Heinrich Schaumberger
Umsingen
Heinrich Schaumberger

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An einem stürmischen Dezembernachmittag kurz vor Weihnachten saßen wir, eine Anzahl junger Lehrer, in der warmen Wirthsstube zu Ebenfelden so recht behaglich zusammen. Wie es unter Lehrern zu geschehen pflegt, lenkte sich unser Gespräch bald auf die Angelegenheiten unseres Standes; wir gedachten unserer Bestrebungen, Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft, auch die alten, leider immer neuen Klagen wurden laut. Bald fiel uns auf, daß unser lieber Freund, der alte Kantor von Ebenfelden, so schweigsam unter uns saß und, ganz in sich versunken, theilnahmlos in das Schneegestöber draußen starrte. Auf unsere Frage strich er langsam über Stirn und Augen, blies eine mächtige Rauchwolke hinaus und sagte: »Ihr habt Recht, ich war nicht bei der Sache. Das wilde Wetter und eure Gespräche brachten mich auf mancherlei Gedanken und erweckten Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen. Du lieber Himmel! – welche Veränderungen habe ich mit erlebt, wie ist es so ganz anders geworden, seit ich Lehrer bin! Ich kenne mich kaum selbst mehr, solche Wandlungen mußte ich durchmachen, und – und – nun ja! – in der neuen Welt, die um mich entstanden ist, fühle ich mich nicht heimisch, 2 ich komme mir oft recht einsam und verlassen vor. – Ja, ja, schüttelt nur die Köpfe! – Es mag Thorheit sein, so fest am Alten zu hängen, aber ich kann's nicht ändern, bei mir ist es nun einmal so.« Der alte Herr stärkte sich durch einen tiefen Zug, reichte sein leeres Glas dem Wirth und fuhr dann fort: »Ihr dürft mich nicht falsch verstehen. – Ich bin kein Feind des Fortschritts, erkenne gern das Gute an, wie und wo ich es finde, erfreue mich der Hebung unseres Standes, wie wir sie erlebt und noch erstreben, bin demnach keineswegs blind gegen die Vorzüge der Neuzeit – aber mein Herz gehört einmal der Vergangenheit, und ihr werdet mich darum nicht schelten.«

»Es waren freilich jammervolle Zustände, da die jungen Leute gleich nach der Konfirmation, ohne jede Vorbildung, wie sie eben aus der Volksschule kamen, als ›Präzeptoren‹ – welcher Titel etwa unserem ›provisorischer Lehrer‹ entsprechen mochte – auf die Dörfer geschickt wurden. Unbeirrt von grauer Theorie, unbelästigt von des Wissens Dunst und Qualm traten sie unter ihre Kinder, selbst noch halb Kind mochten sie nun zusehen, wie sie zurecht kamen. Hatten sie sich nach vielen verfehlten Versuchen einige Erfahrung in der edlen Kunst des Schulhaltens erworben, waren sie lange genug von Dörfchen zu Dörfchen im Lande herumgeworfen worden, so mit achtundzwanzig bis dreißig Jahren fanden sie endlich, wenn sie nicht vorher auf Abwege geriethen und zu Grunde gingen oder die Lust am Schulhalten verloren, eine feste Anstellung und ernteten nun als ›wirkliche Schulmeister‹ die Früchte ihrer Beharrlichkeit. Besondere Glückskinder erstiegen auch wohl die höchste Staffel schulmeisterlicher Ehren, bekamen zu allen übrigen Aemtern 3 und Würden noch den Titel ›Kantor‹ – der ihnen freilich nichts eintrug als Neid und Zorn der weniger begünstigten Kollegen. Auf welcher Stufe dieser Himmelsleiter aber auch der Lehrer stehen mochte, es war gesorgt, daß er nicht üppig, nicht übermüthig wurde; Bedrückung und Noth sind böse Lebensgefährten, und der Schulmeister ward sie nie los. Ich selbst habe noch diesen Weg durchlaufen, habe als Präzeptor unter den Leiden des ›Wandeltisches‹ geseufzt, als wirklicher Schulmeister Bedrückung von oben, Quälerei, bösen Willen von unten erduldet, und als Kantor harte Kämpfe bestehen, schwere Sorgen tragen müssen. Aber davon erzähle ich euch vielleicht ein andermal, heute beschäftigten meinen Geist nicht solche trübe Erinnerungen. – Ach, es war in alter Zeit auch gar schön; bei allen Leiden, allem Hunger und Kummer war unser Leben reich an Freuden, im Ganzen waren wir vielleicht glücklicher als ihr.

