Heinrich Schaumberger
Der Dorfkrieg
Heinrich Schaumberger

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War gar so nett, sauber und traulich das kleine Schneiderstübchen in Buchbach; da stand jedes Gerät an seinem rechten Platz, es war, als ob das alles sich von selbst so gemacht habe, als ob es gar nicht anders sein könne, als ob eine Unordnung, ein Stäubchen auf Tisch oder Fußboden gar nicht möglich sei, – und darin allein liegt ja der Zauber behaglicher Häuslichkeit. War dem Zipfelschneider wahrlich nicht zu verübeln, wenn er große Stücke auf seine Annekunnel hielt, wenn es ihm nirgends so gut gefiel als daheim in seinem kleinen Stübchen. Und das traulichste Eckchen hatte er sich noch für seinen Arbeitstisch ausgesucht. Im Fenster vor dem Tisch, von üppigen Weinranken halb verdeckt, blühten Monatsrosen, Nelken, Fuchsien, Kaktus und sogar eine Kalla, daneben an der Wand lärmte im großen, von breitblättrigem Efeu umrankten Käfig eine Brut Kanarienvögel; durch das Luftloch nahe der Decke spazierte eine Schwarzamsel aus einem Häuschen ins andere, pfiff bald im Freien, bald im Zimmer das Lied: Üb immer Treu und Redlichkeit, dazwischen zur Abwechslung wohl auch den Dessauer Marsch. Vor dem Fenster flatterte im Drahtbauer noch ein Stieglitz, ein zahmes Rotkehlchen huschte frei in der Stube herum, setzte sich wohl auch auf seines Meisters Zipfelkappe und sang leise zu seiner Arbeit. Auf dem Boden stellte ein Staar seine geometrischen Schnabelvermessungen an und geriet oft in heftigen Zorn über die behaglich unter dem Ofen schnurrende Katze. So war der Alte rings von fröhlichem Leben, Farben und Duft umgeben, und war doch auch wieder allein, konnte ungestört seinen Gedanken nachhängen.

Auch heute, am zweiten Kirmestag, saß der Alte auf seinem Arbeitstisch, aber lange nicht so ruhig, so heiter denn sonst. Die Abendsonnenstrahlen, die mit wechselnden Lichtern durch die 146 flüsternden Weinblätter ins Zimmer spielten, das Stübchen mit rosigem Glanz erfüllten, bemerkte er nicht, der Duft seiner Blumen, das lustige Leben und Treiben seiner Lieblinge schien ihn eher zu stören als zu erfreuen. Jetzt arbeitete er drauf los, als gelte es, heute noch ganz Buchbach zu bekleiden, doch als die Schwarzamsel droben die Melodie anstimmte:

Üb immer Treu und Redlichkeit
    bis an dein kühles Grab
und weiche keinen Finger breit
    von Gottes Wegen ab!

zuckte der Schneider heftig zusammen; plötzlich unterbrach er das eifrige Wichsen seines Fadens mit Wachs, nahm eine großmächtige Prise und verfiel in tiefes Sinnen. – War der Mann verändert, gealtert in diesen zwei Jahren! – Und nicht bloß gealtert! Die Stirne war höher geworden, das weiße Haar sehr dünn, zwischen den Augenbrauen lag eine tiefe, finstere Falte, die klaren, ehrlichen Augen lachten nicht mehr so fröhlich in die Welt, die Blicke waren tiefernst geworden. So saß er, hatte unwillkürlich das Kinn in die Hand gestützt, starrte sinnend durchs Weinlaub in die Weite. Da klang vom Wirtshaus eine lustige Tanzweise herauf, – der Alte fuhr zusammen, nahm wieder eine Prise, seufzte und begann noch hastiger zu sticheln denn zuvor.

Die Annekunnel trippelte unruhig um den Alten herum; sichtbar war sie bewegt; so oft Gottfried seufzte, hob sich unwillkürlich auch ihre Brust tiefer, feuchtete sich ihr Auge.

