Heinrich Schaumberger
Der Dorfkrieg
Heinrich Schaumberger

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So folgenreich und berühmt war noch keine Buchbacher Kirmes, überhaupt keine Kirmes in der ganzen Gegend geworden; nur schade, daß weder Folgen noch Ruhm erfreulich waren!

Schon am nächsten Tage liefen Klagen über Klagen im Amte ein. Der Gendarm brachte die Schlägerei im allgemeinen zur Anzeige, der Revierförster sah die eigenmächtige Entholzung der Waldparzelle ohne vorherige obrigkeitliche Erlaubnis als strafbaren Waldfrevel an und machte in diesem Sinne seine Eingabe. Der Windsberger Schulz verklagte den Zipfelschneider auf Diebstahl und die gesamte Buchbacher Gemeinde auf tätliche Unterstützung des Diebstahls, sowie auf Widersetzlichkeit gegen die Flurpolizei und Ortsobrigkeit, ferner den Lindenbrunner Schmied, seinen alten Gegner, auf Körperverletzung, und vom Schneidersheiner verlangte er Ersatz der zerrissenen Jacke und seiner Staatspfeife. Der Zipfelschneider dagegen wurde klagbar gegen die Windsberger und Grumbacher Gemeinde wegen gewaltsamen Überfalls und tätlich versuchter Vertreibung aus seinem Eigentum, gegen den Schulzen insbesondere wegen Ehrenkränkung, Beleidigung und offenbarer Bedrohung. Der Ursula verklagte den Döbrichslang und dieser den Friederslipp auf Körperverletzung, der Buchbacher Wirt die Gemeinde Windsberg auf Schadenersatz für das ruinierte Bierfaß samt Inhalt. Und so ging es fort, jeder einzelne war zugleich mehrmals Kläger und Angeklagter, auch die Bergheimer Musikanten gingen nicht leer aus.

129 In den Ämtern war man erstaunt, überrascht; die Geschichte nahm Verhältnisse an, welche die langjährigste amtliche Erfahrung bei weitem überstiegen. Die gewöhnlichen Kräfte reichten für die so unerwartet hereingebrochene Arbeitsflut nicht aus, man mußte um Unterstützung, Erweiterung des Personals bitten. Dadurch wurden jedoch die höheren Regierungskreise auf diese Begebenheiten aufmerksam; die rohen Exzesse erfüllten mit tiefem Mißbehagen, selbst der Fürst ließ seine Verstimmung, daß sogar unter seiner Regierung noch solche Ausschreitungen vorkommen konnten, den betreffenden Minister sehr deutlich fühlen, – und nun wurden alle Klappen an der Regierungs- und Verwaltungsmaschine geschlossen, man arbeitete mit Hochdruck! Verweise und allergnädigste Ausputzer strömten von oben nach unten; je weiter von seiner Quelle, desto mehr schwoll der Strom an, desto trüber und schmutziger wurden seine Fluten, bis sich an den Subalternen, den gehetzten Gendarmen, Gerichtsboten, den geplagten Schreibern der allerhöchste Unwille in Form von gröbsten Verwarnungen, Drohungen mit sofortiger Dienstentlassung ausließ. Dagegen kam eine wahre Papierflut von unten nach oben in Bewegung, nur mit umgekehrtem Erfolge. Je weiter nach oben, desto sparsamer flossen die Papierquellen, desto kürzer wurden die Berichte, Reklusionen und Rekriminationen, aber auch desto schärfer und zweischneidiger ihr Inhalt. Je mehr Hände die Schreiben durchliefen, desto klarer stellte sich heraus, wie alle Schuld an den bedauerlichen Vorkommnissen den untersten Hebeln der Regierung zur Last falle. – Eine neue Illustration zum alten Traum des weiland Nebukadnezar, ein neuer Beweis, wie auch heutzutage die kunstvollen Staatseinrichtungen auf tönernen Füßen stehen!

Dem Oberamtmann in X. war notifiziert worden, es sei höchsten Orts unangenehm aufgefallen, daß in seinem Gerichtsbezirke dergleichen Ungesetzlichkeiten noch vorkämen; man versehe sich von ihm, daß er dieser wunden Stelle seiner Verwaltung doppelte Aufmerksamkeit zuwenden, Ordnung und Ruhe baldmöglichst wieder herstellen, ähnlichen Vorkommnissen vorbeugen werde. Der Mann war alt, ehrenvoll im Dienste grau geworden und, wie er selbst gern aussprach, angesehen in Hofkreisen, ein Orden stand ihm in sicherer Aussicht, – nun mußte diese fatale Geschichte dazwischen kommen, seine Hoffnung vernichten, ihm im Alter 130 einen Verweis, – den ersten seit Jahren, – zuziehen. War es zu verwundern, daß der alte Herr außer sich geriet, durch seine Zornausbrüche das ganze Oberamt in Schrecken und Verwirrung brachte? – Noch am selben Tage ging ein Schreiben an den Amtmann von Schottendorf ab, dessen Inhalt kein Mensch erfuhr. War der Schrecken im Oberamt groß, so herrschte jetzt im Schottendorfer Amte das bleiche, zähneklappernde Entsetzen. Die Gendarmen und Amtsboten flogen wie Windhunde nach allen Himmelsgegenden davon, auch nicht einen Blick gönnten sie den einladenden Wirtshausschildern; die Zechbrüder, die freigebigen Gönner in den hellen Stuben winkten vergeblich. Fluchend rannten sie vorüber, ballten die Fäuste und keuchten: »wartet, ihr Millionenhunde, ihr dickköpfigen Bauernlümmel, euch will ich die Pelzwäsche eintränken, kujonieren will ich euch, daß ihr die himmelblaue Angst kriegt!« – Die Schreiber saßen mit krummen Rücken hinter ihren Akten, schrieben sich fast die Finger ab, wagten kaum zu atmen, kaum mit den Blicken nach ihren Kollegen zu telegraphieren. Ein Trost waren ihnen die endlosen Straferlasse und Verurteilungen, die sie heute auszufertigen hatten; je härter die Strafen ausfielen, desto schwungvoller gelangen ihnen die Anfangsschnörkel. Ein Bäuerlein, das schüchtern in die Schreibstube schlich, sich gegen ein Trinkgeld bei dem »Herrn Schreiber« einen Rat zu holen, ehe er sich an den gestrengen Herrn Amtmann wagte, brüllte der gereizte Schreiber so fürchterlich an, daß dem Bauer vor Schrecken Hut und Stock aus der Hand fiel, was dem Schreiber erwünschte weitere Gelegenheit gab, über die tölpelhafte Zudringlichkeit der unverschämten Bauernbengel loszuwettern. Ganz verdutzt schlich der Bauer aus der Tür und sagte zum Tiefenorter Schultheißen, der von einem Gendarm begleitet den halbdunkeln Gang herabkam: »'s ist heint schlecht Wetter droben, Vettermann, der Mist stinkt!« Damit machte er mit dem Daumen über die Schulter weg ein Zeichen nach der Schreibstube. – Achselzuckend entgegnete der Schultheiß: »Ja, ich hab's gespürt! Sind die Großen uneins, müssen die Kleinen Haare lassen! Weiß der Teufel, was dem Herrn Amtmann für eine Laus über die Leber gelaufen ist, – ich muß vierundzwanzig Stunden brummen und hab doch nur den Herrn Amtmann fragen wollen, ob wir unsere Kirmes nicht um acht Tage aufschieben dürfen!«

