meine Brust ziehen, zum ersten Mal verschlangen sich ihre Arme um meinen Hals. Und die Eltern blickten mit feuchten Augen auf uns, legten segnend die Hände auf uns und sagten: »Gott gebe seinen Segen zu eurem Vorhaben!«

Und nun gab es viel zu fragen, viel zu erzählen; dazwischen küßte ich Margareth, auch die Eltern konnten es nicht lassen, ihre Kinder immer und immer wieder zu umarmen, ihre Hände zu streicheln und zu drücken. Dabei kam eine große Wehmuth über die Mutter meiner Margareth; es fiel ihr plötzlich schwer auf's Herz, daß sie nun ihr einziges Kind verlieren sollte und laut weinend klagte sie: »Ach du liebste Zeit! – hat man das Mädle mit Angst und Sorgen groß gezogen, und meint nun, man will sich ihrer erfreuen, man hofft's leichter zu kriegen auf seine alten Tage: so muß man sie ganz von sich lassen, und 's ist nicht anders, als hätt' man kein Kind! Ach Du lieber Gott im hohen Himmel droben! Und wenn man nur wenigstens noch wüßt', wo sie einmal ihr Unterkommen fänd', das wär' doch noch ein Trost, aber so – –«

»Ei der Tausend! Hätt' ich doch das fast vergessen!« unterbrach der Vetter den Jammer der Mutter, holte meine 135 Vokation hervor und sagte: »Da, alter Freund, lies und dann beruhige die Mutter!«

Erstaunt entfaltete mein Schwiegervater das Papier, nahm seine Brille vor und studirte den Inhalt. Seine Hand begann zu zittern, mit großen Augen sah er bald den Vetter, bald mich an, dann faltete er das Papier sorgfältig zusammen, steckte seine Brille in das Futteral und sagte tief bewegt: »Alte, nun bist Du mir gleich ganz still und hörst mir auf zu barmen! – Denk' nur um's Himmels-Erdenswillen an – der Karl da – ha, sagt mir nur, ist's denn die Möglichkeit? – der Karl da – merk' auf, Alte– der Karl da ist wirklich und wahrhaftig ordentlicher Schulmeister von Garnstett!«

»Ach Du lieber Gott im hohen Himmel droben!« rief die Mutter und schlug die Hände zusammen. »'s wird doch nicht wahr sein? – Meine Margareth Schulmeisterin von Großgarnstett? – An mir zittert und springt Alles!«

»Ja ja, Alte, es ist so, da steht's schwarz auf weiß! Alte – wir wollen den Herrgott loben, der Alles so schön gefügt! – Dir aber, Herr Kanter, Dir dank' ich, daß Du davon vorher nichts sagtest, auch ohne die gute Stelle war mir Karl der liebste Schwiegersohn, und mußten die Kinder mit der Heirath noch ein paar Jahre warten, hätte das auch nichts geschadet. Nun ist ja freilich die Freude doppelt! – Meinetwegen können nun die Kinder Hochzeit machen, wann sie wollen, denn im großen Garnstetter Schulhaus wird es Karl auf die Länge allein nicht gefallen!«

»Ach du liebste Zeit!« rief die Mutter auf's Neue 136 erschreckt. »Das wird doch nicht gar so geschwind gehen. Wie soll ich der Margareth ihre Mitgab' zusammenbringen? – Und leer können wir doch um Alles in der Welt das Mädle nicht aus dem Haus lassen?«

»Sei still, Alte!« entgegnete der Vater. »Die Kanters wissen so gut wie ich und Du, daß die Mitgab' der Margareth seit Jahren fix und fertig in der Oberstube beisammen steht! – Geh' jetzt, trag' auf, mach' einen ordentlichen Kaffee! – Herr Gott! Ist Freierei und wir sitzen so trocken zusammen wie die Kirchenmäus'!«

Margareth wollte der Mutter helfen, die Base hielt sie zurück. »Bleib'! Heute gehörst Du Deinem Bräutigam, ich und Deine Mutter werden fertig werden ohne Dich!«

Der Johann mit seiner Dorthee trat ein und wünschte von Herzen Glück. Auch die Nachbarn fanden sich mit Weib und Kindern zusammen, um in gewohnter Weise die letzten Stunden des Jahres im Wagnershaus zu verleben. Groß war das Erstaunen, noch größer die Freude über diese unvermuthete Freierei. Für die Weiber war es von besonderer Wichtigkeit, daß das »Margarethle« Frau Schulmeisterin ward, gereichte doch dieß der ganzen Nachbarschaft zur Ehre. Sie wurden darum nicht müde, das Glück der Wagnersleute zu preisen, und das that der guten Alten gar wohl, wenn sie auch oft mit dem Schürzenzipfel nach den Augen fuhr und nur immer den Verlust des einzigen Kindes beklagte.