Vor zwei Jahren nach dem tollen Streich droben auf ihrem Acker war sie ja freilich sehr aufgebracht gewesen über ihren Alten, wie alle Buchbacher, Lindenbrunner, Windsberger und Grumbacher Frauen. Als dann die Gänge ins Gericht kein Ende nehmen wollten, die zu verbüßenden Strafen Gottfried oft wochenlang ins Gefängnis führten, die Sportelzettel sich jagten, stets größere Summen dem Haushalt entzogen, da meinte sie oft, Verzweiflung müsse über sie kommen; wirr und wild ward es ihr im Kopf, tagelang weinte sie, längst schon gönnte sie Gottfried kein gutes Wort mehr, mit bitteren Worten warf sie ihm das Unglück vor, das er über sie, über die Dörfer gebracht. Lange hatte sie es so getrieben, sich selbst tiefer und tiefer in Verbitterung und Unmut hineingehetzt. Erst spät fiel ihr auf das stille Wesen Gottfrieds, seine 147 Demut, seine Geduld, seine stets gleiche Freundlichkeit und Liebe, sein unermüdeter Fleiß. Oft saß der alte Mann bis nach Mitternacht hinter der Arbeit, jeglichen Genuß versagte er sich, und trotz aller Versäumnisse, aller außerordentlichen Ausgaben erhielt er den Haushalt ganz in der gewohnten Weise. Wie schämte sich Annekunnel ihres Unrechtes, wie bereute sie ihre Härte und Lieblosigkeit, als ihr die Augen völlig aufgingen! Sie suchte gut zu machen, und nun mußte sie oft weinen über die wahrhaft kindliche Dankbarkeit, mit der ihr Gottfried jede, auch die kleinste Freundlichkeit vergalt. Sie meinte ihren Alten erst jetzt recht kennen zu lernen, ihr Herz quoll über von Liebe, – mitten in Jammer, Not und Sorge erblühte den beiden einfachen Alten ein zweiter, herrlicher Liebesfrühling.

Und nicht bloß die Liebe ward stärker in Annekunnel. Jetzt beachtete sie erst den wunderbaren, schwermütigen Glanz der Augen, die Trauer, die dauernd seine sonst so heitere Stirne beschattete; jetzt erst bemerkte sie, daß er nie mehr den Ausdruck brauchte: ich bin ein Mann, der in die Welt paßt! Was mußte in ihm vorgegangen sein, bis er sich so veränderte! Was mußte er gelitten haben, daß er sich selbst so schwer strafte! Ein herzliches Mitleid quoll in ihr auf, zugleich bekam sie aber auch Respekt vor dem stillen Alten, und ihre größere Achtung vermehrte nur wieder ihre Liebe!

Aber so sehr ihr Gottfried ihre Teilnahme, ihre Fürsorge dankte, – erheitern, aufrichten konnte sie ihn nicht, er blieb still, in sich gekehrt, schweigsam; Annekunnel fürchtete im Ernst eine schleichende Krankheit. Sie hoffte, die Kirmes würde ihn zerstreuen, erheitern, allein auch diese Erwartung erfüllte sich nicht. Am ersten Kirmestag ging er in Geschäften über Land, heute arbeitete er »wie ein Feind« und schien wieder das Wirtshaus meiden zu wollen. Bekümmert trippelte sie um Gottfried, endlich legte sie ihre Hand auf seine Schulter und sagte. »Gottfried, laß doch wenigstens heute die Arbeit, 's ist ja zweiter Kirmestag. Guck, alle Nachbarn sind im Wirtshaus und machen sich vergnügt, – leg jetzt die Arbeit weg und geh auch unter Gesellschaft!«

Gottfried nahm eine mächtige Prise, schaute lange selbstvergessen durchs Fenster, dann sich besinnend sagte er leise. »Alte, – ich bleib daheim, ich gehör nicht dahin!«

»Das ist nun wieder eine Rede! – Gottfried, ich bitt dich, 148 tu mir's zulieb, gönn dir auch einmal 'ne Abwechslung, – geh 'nunter zu den Nachbarn!«

Kopfschüttelnd entgegnete der Schneider: »siehst du, Alte, das verstehst du nicht! Ich darf nicht und ich kann nicht, mein Gewissen leidet's nicht! – Rede mir nicht drein. Guck an: ich hab der Gerechtigkeit vorgegriffen, wollt mir selber helfen, da doch die Welt nicht bestehen könnte, macht's jeder so. Das ist eins. Zum andern hab ich mich auch noch mit den Windsberger und Grumbacher Nachbarn geprügelt, gleich als ob uns der Herrgott nicht einen Verstand gegeben hätte und die Gabe vernünftiger Rede. – Du weißt, was ich damit für Elend anrichtete! – Und statt in Ehrbarkeit und Würdigkeit mein Leben zu beschließen, bringe ich mich in Schmach und Schande, muß mich selber schämen vor meinen grauen Haaren! – Und wer so seine Menschlichkeit und Schuldigkeit vergißt, wer sich so herunterwürdigt, so zum Spott, zum Unsegen wird für eine ganze Gegend, der gehört nimmer ins Wirtshaus und nimmer unter lustige Menschen, punktum! – Red kein Wort dagegen!« Heftig schnupfte er und begann eifrig zu nähen.