131 Das war der Beginn eines Sturmes, der den ganzen Amtsbezirk erschreckte, seine volle Wut aber gegen die vier streitenden Dörfer kehrte. Der Amtmann machte es sich zur Ehrensache, die Ordnung in allerkürzester Zeit herzustellen, zugleich den störrigen Sinn der Bauern für immer zu zähmen. Mit unnachsichtlicher Strenge schritt er gegen die Gesetzesübertreter ein, die härtesten Strafen verhängte er, Verordnung auf Verordnung, eine immer schärfer als die andere, wurde erlassen, den Dienern der Polizei die strengste Überwachung der Schuldigen zur Pflicht gemacht, – und ihr Eifer hätte dieses Spornes nicht bedurft; sie warteten ohnedies mit Ungeduld auf Gelegenheit, den Bauern die erfahrene Demütigung zu entgelten.

Schwere, schwere Zeiten kamen für die feindlichen Dörfer; die Gänge ins Gericht zu Verhören, Zeugenvernehmungen waren endlos, aus der notwendigsten Arbeit wurden Väter, Brüder, Knechte gerissen, um ihre Gefängnisstrafen zu verbüßen und keine Bitte um Nachsicht, um Aufschub der Strafe ward auch nur angehört. Die gefährlichsten Waffen der Regierung waren die Sportelzettel, die immer häufiger in die Häuser flatterten, immer größere Summen den Familien entzogen.

Bald hätte der Amtmann einsehen müssen, daß er zu gefährlichen Mitteln gegriffen, durch seine Härte das Übel gemehrt statt gemindert, würde ihn nicht eben der Zorn, die Verbitterung verblendet haben.

Keinem der Bestraften kam es in den Sinn, die Obrigkeit der Härte oder gar der Ungerechtigkeit zu beschuldigen, sie wußten, sie hatten sich vergangen und Strafe verdient. Allein die Härte der Strafen, statt sie zu demütigen und nachgiebig zu stimmen, vermehrte nur ihren Trotz und Haß. All das Ungemach, unter dem man seufzte, rechnete man den Gegnern zur Last; für jede Gefängnisstrafe, für jede neue Strafsumme schwur man dem Gegner doppelte Rache. Bald begnügte man sich nicht mehr mit persönlichen, mündlichen Verhandlungen, man übertrug die Prozeßführung den Advokaten. Damit trat die ganze Sache in ein neues Stadium. Die Verwicklungen wurden größer, auch den Ämtern entstanden mancherlei Verlegenheiten, – das erregte hier steigende Verstimmung bis in die höchsten Kreise, dort vermehrte es den Haß, die Rachsucht. Und während die Regierung zu immer 132 schärferen Mitteln griff, der Unordnung zu steuern, durchbrach die Erbitterung in den Dörfern alle Schranken. Die Schlägereien mehrten sich in erschreckender Weise, kaum ein Sonntag verlief ohne Zusammenstoß; noch betrübender waren die Spuren zunehmender Roheit, die Verwilderung der Gemüter. Schon waren gefährliche Verwundungen nicht mehr selten, schon begann man heimtückische Bosheit, schleichende Hinterlist zu fürchten. Längst war aller Verkehr zwischen den feindlichen Dörfern abgebrochen, die Wege vergrasten, in den Radspuren sonnten sich Eidechsen und Blindschleichen; Gevatterschaften waren gekündigt, Patengeschenke zurückgegeben, Brautschaften gelöst, – jetzt wagte man sich kaum mehr allein an die feindlichen Flurgrenzen. Dazu war der häusliche Friede in fast allen Familien untergraben; Zwietracht, Zank der Ehegatten, der Geschwister, der Eltern mit den Kindern vollendete das Unglück. Der Wohlstand ging zurück, Zucht und Sitte schwand; schon suchten viele Hausväter Trost im Trunk!