Das Geplauder der Nachbarn half überhaupt über die wehmüthige Stimmung hinweg, die bei so ernstem Ereigniß einer Verlobung in den letzten Stunden eines Jahres gewiß nicht ausgeblieben wäre. Der Schäferspeter, ein eisgraues, 137 zusammengeschrumpftes Männchen, dessen faltiges Gesicht wie ein leibhaftes Märlein in die Gegenwart blickte, wußte eine Menge Geschichten zu erzählen, wie sonst, in der guten alten Zeit, die Neujahrsnacht zu mancherlei unheimlichen Verrichtungen benützt wurde. So hatte sich einst sein eigener Vater in der letzten Stunde des Jahres unter einen nach Osten gerichteten Dachsparren gestellt. Nach wunderlichen Gebetsformeln und Zaubersprüchen that sich ihm wirklich die Zukunft auf. Feurige Zungen sah er aus den Dächern Bergheims gen Himmel schlagen, sich selbst erkannte er unter den Rettenden, Löschenden. Sein eigenes Häuschen blieb verschont. Während aber die verbrannten Häuser größer und schöner aus Schutt und Asche erstiegen, zog ein langer, langer Leichenzug vor sein Haus, und in dem Sarg, der auf die Bahre herausgetragen ward, lag er selbst, kalt und todt. Voll Schrecken sprang er unter dem Sparren hervor. Zum Glück schlug es eben auf dem Kirchthurm zwölf Uhr; hätte das nur noch eine Minute gedauert, wäre er auf ewig der Hölle verfallen gewesen. Von dem Augenblick war aber alle Freude von dem alten Schäfer genommen, er allein wußte ja, was dem Dorf und ihm selber bevorstand, und durfte doch um seiner Seelen Seligkeit willen mit keinem Menschen darüber reden. Im Frühjahr brach dann wirklich der große Brand aus, der halb Bergheim in Asche legte, und auf den Herbst starb auch der alte Schäfer. Auf dem Sterbebette entdeckte er seinem Sohn das unheimliche Neujahrsgesicht.

»Ja,« sagte der Wagnersjörgnikel, »man soll dem Herrgott nicht vorgreifen und sich nicht auf Dinge einlassen, 138 die über unsere Kräfte hinausgehen. Es ist immer ein Aber dabei!«

»Schad' ist's doch, daß die geheime Wissenschaft und Kunst so abkommt!« meinte dagegen der Schäfer. »Aber ist's ein Wunder? Die Welt ist zu verderbt, 's ist kein Glaube mehr unter den Leuten, darum haben sie auch keine Macht mehr über die andere Welt!«

»Ich weiß nicht, Peter, ob was Wahres an der Zauberei jemals gewesen ist,« entgegnete Jörgnikel. »Aber das weiß ich, es ist ein Glück, daß der Aberglaube immer mehr abkommt. Zu was Gutem hat er nie geführt, aber Elend und Plag' genug über die Menschen gebracht. Denkt nur an meinen Bruder, den Musikanten! Was war das für ein Staatsbursch und ein Kerl – vor dem Teufel hätte er sich nicht gefürchtet. Sitzen einmal die Musikanten am Weihnachtsheiligabend zusammen und reden auch von so dummen Geschichten. – Mein Bruder macht sich groß, lacht sie aus und glaubt nichts. Und zum Beweis, daß er sich wirklich nicht fürchtet, erbietet er sich, in selber Nacht um zwölf die Chortrompeten aus der Kirche zu holen. Zuerst ist er lustig, je näher aber die Stunde kommt, desto stiller und bleicher wird er. Die Kameraden mahnen selber, er soll den Gang lassen, vergeblich. Schlag Zwölf geht er in die Kirche. Richtig bringt er die Trompeten, aber kein Mensch erkennt ihn wieder, so verfallen und verstört sieht er aus. Von Stund' an hat er kein Sterbenswörtchen mehr geredet, Niemand hat erfahren, was ihm in der Kirche aufgestoßen ist – vier Wochen drauf war er todt!«

