Heinrich Schaumberger
Der Dorfkrieg
Heinrich Schaumberger

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Auch im Wirtshaus wollte die rechte Kirmeslust nicht wiederkehren. Die Windsberger und Grumbacher Gäste fehlten ganz, und die Lücke in der Gesellschaft ward schmerzlich empfunden, erinnerte stets aufs neue an die traurigen Vorgänge dieses Morgens. In fast allen Häusern Buchbachs hatte es infolge des Kampfes stark gewittert, man munkelte, da und dort habe es sogar eingeschlagen, und das seien nicht etwa kalte Schläge gewesen. Viele Nachbarn waren ebenfalls daheim geblieben, die übrigen saßen schweigsam hinter ihren Biergläsern, hatten ihre Not mit den zudringlichen Fliegen und sannen, was nun wohl aus der Geschichte werden würde.

Merkwürdig leer war der Tanzsaal; ältere Frauen sah man gar nicht. Nur wenige Paare tanzten, Bursche und Mädchen standen in Gruppen beisammen, besprachen sich eifrig und hielten Rat, wie man sich der unausbleiblichen Angriffe der Windsberger und Grumbacher erwehren oder sie einmal gründlich überwältigen könne. Manches Herz erzitterte bei diesen Besprechungen, manches Auge füllte sich mit Tränen, denn gar viele zarte Fäden, die die Herzen hier mit anderen in den nun feindlichen Dorfschaften verknüpften, waren durch die heutige Schlacht zerrissen, oder drohten zu zerreißen, kamen die finsteren Pläne zur Ausführung!

Verwirrung, Zerwürfnis, Kummer und Sorge überall! Auch 115 droben auf dem Orchester unter den sonst so lustigen, leichtlebigen Gesellen saßen breit und behaglich der Kummer und die Sorge; fest saßen die unholden Gesellen unter den Musikanten, dämpften den fröhlichen Mut, verwandelten das Bier in bittere Galle. Nicht leugnen konnten die Musikanten: die Verwirrung, der Haß in den Dorfschaften war zum guten Teil ihr Werk, und all die Folgen, wie schlimm sie immer sein mochten, sie kamen ganz und ungemindert auch über sie. Sie waren ja freilich eigentlich hier fremd, – Bergheim war ihre Heimat, allein in Todfeindschaft stand Windsberg und Grumbach gegen sie, jede Verbindung von dorther mit ihnen war abgebrochen, und das war ein schwerer Schlag! Denn nicht nur, daß ihnen forthin alle Tänze und Kirmsen in Windsberg und Grumbach entgingen und damit ein schöner Verdienst, – die Musikanten waren durchweg Handwerker, schwer traf sie der unausbleibliche Verlust aller Kundschaft in beiden wohlhabenden Dörfern. Grund genug zu Sorgen und trüben Betrachtungen, selbst wenn nicht noch die Gefahr gedroht hätte, daß sie in alle künftigen Händel der streitenden Ortschaften verwickelt, ja gegebenen Falls von den erbitterten Windsbergern und Grumbachern für ihre Beteiligung am Kampf besonders abgestraft werden würden. Der Schneidershannikel saß trübselig neben seinem Bruder, dem Gänskasper, und nickte traurig, wenn dieser weitläufig auseinandersetzte, wie er alles habe kommen sehen, allein seine Warnung habe ja niemand beachtet. »Ja, ja, Hannikel,« seufzte er, »Gäns und Holz ist ja freilich zweierlei, – wir werden's auch spüren!«

Am tiefsten niedergebeugt war der Schneidersheiner. Eine fast unerträgliche Angst peinigte ihn; nur mit Aufbietung aller Kräfte bezwang er sich so weit, daß er wenigstens notdürftig seine Pflicht erfüllen konnte. Auch er hatte am Tag, wie sein Pate, die Schwere seiner Tat minder gefühlt, nicht Zeit zum Nachdenken gehabt, dann aber besonders für den Abend auf ein Zusammentreffen mit der Windsberger Schulzenkaroline gehofft, – eine Besprechung konnte ja doch vielleicht zu einer Verständigung führen. Allein das Mädchen kam nicht, wie er es hätte voraussehen müssen, wäre nicht eben die menschliche Natur so geartet, daß sie nur allzu gern glaubt, was sie wünscht. Den Heiner schlug das Scheitern seiner letzten Hoffnung völlig nieder, und es half ihm nichts, daß er sich jetzt 116 die Grundlosigkeit derselben klar machte. Schwere Zweifel peinigten ihn. War Karoline auf Befehl des Vaters daheim geblieben, dann durfte er wenigstens hoffen, daß sie ihn noch nicht gänzlich aufgegeben, wenn sie auch, wie natürlich, schwer zürnte. Hatte sie sich aber freiwillig den Besuch der Kirmse versagt, dann war alles verloren und er unglücklich fürs Leben.