Die Ämter, – auch der Oberamtmann hatte sich persönlich der Sache angenommen, – taten ihre Pflicht immer eifriger, die Verordnungen hetzten einander, die Überwachung ward verschärft, die Gendarmerie des Bezirks verstärkt, zuletzt in die betreffenden Orte selbst verlegt, – alles umsonst. Der Trotz der Bevölkerung war durch Gewalt nicht zu brechen, ja der übermäßige Zwang rief neue Übel hervor, ohne die alten zu beseitigen. Die endlosen Strafen erbitterten endlich die Gemüter auch gegen die Obrigkeit; besonders die Gendarmen waren als Angeber verhaßt, – oft kehrte sich der Zorn gegen sie. Die Amtleute waren außer sich, der alte Oberamtmann wütete, und im Ernst trug er sich mit dem Gedanken, durch Militäreinlegung die rebellischen Ortschaften zu bändigen.

Der Dorfkrieg erregte Aufmerksamkeit in weiteren Kreisen; Nachbarregierungen fürchteten das böse Beispiel, glaubten dem Treiben nicht mehr gleichgültig zusehen zu dürfen; es kam zu ziemlich lebhaftem Notenwechsel, der den Fürsten um so tiefer verstimmen mußte, da er sich bisher auf seine patriarchalische Musterregierung viel zugute getan. Er verlangte genaue Darlegung der Sachlage, wie der bisher eingehaltenen Wege, – und ein vertraulicher Wink von auswärts war nicht verloren: der Fürst war entrüstet über die ganz unzeitgemäße Härte der 133 Regierungsmaßregeln. Der vortragende Minister ward sehr ungnädig angelassen, indem Seine Durchlaucht sich selbst fernere Anordnungen vorbehielten. – So hatte der vom Zipfelschneider in Buchbach begonnene Dorfkrieg fast zu einer Ministerkrisis geführt.

Allein der Minister wäre ein schlechter Politiker gewesen, hätte er sich von der allerhöchsten Sinnesänderung überraschen und aus dem Sattel heben lassen. Schon lange vor Eintritt der – erwarteten – Katastrophe hatte der gewandte Weltmann seine Maßregeln ergriffen und durch Gegenminen einer allzu gefährlichen Explosion vorgebeugt. Mit ungeheuchelter Befriedigung konnte er darum die neuen Ideen des Fürsten, der durch Milde und kluge Nachsicht Versöhnung der Gemüter verlangte, entgegennehmen, seinen ungeteilten enthusiastischen Beifall durch leise Andeutungen verstärken, wie er längst gefunden, der sonst außerordentlich verdiente, höchst achtungswerte Oberamtmann werde alt; seine leitenden Grundsätze seien aufrichtig gut gemeint, aber veraltet, ungenügend den neueren, vielfach schwierigeren Verhältnissen gegenüber. Schon lange habe er ausgesprochen, nur ein gründlicher Wechsel des Systems könne dem aufgeregten Landesteile die Ruhe wiedergeben, allein seine Ansicht sei im Staatsrate stets auf so heftigen Widerstand gestoßen, daß er damit nicht habe durchdringen können. Erfreut, solchem vollständigen Verständnis zu begegnen, gab der versöhnte Fürst dem überglücklichen Staatsmann das unzweideutigste Zeichen seiner wiedergewonnenen Huld und Gnade durch den Befehl, demnächst in einem Schriftstück das Weitere nachzuweisen, wie besagter Systemwechsel am besten, gründlichsten und schnellsten durchzuführen sei, ohne bewährten treuen Dienern des fürstlichen Hauses schmerzliche Demütigungen zu bereiten. Und als der Minister mit tiefer Verbeugung flüsterte: »Ich eile, Serenissimus das Memorial zu Füßen zu legen, das, schon lange vorbereitet und in der Stille vollendet, nur des Augenblicks harrte, da Seine Durchlaucht geruhen würden, einem treuen Diener zu gestatten, seine unmaßgeblichen Ansichten Allerhöchstdemselben zu eigener hoher Prüfung zu unterbreiten,« – da ging ein Leuchten über die Züge des energischen, raschen Monarchen, im Eifer geleitete er den Staatsmann selbst bis zur Türe des Kabinetts, und die Abschiedsworte, vernehmlich genug gesprochen, daß sie im Vorsaal gehört werden mußten, hatten augenblicklich 134 die Wirkung, daß alle Anwesenden vor dem stolz aufgerichtet Dahinschreitenden sich tiefer denn je beugten.

Ja, der Minister hatte einen vollständigen Sieg errungen, und in den höchsten Kreisen vollzog sich geräuschlos eine kleine Revolution. Der Staatsrat erfuhr eine teilweise Erneuerung, einige alte Gegner des Ministers wurden in ehrenvoller Anerkennung ihrer Verdienste aus dem Staatsdienst entlassen, ihre Stellen mit jüngeren, ergebeneren Persönlichkeiten besetzt und so der Einfluß des Ministers auf den Fürsten auch für die Zukunft gesichert. Der Oberamtmann ward zum Namenstag des Fürsten wirklich dekoriert, durch ein schmeichelhaftes Handschreiben des Fürsten geehrt, – vier Wochen darauf jedoch war er, – auf sein Ansuchen, – ebenfalls aus dem Staatsdienst in Gnaden entlassen. Der Amtmann von Schottendorf bekam keinen Orden, er ward in ein entlegenes Städtchen versetzt und ihm bedeutet, er möge dort versuchen, mit dem Geist der Zeit fortzuschreiten! Auch im niederen Gerichtspersonal traten mancherlei Veränderungen ein, für die Betreffenden wenig erfreulich; obendrein regnete es Verweise und Verwarnungen, auch an Drohungen ward nichts gespart.

Der Zipfelschneider ahnte nicht, welche tiefeinschneidenden, folgenreichen Bewegungen er hervorgerufen!