»Das ist ja ein klarer Beweis, daß es mehr gibt, als was wir mit unserem Verstand begreifen!« rief der Schäfer. 139 »Vergeblich ist Dein Bruder nicht verstummt, dem ist was Besonderes passirt!«

»Er hat gefrevelt und dafür ist er bestraft worden. Wenn er's auch leugnete, der Aberglaube steckte doch in ihm, mit Furcht und Zittern ging er in die Kirche; in seiner Angst, in der Dunkelheit, in der stillen Kirche mag er vor was erschrocken sein, was er bei ruhigem Blut nicht beachtet hätte. – Zuletzt war's eben doch der Aberglaube, der ihn in's Unglück brachte!«

»Das ist auch meine Meinung,« sagte der Vetter und drückte dem Wagner die Hand. »Wir wollen hoffen, daß der Aberglaube bald ganz verschwindet!«

Es war spät geworden, der Hausvater holte das Starkenbuch vom Sims, las ein schönes, kräftiges Gebet, und als der Kukuk der Schwarzwälderuhr den Beginn des neuen Jahres verkündete, drückten wir uns kräftig die Hände.

Aus allen Ecken und Enden krachten und knallten Schüsse, feierlich begannen die Glocken zu läuten und auf den Gassen ward es lebendig. Der Vetter, die Base und ich nahmen Abschied, Johann und seine Dorthee begleiteten uns zur Dorflinde. Dort war schon die halbe Gemeinde mit Laternen und Gesangbüchern versammelt, auch die Musikanten stellten sich mit ihren Instrumenten ein, wir bildeten einen großen Kreis, und brausend erklang der Gesang:

Nun laßt uns gehn und treten mit Singen und mit Beten
    Zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft gegeben.
Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern,
    Wir leben und gedeihen, vom alten bis zum neuen!
Denn wie von treuen Müttern in schweren Ungewittern
    Die Kindlein hier auf Erden mit Fleiß bewahret werden: 140
Gewiß so und nicht minder läßt Gott auch seine Kinder,
    Wenn Noth und Trübsal blitzen, in seinem Schooße sitzen.
Gelobt sei Deine Treue, die alle Morgen neue!
    Lob sei den starken Händen, die alles Herzleid wenden!
Laß ferner Dich erbitten, o Vater! und bleib' mitten
    In unserm Kreuz und Leiden die Quelle unsrer Freuden.
Schleuß zu die Jammerpforten und laß an allen Orten
    Nach manchem Blutvergießen die Freudenströme fließen.
Sei der Verlassnen Vater, der Irrenden Berather,
    Der Unversorgten Gabe, der Armen Gut und Habe.
Hilf gnädig allen Kranken, gib fröhliche Gedanken
    Den hochbetrübten Seelen, die sich mit Schwermuth quälen.
Und endlich, was das Meiste: füll' uns mit Deinem Geiste,
    Der uns hier herrlich ziere und dort zum Himmel führe.
Dieß Alles wollst Du geben, o meines Lebens Leben!
    Mir und der Christenschaare zum sel'gen neuen Jahre!

Fröhliche Bewegung durchlief die Versammlung, herzliches: »Prosit Neujahr!« tönte von allen Lippen; Freunde drückten sich stumm die Hände, Liebende blickten sich tiefer in die Augen. Aber auch an heiteren Zwischenfällen mangelte es nicht; kamen doch nicht wenige Nachbarn aus dem Wirthshaus, wo sie die letzten Stunden des Jahres benützt hatten, sich eine angemessene Begeisterung aus dem Bierglas zu holen. Tiefgerührt umarmten sie nun Alles, was ihnen in den Weg kam, und erschreckten durch ihre Zärtlichkeit manchen ernsten Hausvater, manches Mädchen nicht wenig. Nachdem der Gratulationssturm verbraust, zog das aus den Lichtstuben beigeströmte Jungvolk, begleitet von den meisten Nachbarn, die das herkömmliche Freibier nicht versäumen wollten, mit der Musik in das Wirthshaus, um mit Spiel und Tanz den Antritt des neuen Jahres zu feiern. Vetter und Base gingen mit den Alten heim, ich schloß mich an.