Der sonst so ausgelassene, lustige Geselle, der sich der Gegenwart erfreute, ohne viel an die Zukunft zu denken, war wie umgewandelt. Nicht allein der drohende, fast gewisse Verlust des geliebten Mädchens ängstigte ihn, es gab auch sonst noch Sorgen genug. Er wußte seit langem, daß er dereinst seine kinderlosen Patenleute beerben sollte, darauf gründeten sich all seine Aussichten für die Zukunft. Nun aber kam dieser heillose Prozeß mit dem Windsberger Schulzen dazwischen und drohte all seine Hoffnungen zu vernichten. Verlor der Zipfelschneider den Prozeß, so konnte leicht der Fall eintreten, daß sein ganzes Vermögen nicht hinreichte, die Gerichtskosten zu decken, und dann war auch er ein Bettler. Gewann aber der Zipfelschneider, so war ihm wohl ein Vermögen gesichert, aber Karoline, das liebe, treue Mädchen, desto sicherer verloren. – Und was nützte ihm Hab und Gut ohne das Mädchen, welches sein ganzes Herz erfüllte? – Ach, und nun hatte er heute zum Niederschlagen des Holzes geraten, hatte sich tätlich an dem Vater seines Schatzes vergriffen, – das war zu viel des Elends auf einmal. Heiner erfuhr an sich, daß es in Wirklichkeit Zustände geben kann, bei denen den Betroffenen die Welt zu enge werden möchte.

Er dankte Gott, als früher denn gewöhnlich der Tanzsaal leer wurde, und die Planbursche Feierabend geboten. Statt mit dem Bergkasper noch einmal in sein altes Quartier zurückzukehren, ging er einsam durch taufeuchte Wiesen, über welche zarte, weiße Nebelstreifen hinzogen, nach Sülzdorf heim. Welch ein Abstand zwischen gestern und heute! Tief seufzend suchte er sein Lager; allein wie seinen Paten, floh auch ihn der Schlummer, erst gegen Morgen fiel er in unruhige Träume. Heftiges Rütteln weckte ihn. Geblendet von der strahlenden Morgensonne, schloß er wieder die Augen; stärker ward das Rütteln und seine Mutter zankte: »ja, tu nur die Augen zu! – Es ist auch die Schande groß, der Sonne also ins Gesicht zu schlafen!«

»Laßt mich in Frieden,« murrte Heiner verdrießlich und legte 117 sich auf die andere Seite. »'s ist vierter Kirmestag heut, der ist zum Ausschlafen auf der Welt!«

»Wenn man dich hört, könnte man fast meinen, es wäre so,« rief die Mutter. »Und doch sind die vierten Kirmestage der Untergang aller Musikanten! Ausruhen heißt's, ausschlafen, – ich hab's auch gedacht! Nun erst recht geht das wilde Leben an, und am fünften Tag sind die Männer weniger nütz als vorher am vierten!«

»Weiß gar nicht, warum Ihr mir das vorrückt? Ist's der Dank, daß ich allein zu rechter Zeit heim bin?«

»Hört doch solchen Schlingel! – Du darfst mir nur noch rund kommen, dann red ich erst anders! Gleich stehst du auf und gehst an die Arbeit, – drei volle Tage sind ohnedies verloren!«

»So? – Ja das ist freilich schlimm! Da will ich mich gleich auf die Beine machen und will sie wieder suchen!« Und ohne das Schelten der erzürnten Frau zu beachten, warf er sich in die Kleider und ging davon.

Heiner ging nicht aus unkindlichem Trotz oder Lieblosigkeit, wie die Schneiderin weinend klagte; er war stets ein guter Sohn gewesen und besonders der Mutter von Herzen ergeben. Aber heute konnte er nicht gehorchen, auch nicht reden, so weh es ihm der Mutter wegen tat.

Buchbach hatte er verlassen, um den Gesprächen über die Windsberger Geschichte zu entgehen. Noch wußte zwar die Mutter nichts von den gestrigen Vorfällen, aber lange konnten sie ihr nicht mehr verborgen bleiben, und dann war er aus dem Regen in die Traufe gekommen. Und was sollte er ihr entgegnen, der klugen, scharfblickenden Frau? Wie sich entschuldigen, wie verteidigen? Beides, das empfand er sofort, war hier gleich unmöglich; und ihre Schelte, ihren Jammer, ihre Klagen zu ertragen, dazu fühlte er sich in seiner jetzigen Verfassung gänzlich außer stande. Darum ging er, er wollte den ersten, ärgsten Sturm verbrausen lassen. Dazu lag ihm eine dumpfe Betäubung wie Blei in allen Gliedern, ein schmerzhafter Druck auf das Hirn vermehrte seine Unruhe und Angst. Er hatte die Empfindung, als müsse er im Zimmer ersticken, am Werktisch von Sinnen kommen, er sehnte sich nach Luft, nach Zerstreuung, Erheiterung.