Annekunnel kam das Wasser in die Augen, eifrig entgegnete sie. »so solltest du nicht reden, Gottfried, 's ist wahrhaft ein groß Unrecht von dir. Denk dran, in der Bibel heißt's: wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten. Du bist ein rechter Mann, das weiß ich, und das sag ich und dabei bleib ich! Und hast du dich einmal übereilt, so will ich sehen, wer dir deswegen so argen Vorwurf machen darf. Komm, Alterle, sei vernünftig, red nimmer so ängstliches Zeug. Nimm an, wenn jeder so dächt, 's wär ja gar aus auf der Welt, das Leben nimmer zu ertragen, kein Mensch dürfte mehr 'ne fröhliche Miene zeigen!«

»Eben das ist der Jammer, daß nicht ein jeder so denkt, daß man so leicht und so gern vergißt, was doch die Hauptsache ist im Leben,« entgegnete Gottfried eifrig. »O ja doch, wie viel Dummheiten blieben ungetan, wie viel Zorn und Feindschaft gäb's weniger in der Welt, wie viel Kummer und Not blieb aus, hielt der Mensch immer seine Pflicht und Schuldigkeit im Gedächtnis! –– Laß mich nur, Annekunnel! Du meinst's ja freilich gut, aber deine Worte gehen mir wie Messer durch und durch! Ich soll ins Wirtshaus, soll lustig sein, währenddem vielleicht der Bote schon 149 unterwegs ist mit der Nachricht: Ihr habt den Prozeß verspielt, während vielleicht schon die Amtsherrn die Hände nach unserm bißle Hab und Gut ausstrecken? – Annekunnel, mir will schier oft die Verzweiflung den Kopf gänzlich einnehmen! Was soll aus uns alten Leuten werden, wenn das Unglück seinen Willen hat und wir richtig verspielen? – – Geh, laß mich, ich muß arbeiten!«

Annekunnel kam das Wasser in die Augen. Sie setzte sich neben Gottfried auf den Schneiderstisch, legte ihren Kopf an seine Schulter, zog seine Hände schmeichelnd von der Arbeit weg und sagte: »nicht so, Gottfried, nicht so! Allzu ängstliches Sorgen ist auch vom Übel. Und verspielen wir und verlieren wir auch alles, wir wollen nicht verzagen, wenn wir noch beisammen sind. Wir werden gewiß nicht am Weg liegen bleiben, der alte getreue Herrgott, der uns noch niemalen verlassen hat, wird uns auch in der Armut zu finden wissen. Was auch kommt, Gottfried, ich verlaß dich nicht, und ich weiß, was du für ein Mann bist, und was ich an dir habe! – Dauern könnt mich unser Pat, der Heiner, im Grund ist der schlimmer dran als wir. Sein Glück ist dahin und er hat noch solch langes Leben vor sich! – Sieh, darum dürfen wir nicht so jammern: allzulang werden wir an unserem Unglück nicht schleppen, wir werden ja bald ein paar stille Kämmerlein finden und drin Ruhe und Frieden! Drum sei nicht so leidmütig; der Heiner ist ein junges Blut, er wird sich schon auch durchschlagen.– Komm, Alterle, tu mir's zulieb! – Guck, ich hab dir alles schon zurechtgelegt; komm, zieh dich an und geh 'nunter ins Wirtshaus!«

Gottfried nahm eine gewaltige Prise und riß heftig an seiner Nase. Plötzlich zog er Annekunnel fest an sich, gab ihr einen Kuß und sagte mit einer Stimme, der er vergebens Festigkeit zu geben suchte: »ich dank dir, Annekunnel, recht von Herzensgrund dank ich dir, und der Herrgott vergelt dir diese Reden. Du hast mir einen großen, großen Stein vom Herzen genommen! Vom Wirtshaus sei still, dort hab ich nichts zu suchen; ich brauch auch kein Wirtshaus, bei dir hab ich Glücks genug! – Geh, Annekunnel, mach 'ne richtige Brüh (Kaffee), wir wollen zusammen in der Stille unsere Kirmse feiern!«

Die Sonne war untergegangen, das unruhige Vogelvölkchen längst schon zur Ruhe gekommen, die Blumen dufteten stärker, und durch die Fenster leuchteten die Sterne in mildem Glanz herein. 150 Gottfried und Annekunnel saßen still zusammen, ihre Hände ruhten ineinander, ihre Blicke gingen nach oben, schauernd empfanden beide die Wunder des Sternenhimmels. Männerschritte weckten sie aus ihrem traumhaften Schauen, der Schulz mit einigen Nachbarn trat ein und bat den Zipfelschneider, mit ins Wirtshaus zu kommen. Der Alte lehnte ab, allein der Schulz sagte: »Gottfried, ich laß mich nicht abweisen. Kommt nur mit, die Nachbarn alle erwarten Euch, möchten sich mit Euch bereden von wegen der Geschichte mit den Windsbergern und Grumbachern!«

»Dann ist's meine Schuldigkeit und ich gehe,« entgegnete der Schneider mit einem Seufzer. Eilfertig trug ihm Annekunnel die neue Weste, Jacke und Mütze zu. Lange blickte sie den Männern nach, ihr war so wunderlich zu Mut, sie wußte selbst nicht wie; das Auge füllte sich mit Tränen, und im Herzen quoll es doch auf wie tröstliche Ahnung, beglückende Hoffnung.

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