Am Neujahrsfest umdrängten mich die Choradstanten 141 und wünschten mir Glück zur Verlobung. Jeder hätte mir gern etwas besonderes Gutes und Schönes gesagt, leider gelang es nicht Allen. Die Wilden brachten es nur zu einem dumpfen Murren und Knurren, aber ihr warmer Händedruck, die freundlich blinzelnden Augen sagten genug. Bei der Kirchenmusik nickte mir mein Schwiegervater glücklich zu; auch Margareth war in der Kirche, aber heute störte sie meine Andacht nicht.

Nachmittags sammelten sich die Choradstanten zum letzten Mal in der Schule. Besonders sorgfältig wurden die Instrumente gestimmt, dann schlossen wir unter der blätterlosen Dorflinde einen weiten Kreis. Aus den Fenstern lugten freundliche Gesichter, auf der Gasse standen Männer und Weiber in dichten Gruppen, näher zu uns sammelten sich Burschen und Mädchen, die Kinder drängten sich fast in unsern Kreis – da gab der Vetter das Zeichen und nach kurzem Vorspiel erklang das Lied:

Dich preisen, Herr, Gesang und Lieder,
Aus allen Winkeln der Natur,
Und Erd' und Himmel tönt hernieder,
Nicht die geweihten Hallen nur:
Dein großer Tempel ist die Welt,
Ist jedes Herz, das Dir gefällt.
Doch reicher noch fließt uns Dein Segen,
Der auch den stillen Beter lohnt,
In Gnad' und Wahrheit hier entgegen,
Wo Deines Namens Ehre wohnt;
Wo Greis und Jüngling, Mann und Kind
Zu Deinem Ruhm versammelt sind;
Da, wo beseelt von gleichem Triebe
Ein Lobgesang den andern hebt,
Und Alles voll von Deiner Liebe
In einem Geiste lebt und webt: 142
– Hilf' unsre Herzen Dir zu weihn,
Dein Tempel überall zu sein.

Eine Pause, dann stimmte die Musik in vollen Aktorden an, und Alle, Greis und Jüngling, Mann und Kind, stimmten mit ein in den herrlichen Choral:

Nun danket Alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen.

Damit war nun das Umsingen beendet; »Abdanken« nannten die Bergheimer sinnig diesen schönen Schluß. Die Menge verlief still, die Musikanten kehrten ernst in die Schule zurück.

Das Umsingen war zu Ende, doch noch ein festlicher Abend erwartete uns: die Musikanten feierten heute ihren Jahrestag. Der Zimmerdick legte Rechnung über die Choradstantenkasse, deren geringe Einnahmen – Ausgaben kamen nicht vor – gerade hinreichten, eine Mahlzeit herzurichten und ein Fäßlein Bier aufzulegen. Heute waren der Vetter und ich Gäste der Musikanten, natürlich galt trotzdem der Vetter als Wirth.

Margareth half der Base beim Kochen. Ich und sie hatten viel gutmüthige Neckereien zu ertragen, oft eilte mein Bräutchen erglühend aus der Stube. Endlich meinte der Vetter: »Laßt's genug sein, ihr verschüchtert mir das Kind ganz und gar!«

Heiter saßen wir zusammen, mancherlei Scherz und Possen verkürzten die Zeit. Schon war es ziemlich spät, als zwei Greise in die Stube wankten, die wir aber, da die Gesichter nicht verhüllt waren, bald für den Schneidersnikel und Hansaden erkannten. Bald ward mir klar, daß Hansaden die Sprache des bergheimer Todtengräbers Hansnikel nachahmte und der Schneidersnikel dessen Freund, den 143 sulzdorfer Krackenjakel darstellte, so genannt, weil er weit und breit die Rabennester ausnahm und die jungen Vögel verzehrte.

Die Musikanten rückten unruhig auf ihren Stühlen umher, denn hinter diesem Scherz verbarg sich bitterer Ernst. Alle wußten, daß jetzt ein scharfes Gericht über sie ergehen würde. Zuerst beklagte sich der Pseudo-Todtengräber Hansnikel bitter, daß ihn Pfarrer und Schulmeister nicht zur Geistlichkeit rechneten, und beschwerte sich, daß ihm der Schulmeister das Obst aus dem Gottesacker nicht zulasse. Sodann ward dem Jungvolk, dem Schneidersheiner, Eckenpeter, Schülzle, Bergkasper und Mühljohann tüchtig der Kopf gewaschen, dann bekamen die Schwarzen ihr gehörig Theil. Zuletzt meinte Hansnikel: »He, Jakel, im Grund sind's doch gute, kreuzbrave Kerle, und geplagt sind sie auch genug von wegen den infamen Hornsolos. Hab' manchmal von Herzen Bedauerniß mit den armen Schluckern – denk' an: nicht einmal im Grab haben sie dereinst Ruhe!«