»Ihr seht mich erstaunt an? – Ja, es ist mein Ernst, und die Erklärung auch einfach genug. Wir Lehrer waren ein frisches, lebensfrohes Völkchen; für unsere bescheidenen Bedürfnisse reichte zur Noth unser Gehalt aus, und ging es einmal knapp her, nun so ertrugen wir auch das, ein leichter Sinn, ein zufriedenes Gemüth half über Vieles hinweg. Dazu waren wir noch nicht durch eine verfeinerte, erweiterte Bildung vom Volke getrennt, seine Freuden waren auch die unseren, wir nahmen herzhaft Theil an den Vergnügungen der Bauern und erschraken nicht vor einem derben Wort oder Witz. Die Kirmse war für uns das höchste Fest des Jahres; Hochzeiten, Taufen, Leichenschmäuse, Schlachtfeste, bei denen der Lehrer nie fehlen durfte, unterbrachen erfreulich die einförmigen Tage. Besonders einige 4 althergeorachte Ordnungen und Gebräuche, die, aus dem Volksleben herausgewachsen, ein gut Theil Volksgemüth, seine unverwüstliche Laune, seinen Humor, seine übersprudelnde Fröhlichkeit, zum Ausdruck brachten, wurden ein Trost in engen Verhältnissen, richteten den bedrückten Geist auf, machten das Herz frisch und fröhlich.

»So hatte zum Beispiel jede größere Pfarrei ihren Kirchenmusikchor, der unter der Leitung des Lehrers stand und durch Aufführung von Kirchenmusiken den Gottesdiensten an hohen Festtagen eine besondere Weihe geben sollte. Diese Chöre – mit Vorliebe Choradstanten-Institute genannt – waren in gleicher Weise der Stolz der Lehrer wie der Gemeinden und wurden so zu einem trefflichen Bindeglied zwischen Beiden. Dem Lehrer, dessen Tüchtigkeit damals fast allein nach seinen musikalischen Leistungen bemessen wurde, bot der Kirchenchor erwünschte Gelegenheit, seine Ehre, sein Ansehen zu vermehren; die Gemeinden dankten ihm jede Bemühung, lauschten mit Wonne den Aufführungen, und es störte nicht, wenn sie auch noch so unkirchlich klangen. Die Musikanten dagegen standen mit dem Volk in vielfachen, nahen Beziehungen. Sie geleiteten – natürlich wenn es bezahlt wurde! – den Säugling bei der Taufe zur Kirche, schritten dem Brautpaar auf dem Weg zum Altar voran und trugen bei Leichenbegängnissen durch jammervolle Arien zur Vermehrung der Wehmuth bei – wie mir denn eine alte Bäuerin einst versicherte: ›Die Leichenmusik heut war aber zu schön, Herr Kantor! das Heulen ist dabei gleich viel leichtlicher gangen!‹ Das war aber noch nicht die Hauptsache; ohne die Musikanten gab es gar kein wahres volles Vergnügen, bei Taufen und 5 Hochzeiten durften sie auch in den Häusern nicht fehlen, ohne ihre lustigen Tanzweisen war vollends die Kirmse gar nicht denkbar. Sie standen aber auch in allgemeiner Gunst, und vielleicht war das eine Ursache mit, daß die tüchtigsten Männer es sich zur Ehre rechneten, den Choradstanten anzugehören. Aus Liebe zur Musik trat wenigstens selten Jemand in den Verein – war es doch auf große musikalische Leistungen durchaus nicht abgesehen, zu den nöthigen Proben fehlte Zeit und Lust, dagegen entwickelte sich in ihrem Kreise eine frische Geselligkeit; stets guter Laune, immer aufgelegt zu Scherz und Possen, ging von ihnen mancher kernige Kraftspruch, manch' treffender Witz aus. Wir Lehrer standen mit den Choradstanten selbstverständlich in engster Verbindung; als Präzeptoren waren wir ihre Kollegen; rückten wir dann zu wirklichen Schulmeistern und Chordirektoren auf, so that dieß dem herzlichen Verhältniß keinen Eintrag, nach wie vor blieben wir Freunde und verlebten zusammen glückliche Stunden.