Der Systemwechsel trat nun wirklich ein, sowohl im Oberamt als auch in Schottendorf; seine Folgen zeigten sich bald, aber der erwartete Erfolg wollte nicht sogleich hervortreten. Gerade der plötzliche Umschwung in den Regierungskreisen, der unvermittelte Übergang von der härtesten, lieblosesten, rücksichtslosesten Strenge zur freundlichen Nachsicht, zur humanen, achtungsvolleren Behandlung des Irrenden rief neue, heftige Erregungen hervor. Man hielt die Milde der Regierung für Reue über früheres Unrecht, dies steigerte die Erbitterung; man legte sie für Schwäche aus, dies lockte zu neuen Ausschreitungen. Zum Glück für das Volk war die Regierung diesmal in der Wahl der beiden Oberbeamten wirklich glücklich gewesen. In ihrem Charakter vereinigte sich aufrichtiges Wohlwollen, wahre Herzensgüte mit sittlichem Ernst und unbeugsamer Willensfestigkeit. Nachsichtig, unermüdet in der Geduld gegen Irrende, griffen beide Amtmänner rücksichtslos durch, begegneten sie Bosheit oder üblem Willen. 135 Wohl machte ihnen das anfängliche Fehlschlagen ihrer Hoffnungen Schmerz, doch ließen sie sich nicht verbittern; ruhig, fest, unbewegt verfolgten sie ihren Weg, und bald zeigte sich die Wirkung ihrer Beharrlichkeit. Die erschreckten, verdüsterten Gemüter faßten Vertrauen zu den ernsten, würdigen Männern; allmählich gingen den Verbitterten die Augen auf über ihre törichte Verblendung, die langdauernde Spannung aller Leidenschaften wich einer physischen und moralischen Ermüdung, in den feindlichen Dorfschaften sehnte man sich nach Ruhe, Ordnung, Ausgleich und Frieden.

Die Beamten fanden einen Bundesgenossen an der öffentlichen Meinung, die sich zwar im Anfang selbst parteiisch geteilt, jetzt aber, da die Folgen immer betrübender hervortraten, scharf und bestimmt gegen den Unfug kehrte. Der harte Tadel, der sie von allen Seiten traf, machte die Streitenden stutzig, sie begannen ihre Handlungen in anderem Lichte zu sehen, – das vermehrte ihre Sehnsucht nach Frieden. – Dennoch kam es zu keiner Versöhnung.

Woran das lag? – Einfach an dem Windsberger Schulzen und am Zipfelschneider! Beide beharrten starrsinnig auf ihrem vermeintlichen Recht; von Vereinigung, von Vergleichen wollten sie nichts hören, nur nach völliger Unterwerfung des Gegners erklärten sie sich zu weiteren Verhandlungen bereit. Und die deutsche Treue bewährte sich hier wieder, wenn auch in böser Sache. Die Dorfschaften hatten nun einmal die Angelegenheit der beiden Gegner zu der ihren gemacht, und so standen sie auch noch da treu zu ihnen, wo sie an ihr Recht nicht mehr glauben konnten.

Doch dürfen wir dem Zipfelschneider nicht unrecht tun. Er war nicht grundsätzlicher Gegner eines Ausgleichs, ja er hatte selbst schon die Hand zum Frieden geboten, allerdings mit Bedingungen. Nicht vergebens jammerte er oft: »mein Häusle steht auf Papiergrund, ein paar Tropfen Tinte können es wegschwemmen mit all meinem Hab und Gut!« – Er war bereit, nachzugeben, wenn ihm der Schulz die Hälfte des strittigen Waldbodens einräume, dadurch wenigstens bedingt sein Recht anerkenne, die Ehre seines Namens wieder herstelle. Davon wollte jedoch der Schulz unter keiner Bedingung hören. Leider war er in die Hände eines Advokaten gefallen, der, ohne Gewissen, ohne Ehrgefühl, sein Amt 136 eben nur als milchende Kuh ansah, die Dummheit der Menschen verhöhnte und doch darauf spekulierte. Ohne Besinnen übernahm er jeden Prozeß, mochte er noch so ungerecht, noch so aussichtslos sein, – wenn er nur hoffen konnte, seinen Vorteil dabei zu finden. Hatte er aber einen zahlungsfähigen Klienten in den Klauen, den ließ er nicht los, bis er ihn ausgepreßt wie eine Zitrone. Durch rabulistische Kniffe und Pfiffe schob er die Entscheidung hinaus, trügerische Hoffnungen wußte er meisterhaft zu erregen und so die Spannung, die Streitsucht seines Klienten immer mehr zu steigern. Seine Opfer ließ er nicht zu Atem, nicht zur Besinnung kommen. War dann der Prozeß verloren und wollten ihn die Betrogenen an frühere Versprechungen und Zusagen erinnern, so lachte er sie aus und warf sie vor die Tür. So hatte er auch den Windsberger Schultheißen umgarnt und dachte nicht daran, ihn sobald loszulassen. Auf die Verheißungen seines Advokaten gestützt, pochte aber der Schulze immer trotziger auf sein Recht, verlangte unbedingte Unterwerfung, Übernahme sämtlicher Kosten vom Zipfelschneider und obendrein Schadenersatz für den zerstörten Fichtenbestand. Darauf konnte natürlich der Zipfelschneider nicht eingehen, und das hochfahrige, anmaßende Benehmen des Schulzen verdroß zuletzt auch die Buchbacher und Lindenbrunner; sie schlossen sich wieder fester an den Zipfelschneider, den sie jetzt selber zur Ausdauer mahnten. Die Windsberger, besonders die Grumbacher, waren schon lange nicht mehr mit dem Schulzen zufrieden, allein die schroffere Weise der feindlichen Nachbarn erschien ihnen wie eine Herausforderung; sie traten den alten Gegnern auch wieder trotziger entgegen, und so schien, entgegen aller Bemühung der Regierung, ein neuer Ausbruch des Kampfes unvermeidlich. Die Bestürzung in beiden Ämtern war groß; der Fürst verbarg seinen Unmut über das Mißlingen nicht, der Minister drängte in fieberhafter Hast zur Beendigung des Dorfkrieges, der nun schon zum zweiten Male seine Stellung bedrohte, und auch der Ehrgeiz der beiden wackern Amtleute erwachte. Aber umsonst verdoppelten sie ihre Bemühungen; vom Zipfelschneider, das sahen sie selbst ein, waren weitere Zugeständnisse nicht zu erwarten, auch nicht zu verlangen, und der Schulze behauptete halsstarrig seinen Sinn. Alle Warnungen und Mahnungen der Amtleute wies er trotzig ab; den Rat der Nachbarn und Freunde widerlegte er mit den Gründen seines Advokaten; die Tränen, den Harm, die Angst seiner Familie 137 übersah er. Oft klagte die Schulzin: »sagte ich's nicht, das Unglückshölzle frißt noch unser Hab und Gut auf? – Gott im hohen Himmel droben, was soll noch aus uns werden, kommt der Vater nicht zur Einsicht!«