»Ha ja, wie denn?« fragte Jakel verwundert. »Meinst, der Gänskasper geht einmal als Gansert ohne Kopf um?«

Hansnikel: »Sua, sua? – Ha, warum denn nicht? – Aber ich mein' was Anders. Denk' an, wenn's einmal in der Kirch' oder auf dem Gottesacker heißt: Achtung! Nummer neunundvierzig! – da kann doch der Wille nicht anders, er muß im Grabe schreien: 's Dunnerwetter, nu hat m'r die Pasteten! Und der Gänskasper wird –an seinen 144 Sargdeckel klopfen und sagen: Paß auf, 's kömmt ein Solo! – Jakob, fall' ei'!«

Jakel: »Daß Dich –! Aber so ist's, kein Haar anders! – Hansnikel, die Schwarzen jammern mich selber, möcht' nicht in ihrer Haut stecken. Da hat's einmal der Hanshenner besser. Den stört nichts. Bei Hinzig schon darf der Himmel einfallen, er wacht deßwegen nicht vom Schlaf auf.«

Hansnikel: »Sua? – Der? – Der erst hat keine Ruh'! Ja, wenn er in seinem Bierkeller begraben würd' – nachher könnt's gehen!«

Jakel: »Ha, was Du sagst! – Hat er einen Schatz dort vergraben?«

Hansnikel: »Sua? – Der 'nen Schatz vergraben? Wo soll's bei ihm herkommen? – Trägt er nicht seinen Schatz im Gesicht rum? – Vergraben hat er nichts in seinem Keller, aber geholt hat er sich was! – Du wirst gar nicht glauben, wie viel heimliche saure Gäng' es ihm kostet hat, bis seine Nas' so schön verkupfert ist. – Drum kann er auch von dem Keller nicht lassen.«

Jakel: »Ha ja, das ist ihm auch am End' so arg nicht zu verdenken, der Hanshenner ist doch ein Mann, der weiß, warum und wozu! Dagegen der Hansaden! – sag' mir um tausend Gotteswillen, ist's wahr, daß er halb übergeschnappt ist?«

Hansnikel: »Sua, sua! – Mein erstes Wort! – Wer sagt das?«

Jakel: »Ich hab's vom Schneidersheiner. – Seit ihn die dammsbrücker Förstern ›Schönermann‹ geschimpft, soll er nimmer wissen, geht er auf dem Kopf oder den 145 Füßen. Und – 's ist nicht zu glauben! – er soll auch mit einer langen Pfeif' im Dorf herumstolziren!«

Hansnikel: »Sua, sua! – Pfff!! (dabei spuckte er heftig, ein Zeichen seines Zorns.) Vom ›Schönermann‹ weiß ich nichts! – Seine lange Pfeife, wen geht die was an? – Sua? – Pfff! – Hat der Zimmerdick vielleicht das Recht gepachtet, 'nen großen Hansen zu spielen? Pfff! – Darf der allein seine lange Tabakspfeife spazieren tragen? – Potz Blitz! Was der Zimmerdick kann, kann der Hansaden auch! Das sag' ich: Hansnikel Völker, Todtengräber und Calicant von Bergheim! – Sua!! – Pfff!! – Und was den Windbeutel, den Schneidersheiner betrifft, der darf gar's Maul halten; er soll nur dran denken, was die Leut' von seinem Alten, dem Igelsschneider, erzählen! – Pfff!!«

Jakel: »Ha ja! – Doch nichts Unrechtes?«

Hansnikel: »Sua? – Aber schön lautet's nicht! – Pfff!!«

Jakel: »Ha, Hansnikel, so red' doch! – Was wär's?«

Hansnikel: »Sua? – Kann's auch sagen, pfff! – Kömmt verwichen der Teufel, den Igelsschneider zu holen. Der aber, nicht faul, flunkert gleich so arg, daß der Teufel Maul und Augen aufreißt. Endlich schreit er: ›Ha Schwenselens auch nein, ich versteh' mich doch auch auf's Lügensagen – aber vor dem Igelsschneider besteh' ich nicht! – Den Kerl kann ich nicht brauchen, der brächt' mich um Ehr' und Kredit in der Höll', 's guckt mich zuletzt kein Teufele mehr an!‹ – Damit ist er zum Schlot 'naus und hätt' um ein Haar den Wasserfuchs mitgenommen!« 146