»Habe ich euch nun von einer schönen Einrichtung der Vorzeit berichtet, so darf ich auch eines lieben, sinnigen Gebrauches nicht vergessen, der eng mit dem Lehrerleben und Musikantentreiben verwachsen war. Am Weihnachtsfest zogen wir Lehrer mit vollem Chor durch die Pfarrei und sangen – vielleicht zur Erinnerung an den Engelsgesang zu Bethlehem – vor jedem Haus ein frommes Lied. – Dieses ›Umsingen‹, wie wir es nannten, von Haus aus freilich ein religiöser Gebrauch, wurde allerdings nicht immer mit dem rechten Ernst und der gehörigen Andacht vollführt, es mischte sich viel weltliche Lust und Fröhlichkeit hinein, aber gerade deßwegen wuchs es uns – Lehrern, Musikanten, 6 dem Volke – so recht in's Herz hinein, war es doch gerade so ein echtes Stück Volksleben.

»Die Choradstanteninstitute sind aufgelöst, das Umsingen ist abgeschafft, kaum noch hie und da lebt in einigen Greisen die Erinnerung an diese schönen, volksthümlichen Einrichtungen fort – in kurzer Zeit wird auch das letzte Gedächtniß daran verschwunden sein. Ich aber kann weder das Eine noch das Andere verschmerzen, empfinde bitter: wir Lehrer sind ärmer geworden und auch das Volk hat sich beraubt. Wenn ich dann das hastige, gemüthlose Treiben um mich betrachte, kommen mir ernste Zweifel, ob das jetzige Geschlecht im Stande sein wird, durch neue Schöpfungen das Alte, das es so pietätlos bei Seite warf, zu ersetzen – bis heute habe ich wenigstens keinen Anfang bemerken können. – – Seht, darum bin ich in der Gegenwart nicht mehr recht heimisch, fühle mich oft einsam und verlassen; und wenn nun Weihnachten naht und der Nordsturm um's Haus heult, dann erwacht Erinnerung auf Erinnerung – ich hoffe, ihr werdet mir diese Schwäche zuguthalten.«

Unsere Neugierde war rege geworden. Da und dort hatten wir vom Umsingen reden hören, ohne doch etwas Rechtes zu erfahren. Auf unsere Bitten, mehr zu berichten, lächelte der alte Herr: »Zu berichten ist allerdings nicht viel, macht es euch jedoch Vergnügen, will ich euch erzählen, was ich selbst auf einem bergheimer Umsingen vor langen Jahren erlebte. Ich thue es gern, ihr werdet mich um so besser verstehen, und dann ist besagtes Umsingen für mein ganzes Leben gar verhängnißvoll geworden.«

»Richtig, Herr Kantor!« fiel der alte, weißköpfige 7 Schultheiß ein, der bisher aufmerksam zugehört hatte und jetzt mit freundlichem »Verlaubt!« seinen Stuhl an unseren Tisch zog. »Richtig, auf einem bergheimer Umsingen habt Ihr ja – –«

»Stille, Alter, nichts verrathen!« fiel ihm der alte Herr in's Wort. »Voraus bemerken will ich, daß es wohl manchmal ein wenig wild unter den Choradstanten zugegangen sein mag; es dürfte auch nicht Alles zu loben sein, was ihr hören werdet – vergeßt aber nicht, es ist eben ein Stück heiteres Volksleben, das ich euch vorführen will. Trotz aller Streiche waren die Choradstanten durchweg ehrenhafte Männer.«

Wir rückten enger zusammen, auch die Nachbarn kamen näher; nachdem sich der Kantor durch einen Schluck gestärkt und seine Pfeife in Brand gesetzt hatte, begann er seine Erzählung.

 


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