So standen die Sachen, als schon das zweite Jahr seit dem Beginn des Dorfkrieges zu Ende ging. Mit schwerem Herzen wanderten die Bergheimer Musikanten nach Buchbach, dort zum Tanze aufzuspielen, – ach, ihnen war gar nicht kirmeslustig zu Mut!

Die Sonne stand schon tief. Ihre fast wagerecht einfallenden Strahlen verbreiteten in dem harzduftigen Kiefernwald auf der Windsberger Höhe eine wundersame Helle und durchleuchteten ihn bis in die entferntesten Winkel. Aus dem reizenden Gewirr von Licht und Schatten, – der ganze Wald mit seinen schlanken Stämmen, gitterartig ineinander verflochtenen Zweigen, dem Netzwerk der zartgegliederten Nadelbüsche glich einem durchsichtigen, goldgestrickten Gewebe, – hoben sich kräftig und farbenfrisch ab die rotangestrahlten Kiefernstämme, und die leise zitternden Nadelbüsche schimmerten und blitzten im grüngoldnen Lichte. Selbst auf den dürren, braunen Nadelleichen, die in dicker Schicht den Boden deckten, lag ein warmer, rötlicher Hauch, und die frischgrünen Heidelbeersträucher, die in üppiger Fülle da und dort aus dem Waldboden hervorquollen, glichen lichtglänzenden, goldgrünen Inselchen inmitten des dunklen Nadelmeeres. Kein Lüftchen regte sich; noch lag zitternd die Hitze des Mittags auf dem schmalen, tiefausgefahrenen Sandweg, der sich durch den Kiefernbestand schlängelte. Da und dort sonnte sich eine Blindschleiche in den durchglühten Radspuren, eine Eidechse schlüpfte spielend durch die rauhen blütenlosen Glieder der Heidesträucher, ein bescheidenes gelbes Waldblümchen, das einsam über den Wegrand hereinnickte, umsummte melancholisch eine Hummel, und eine Bachstelze wippte unermüdlich um einen kleinen Wassertümpel. Tiefe Stille! Nur zwei Raben zogen krächzend über den Wald und erschreckten die Bachstelze, daß sie eilig davonschwirrte; schallend klang von Zeit zu Zeit das Klopfen des Spechtes durch den Forst, und von fernher tönten klingend die Steinschlägel der Arbeiter im Sandsteinbruch. Sonst regte sich kein Leben, geheimnisvolles Schweigen brütete über dem einsamen Wald.

138 Doch nicht ganz einsam! Durch den tiefen, weichen, jeden Schall dämpfenden Sand schritt ein schlankes, frisches Mädchen, von Licht und Schatten abwechselnd umspielt, von Glanz umwoben, der sinkenden Sonne entgegen. Allein ihr Auge sah nichts von der Herrlichkeit ringsum, sie verhüllte das Gesicht in die Schürze, heftiges Schluchzen hob und senkte ihren Busen. Achtlos schritt sie dahin; doch plötzlich schrak sie darum so heftig zusammen, als es in den dichter stehenden Büschen rauschte und eine Männergestalt in den Weg sprang. Die Sonne blendete wohl das forschende Auge. Dennoch begann das Mädchen zu zittern, sie hatte den Harrenden erkannt. Ausweichen war unmöglich, – sollte sie vorwärts oder zurück? Endlich faßte sie einen Entschluß; trotzig preßte sie die roten Lippen zusammen, wischte hastig die Tränen aus den Augen, strich ihre Schürze glatt, blickte angelegentlich seitwärts und wollte an dem Wartenden vorbeihuschen. Allein dieser faßte ihre Hand, hielt sie trotz ihres Sträubens, – es war auch offenbar kein rechter Ernst in diesem Widerstand, – fest in beiden Händen und sagte weich: »Karline, ich lasse dich nicht, habe zu lange schon mit Schmerzen auf Gelegenheit gepaßt, mit dir allein zu sein; heute lasse ich dich nicht, ich muß wissen, wie ich mit dir daran bin; heute muß sich's entscheiden, ob du mich zu einem ganz elenden Menschen machen willst. Karline, zwei Jahre hab ich das Leid ertragen, – nun ertrage ich es nicht mehr, wenigstens so nicht mehr! Bleibst du fest auf deinem Sinn, – überreden will und mag ich dich nicht, dann ist's entschieden, ich wandere aus, gehe nach Amerika, vielleicht, daß ich dich in der Fremde vergesse!« Ein tiefer, gewaltsamer Seufzer sagte, wie wenig er seinen eigenen Worten glaubte. »Ja, Karline,« fuhr der Schneidersheiner nach einer Pause fort, »ich überrede dich nicht, aber sagen muß ich dir noch einmal, wie schwer mir's auf dem Herzen liegt, ehe wir, – für immer, – scheiden! – Ja, ich ertrag das Leben nicht mehr, die ganze Welt ist mir zur Last, ich will fort, weit, weit fort, damit ich wenigstens nicht sehe, wie ein anderer Bursch mit dir glücklich wird!«