Jakel: »Ha ja! – Und warum hat er ihn nicht genommen? Das ist doch so 'n alter Hexenmeister?«

Hansnikel: »Sua? – Du Narr! Mit sammt seinem Hexenbuch ist der Wasserfuchs so dumm, daß es selber den Teufel gejammert hat!«

Die Schauspieler verließen rasch die Stube. Das Lachen, das ihnen nachtönte, kam doch nicht Allen aus dem Herzen; zwar das Poltern der Schwarzen wollte nichts besagen, allein Hanshenners und des Wasserfuchs Gesichter zeigten Spuren ernstlicher Verstimmung. Der Zimmerdick wendete das drohende Ungewitter, indem er den Verstimmten zeigte, wie kein Scherz ohne kleine Aergernisse abgehe, und wie Hansaden und Nikel Gerechtigkeit geübt und sich selbst nicht verschont hatten. Als die Beiden selbst zurückkehrten, war die Eintracht vollständig hergestellt, und einstimmig ward das gelungene »Stückle« gelobt.

Darnach begannen die Alten von der Vergangenheit zu reden, und wir Jungen horchten auf, als sie berichteten, wie früher, zu »ihrer Zeit«, das Umsingen noch ganz anders begangen wurde. Nicht fünf – acht bis zehn Tage dauerte es damals; keine vermögliche Familie ließ die Sänger unbewirthet vorüber ziehen, in manchem Dorf wurden sie Haus für Haus zur Einkehr geladen. Da war es freilich ein rechtes Volksfest gewesen, und die Klagen über einreißenden Verfall der schönen Sitte waren nur zu sehr begründet. Traurig nickten der Vetter und die Musikanten, als der Zimmerdick sagte: »Es ist nicht mehr wie sonst! Eines nach dem Andern kommt ab; auch das Umsingen wird kürzer und kürzer – zuletzt wird's gar aufhören! 147 Gott verhüt's! Soll's aber doch so sein – wenn's dann wenigstens besteht, so lang ich leb'!«

Einmal bei solchen Betrachtungen konnte es nicht fehlen, daß man auch der Freunde und Kameraden gedachte, die früher dem Choradstantenverein angehört hatten, und die nun schon schliefen im stillen Kämmerlein droben bei der Kirche. In dankbarer Liebe ward ihr Andenken erneuert und befestigt.

Es war recht still geworden in dem sonst so lebendigen Kreise, und je näher die Scheidestunde heranrückte, desto ernster wurden die Gesichter. Zuletzt füllte der Zimmerdick noch einmal alle Gläser bis zum Rand – das Fäßlein mußte seinen letzten Tropfen dazu hergeben – und sagte: »So wär' denn wieder ein Umsingen vorüber! Wer wird das nächste Mal noch dabei sein? – Unserm Herrn Kanter und der Frau Kantern sagen wir unsern schönsten Dank für die Bewirthung. So lange wir leben, wollen wir in rechten Treuen zusammenstehen und fröhlich zusammen umsingen. Das walte der liebe Gott! Und nun soll unser Herr Kanter und sein ganzes Haus leben – dreimal hoch!«

Hell klangen die Gläser zusammen. Bewegt entgegnete der Vetter: »Ich danke Euch von Herzen! Ja, in treuer, in alter Liebe wollen wir zusammenstehen, nur der Tod soll uns scheiden. Der bergheimer Kirchenchor soll gedeihen, blühen und wachsen, und über's Jahr ein neues, fröhliches Umsingen!«

»So soll's sein!« jubelten Alle. »Ueber's Jahr ein neues, fröhliches Umsingen!«

Der Vetter zog die Base an sich, Margareth verbarg 148 ihr erglühendes Gesicht an meiner Schulter, als ich begann: »Und weil ich unter euch, als Choradstant, meine liebe Braut gewonnen habe, lade ich euch Alle im Voraus auf meine Hochzeit! Da wollen wir in Fröhlichkeit der acht Tage, die wir zusammen verlebten, des schönen Umsingens gedenken!«

»Es gilt!« jubelten die Musikanten und zerdrückten mir fast die Hände. »Und wir wollen sorgen, daß es eine rechte, lustige Musikantenhochzeit wird! – Der Karl und seine Braut soll leben, vivat hoch!«

 


 


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