Das Mädchen weinte und rang nach Atem; als Heiner keinen Blick erhaschen konnte, fuhr er seufzend fort. »ich halte mich nicht bei dem auf, was vergangen und nicht zu ändern ist. Meine tolle 139 Wildheit habe ich schwer genug gebüßt, das weiß Gott im Himmel, und was ich jetzt bin, mögen die zwei Jahre bezeugen, – reden die nicht für mich, ist ohnedies jedes Wort vergebens! – Im Anfang hab ich deinen – deinen Trotz noch am leichtesten getragen; ich meinte immer, so auf einen Schlag könne nicht alle Lieb aus und vorbei sein, – wenn's eben wahre Lieb gewesen ist, – und daran hab ich damals nicht gezweifelt. Du warst mir bös, das mit Recht, darüber durft ich nicht klagen. Ich trug auch deinen Verdruß mit Geduld, ja, ich muß dir schon sagen: daß du so herzhaft auftreten konntest und mir Ernst zeigtest, war mir gerade recht, ich hab Respekt vor dir 'kriegt, mit jedem Tag bist du mir werter 'worden. Ich meinte eben, im Grund deines Herzens müßtest du mir noch gut sein. Wenn sich auch ein groß Leid und ein traurig Unglück darüber gelegt, die Lieb sei doch nicht zu ersticken, nach und nach müsse wenigstens wieder ein Funkeln durchbrechen, und größer werden und größer, – bis, – ja bis eben die alte Gütigkeit wieder da sei. Darauf habe ich um so gewisser gehofft, da dir nicht verborgen geblieben sein kann, wie ich treu an dir festgehalten und mir Mühe gegeben habe, mich deiner wieder wert zu machen. Ja, das hab ich gehofft, lang, lang; aber es ist anders 'kommen, als ich gedacht, ganz anders! – Ich mach dir keinen Vorwurf, Karline, – du lieber Gott, wie dürft ich das, aber schwer ist mir das Leben geworden. Zuletzt sind mir auch Zweifel über dich gekommen, ich ward mißtrauisch auf dich und alle Welt, dacht: warum quälst du dich vergebens? Kann sie dich so leichthin aufgeben, warum sollst du sie nicht vergessen können? Nun wollte ich mir die Gedanken an dich aus dem Sinn schlagen, wollt mich bei andern Mädchen trösten, wieder lustig sein wie ehemals. – Hab das oft probiert, mußt aber immer spüren, daß das nimmer ging, der alte Schneidersheiner war eben fort und nimmer zu finden. Die Lustbarkeit tat mir weh, und saß ich bei den Mädlen, kam eine Angst über mich, daß ich aus der Welt hätte laufen mögen. Und ich konnt nicht und konnt nicht dich vergessen, bis heut nicht! Und nun habe ich die Musikanten heimlich verlassen, – 's ist so nicht viel Leben in Buchbach, – um dich zu treffen und noch einmal, – zum letztenmal, Karline, – ernstlich zu fragen, wie's werden soll in Zukunft zwischen uns. – Ich überrede dich nicht, Karline, aber sagen darf ich wohl, daß ich dir in Treuen zugetan bin und dich achten und in 140 Ehren halten wollte allezeit, nähmst du mich wieder an. So red du, – rund und klar: ja oder nein! – Hast du mich vergessen, werd ich dir nimmer zur Last fallen, – in acht Tagen bin ich weit, weit fort! –Red jetzt!«

Allein Karoline konnte nicht reden, sie verhüllte ihr Gesicht und weinte laut. Heiner hätte wohl erschrecken können, doch war ihm ein Trost, daß ihm das Mädchen seine Hand nicht entzog, ja seine Hand fest, heftig drückte. Wunderliche Gefühle durchfluteten ihn; wie helles Klingen und Singen die Ahnung des höchsten, seligsten Glückes, – daneben eine tiefe, schmerzliche Wehmut! Seine Augen wollten sich feuchten im doppelten Drang des Glückes und Leides, allein er bezwang sich, hielt männlich an sich. Keinen Versuch machte er, die Weinende zu trösten, drang nicht in sie um Entscheidung, – zwei Jahre hatte er sich gedulden müssen, sollte er jetzt um Minuten die Geduld verlieren? Stille schritt er neben dem holden Mädchen dahin, ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, nur ihre Hand, die noch in der seinen ruhte, streichelte er lind und leise. Endlich erhob das Mädchen den Kopf, blickte ihm mit den großen tränenvollen Augen fest, ehrlich ins Angesicht und sagte, oft von Schluchzen unterbrochen: »was ich zu sagen hab, ist wenig. Vergessen hab ich dich nicht, nicht einen Augenblick, und die Lieb ist auch bei mir gewachsen statt abzunehmen. War mir auch niemalen darum zutun, dich zu vergessen, nein, gewiß nicht! – Darfst mir's glauben, es hat mir schwer genug auf der Seel gelegen, wie du mir in jener Nacht vorwarfst, ich sei allzu hart! Das Wort ist mir überall nachgegangen, ich konnt's nicht loswerden, und doch auch nicht finden, wie ich hätte anders reden sollen! – Ja, danach hat mich deine Anhänglichkeit wohl gerührt, deine Rechtschaffenheit war mir auch ein Trost, – aber wie nun das Leid immer ärger über uns hereinbrach, wie der Jammer in den Dörfern kein End nehmen wollte, da bin ich nochmals über dich erzürnt, dir ernstlich bös 'worden und hab mir im stillen gelobt, dich nimmer anzuhören. Danach sind mir freilich wieder die Augen aufgegangen, ich hab eingesehen, daß dich nicht mehr Schuld trifft, als die andern auch, ja daß deiner Jugend eine Torheit wohl eher zu verzeihen ist, als den Männern in gesetzten Jahren! – Ist eben zu spät 'kommen die Einsicht! Und jetzt kann ich nichts sagen als das: ich hab dir 141 schwer Unrecht angetan, – nicht in jener Nacht, sondern erst danach, und darum bin ich deiner Liebe und Treue nimmer wert!«

Heiner atmete tief, – tief. Die Hand des Mädchens streichelte er längst nicht mehr, aber er hielt sie fester und fester. Plötzlich blieb er stehen, zog die Hand mit der Schürze von ihren Augen, hob ihr Gesicht empor und fragte leise: »hast du mir nichts mehr zu sagen, – wahrhaftig nichts mehr?«

»In Gottes Namen, – ich kann nicht anders! Such dir ein besseres Mädle, ich verdien's nicht, daß du mir gut bist!«

»Karline, – mein Herzensmädle,« sagte Heiner weich, und doch klang ein innerer Jubel aus den leisen Worten, und er konnte nicht hindern, daß sich nun doch seine Augen feuchteten. »Karline, – ist's möglich? – Ist's wahrhaft? Du bist mir nicht bös, – verachtest mich nicht, – – fürchtest dich wirklich nimmer vor mir und hast Vertrauen? ^ Karline, – Liebste, – sag, ist's auch wirklich so?«

Und diesmal brauchte er ihren Kopf nicht erst zu erheben, – sie selber schlang beide Arme um seinen Hals, drückte ihr Gesicht fest, fest an seine Brust und flüsterte: »ich kann nicht anders, – du bist mir das Liebste, das Werteste auf der Welt, – und wärst du fort 'gangen, wie hätte ich das Leben ertragen sollen?«

Tiefer sank die Sonne, der westliche Himmel glühte, und rosig angehauchte Wölkchen schwammen in dem Flammenmeer, – einzelne Liebesgedanken, Liebestaten, ruhend auf dem unendlichen, ewigen Meer der göttlichen Liebe! – Ein warmer, rötlicher Hauch lag auf den stattlichen, schönen Gestalten, als sie Hand in Hand weiterschritten. Herrlicher aber als alle Pracht des Himmels war der Glanz, der aus ihren klaren, treuen Augen leuchtete. Ein Blick in diese Augen war ein Blick in das verglühende Abendrot vergangener Schmerzen und bleibender Sorgen vor dunkler Zukunft; es war aber auch ein Blick in das klarste Morgenrot hoffender Liebe, gegründet auf erprobte Treue, sittliche Bewährung. Und welch wundersames Leben war in beiden Gemütern erwacht! Wie ein linder Mairegen alle Knospen sprengt, tausend Keime und Blüten aus dem Boden lockt, daß nun plötzlich die Welt eine andere geworden ist, so reich, so herrlich, voller Farben, Duft, Licht und Leben, – so in den Herzen der Liebenden, die jahrelang nach dem befreienden, erquickenden Maienregen eines erlösenden Wortes 142 geschmachtet. Der Frühling war da, aber noch trotzte auf den Höhen der Winter im kalten Schneerock, und die Sonne drohte nur allzubald wieder zu verschwinden hinter fahlgrauer Wolkenmasse, die schon einzelne Wind- und Hagelschauer hinabsendete in die blühenden Täler. »Ja, Karline,« sagte Heiner und ließ den Kopf sinken, »das Herz möchte einem zerspringen bei dem Jammer in den Dörfern, und das Schlimmste bleibt, daß noch lange kein Ende abzusehen ist. Du weißt, Liebste, wie schwer ich trage, daß ich mich an deinem Vater vergriff, – eigentlich dürft ich um deswillen kein Wort mehr sagen. Allein ich kann dir doch nicht verschweigen, Karline: dein Vater hat eine Verantwortung auf sich geladen, die ich nicht um alle Schätze der Welt tragen möchte. Dein Vater ganz allein ist's, der die Feindschaft in die Länge zieht; an ihm allein liegt es, wenn nicht Ruhe und Ordnung wird, alles Schlimme, was noch geschieht, fällt allein ihm zur Last. Und das fremde Elend ist's nicht allein, was mich bekümmert; ach, es ist ja kein Zweifel, durch seinen Starrsinn schadet er sich selber am meisten, durch seinen unvernünftigen Trotz wird er sich und seine Kinder noch ins Elend rennen. Du warst in der Stadt, – wie steht's bei euch?«

»Schlecht, Heiner,« rief das Mädchen im neu ausbrechenden Jammer. »Schlimmer wie schlimm! Zwar der Advokat tröstet gut und verspricht das Beste, aber ich traue ihm nicht, das ist kein aufrichtiger, ehrlicher Mensch. Der Oberamtmann sagt das auch, hat erst heute wieder gewarnt vor den Advokaten. – Ach Gott, die Angst hat mich schon fast umgebracht, auf dem ganzen Weg ist mir noch kein Auge trocken geworden. Mit uns steht's schlimm, arg schlimm! Denke nur, der Herr Oberamtmann fragt, ob der Vater noch gar nicht andern Sinns geworden, und wie ich das Weinen nicht zurückhalten kann, sagt er wohl dreimal so vor sich hin: ›armes, armes Kind!‹ Wie ich ihn danach aufs Gewissen frage, wie's mit unserem Prozeß steht, zuckt er die Achseln und sagt: ›vorausbestimmen kann ich auch nichts, die Entscheidung ist noch allzufern, aber gut steht die Sache Ihres Vaters nicht, das ist gewiß. Und gibt er nicht noch beizeiten nach, vergleicht er sich nicht mit dem Gottfried Wunderlich, so kann es ja wohl sein, daß er jenen zugrunde richtet, aber Ihr Vater ist dann auch ein ruinierter Mann.‹ – Wie ich darauf mich nicht mehr halten kann und auf einen Stuhl sinke, sagte er wieder: ›armes, armes Kind! 143 – Ja, ich darf Ihnen nicht verhehlen, man ist bis in die Hauptstadt, ja im Schloß sehr ungehalten über Ihren Vater, besonders seit er den Vorschlag der Regierung, daß ihm nach einem gütlichen Vergleich mit dem Wunderlich alle Gerichtskosten erlassen werden sollten, – seit er diesen Vorschlag barsch abgewiesen hat, ist man sehr erbittert, und auf Nachsicht von unserer Seite hat er nicht mehr zu rechnen. – – Versuchen Sie noch einmal, was Sie können, Karoline, es wäre ein gutes Werk, brächten Sie Ihren Vater zur Vernunft, – ein Glück wäre es für Ihre Familie und für die vier Dörfer. Bringen Sie ihn zum Nachgeben, so will ich es durchsetzen, daß ihm dennoch die Gerichtskosten erlassen werden, ja ich verspreche meinen Beistand gegen den Advokaten, dem wir bald einmal auf die Finger klopfen werden, daß auch seine Rechnungen nicht gar zu übermäßig ausfallen. – Aber bald muß das geschehen, Karoline, bald, sonst kann ich nichts mehr tun. Sparen Sie keine Mühe, bedenken Sie, es handelt sich um Ihr Vermögen. Sollte der Schneider Wunderlich den Prozeß gewinnen, was mir sehr wahrscheinlich dünkt, – dann ist Ihr Vater ein verlorner Mann!‹ – So der Amtmann; nun denk dir meine Angst, meine Verzweiflung!«

»Schlimm, schlimm,« seufzte Heiner. »Und hast du Hoffnung, daß du deinen Vater umwenden wirst?«

»Keine! Da ist jedes Wort verloren!«

»Gott im Himmel, – ist's erlaubt, daß eines Menschen Unverstand solches Unheil anrichtet? – Ist's nicht, als müßte man mit Fäusten dazwischenschlagen?«

»Ja, 's ist eine schwere Prüfung, die uns der Herrgott auferlegt,« schluchzte das Mädchen. »Es handelt sich nicht allein um Armut, uns droht noch ganz anderes Elend! Schon ist der Vater fast nicht mehr zu kennen, so hat er sich verändert; tage- und nächtelang liegt er in den Wirtshäusern; kommt er dann mit wüstem Kopfe heim, so ist nichts als Fluchen und Schelten von ihm zu vernehmen. Schon will kein Dienstbote mehr bei uns bleiben, und die Arbeit bleibt liegen. – O Gott, was soll noch aus uns werden? Armut und Schande sind uns gewiß, – wer weiß, was es mit dem Vater noch für ein Ende nimmt! – Heiner, hilf! – Hilf mir, der Mutter, den Geschwistern! – Verlaß uns nicht, Heiner, hilf uns, all mein Lebtag will ich dir's danken, dir's vergelten durch – –«

144 »Still doch,« unterbrach sie der Jüngling. »Passen sich solche Bitten für dich und mich? – Meinst nicht, daß mir selber das Herz weh tut, daß ich was anders drum gäbe, könnte ich euch beistehen? Wäre damit nicht zugleich uns selber geholfen? – – Aber was anfangen, was tun? – Bei dem Zipfelschneider ist nichts zu machen, der kann nicht weiter nachgeben, – also bleibt bloß dein Vater! – Wie kommt man an ihn? – Mit Gründen ist nichts ausgerichtet, – vielleicht mit Schrecken? – – Hm, hm! Wenn wir deinem Vater auf irgend eine Art die Höll recht heiß machten, ihn gründlich in Angst jagten, das könnte eine Hilfe sein! – Wie meinst du?«

»Ich glaub das selber! Aber wie willst du das anfangen?«

»Ja, wenn ich das wüßt? – Ohne List geht das nicht ab, denn mit Wahrheit und Aufrichtigkeit ist deinem Vater nicht beizukommen! – Hm, hm, starker Tabak müßt das gleich sein, und natürlich dürft's nicht 'rauskommen, denn merkt er was vor der Zeit, ist alles verloren! – – Hm, hm, wie macht man das doch, fällt mir gar nichts ein? – Halt, das ging! – Karline, soll ich was wagen?«

»In Gottes Namen, ich bin nicht dagegen, wenn's den Vater nicht verunehrt; es bleibt uns nichts übrig,« seufzte Karoline, deren Blicke erwartungsvoll an Heiners Mienen hingen. »Rede, –was hast du vor?«

»Laß mich, – 's ist nur ein Gedanke, weiß selber nicht recht, wo es hinaus will. Aber geschehen muß etwas und das bald, – laß nur, dringe nicht in mich, es ist auch besser, du kannst mit gutem Gewissen sagen, du habest um nichts gewußt. – Laß nur, – und jetzt wollen wir scheiden, die Geschichte geht mir arg im Kopf herum, überdies wäre es schlimm, würden wir von Windsbergern zusammen gesehen. – Karline, ich dank dir aus Herzensgrund, daß du mich nicht verstoßen. Ich bin in Wahrheit schon ein ganz anderer Mensch; ich meine auch, nachdem wir uns geeinigt, müsse auch alles wieder in Richtung kommen! – Sei nicht gar so ängstlich, Karline, ich weiß gewiß, es wird sich machen und dann, ach, Karline, um mich dreht sich die ganze Welt, denk ich dran, daß du vielleicht schon bald im Buchbacher Schneidershäusle deinen eigenen Haushalt führen wirst. – Behüt dich Gott, du mein herztausiger Schatz, behüt dich Gott, – und denk an mich!«

145 Noch einmal flammte die untergehende Sonne auf und übergoß mit einem Glutstrom das Paar, das sich fest umschlungen hielt. Sie sank, von Bergheim tönte die Abendglocke herüber, im Tal wogten weiße Nebelflöckchen auf. Sanft machte sich das Mädchen los; mit gefalteten Händen und überfließenden Augen blickte sie dem Davoneilenden nach, lauschte noch lange auf seine verhallenden Schritte.

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