Planlos wendete er sich zuerst nach Schottendorf, – hier 118 erfuhr er, daß er seinem Geschick nicht entrinnen werde. Mit lautem Hallo ward sein Erscheinen begrüßt, aus allen Fenstern ward er angerufen, auf offener Straße angehalten, umringt, eingekeilt, mit Fragen überstürzt. Da er nicht Hunderten zugleich antworten konnte, seine Stimme den Lärm nicht durchdrang, ward ihm von den Schottendorfern seine eigene Geschichte zwanzigmal in jeder Viertelstunde berichtet, mit immer neuen gräßlicheren Übertreibungen. Der Kopf wirbelte ihm; war die Welt in ein Tollhaus verwandelt oder er verrückt?

Mit Gewalt bahnte er sich endlich einen Weg durch seine Dränger und rettete sich mit Mühe in ein stilles, abgelegenes Wirtshaus. Nicht lange war ihm vergönnt, seinen kummervollen Gedanken nachzuhängen, die Größe seiner Schande auszudenken nach dem Maße der Beurteilungen, die ihm hundertfach in die Ohren geschrieen worden waren, – es kam Leben in das stille Haus, viele Stimmen tönten durcheinander, von einem Schwarm Schottendorfer umgeben, trat der Windsberger Schulz ins Zimmer. Heiner kroch ganz in sich zusammen, drückte sich in die dunkelste Ecke, um nicht erkannt zu werden. Höllenqualen stand er aus in seinem finstern Winkel, und doch mußte er sich ruhig verhalten, durfte sich nicht einmal bewegen, um die Aufmerksamkeit der Gäste nicht auf sich zu lenken. Umständlich erzählte der Schulz den Hergang, und Heiner hatte zum zweitenmal Gelegenheit, ein Urteil seines Tuns zu vernehmen. Es war freilich hart, mitleidslos, – aber er selbst mußte sich gestehen, in der Hauptsache wahr und gerecht, ach nur allzu gerecht! Und seine Verurteilung war es nicht allein, die ihm das Blut wie Flammenströme ins Gesicht trieb. Klar und bestimmt vernahm er aus dem Munde des Vaters, daß es mit seiner Bewerbung um Karoline zu Ende sei; fast zur Verzweiflung brachte es ihn, als der Schulze hinzusetzte: »ich hab den Heiner gern gehabt, niemals hätte ich mir einen anderen Schwiegersohn wünschen wollen, und der Prozeß mit seinem Paten wäre kein Hindernis für ihn gewesen. Nun er sich aber an mir vergriffen, nun ist's aus, aus für immer, das versteht sich ganz von selbst!«

Endlich entfernte sich der Schulze, und auch Heiner gewann die Freiheit wieder. Ziellos rannte er über Wiesen und Felder dem Walde zu, er mußte allein sein, ganz allein. Im dichten Gebüsch warf er sich zur Erde und vergrub das Gesicht im feuchten Moos, 119 sein Herz zuckte im wildesten Schmerz. Lange blieb er in dieser Lage, bis endlich die Natur ihre Rechte geltend machte. Müde richtete er sich auf, strich sich Laub und Moos aus den Haaren, ordnete seine Kleider. Wohin nun? – Trostlos blickte er in die Weite; wie war die Welt so verändert, so groß, so öde, so farblos; und was hatte er noch auf der Welt zu suchen, was sollte ihm das Leben? Ein vom Schicksal zerschlagenes Glück, das empfand er, kann man verwinden, aber unerträglich ist es, muß man die eigene Torheit als Ursache des Leides anklagen, muß man sich im bittersten Schmerz auch noch verachten! – – Wohin nun? – War das nicht gleichgültig? Einen Ort, wo er sein Leid vergessen konnte, gab es doch nicht. – Was tun? – Nun quoll es wie ein Strom warmen Lebens in ihm auf: arbeiten! – Ja, arbeiten, schaffen, brav und tüchtig werden; das war es, was ihm blieb, was ihm allein über die schwerste Zeit hinweghelfen konnte. Wie oft hatte ihn Karoline, das gute, schöne Mädchen, mit Tränen gebeten: »kehr um, Heiner, laß die Tollheiten, du bist nun längst in den Jahren, da sich solch wildes, überlustiges Wesen nimmer schickt. Tu's mir zu lieb und werde gesetzt und brav, wie es anderen Burschen deines Alters so wohl ansteht!« Solche Mahnungen, – jetzt erinnerte er sich, wie sie in letzter Zeit immer ernster und dringender geworden waren, – hatte er leichtsinnig in den Wind geschlagen; Besserung gelobte er stets, und im Grund war es schon seit langem seine Absicht, endlich ein neues Leben zu beginnen, nur den Anfang verschob er von einer Zeit zur andern, und so war es endlich gekommen, wie es ihm Karoline lange vorhergesagt, – sein Leichtsinn hatte ihn ins Unglück gestürzt, aus dem es keine Rettung gab.

»Gar keine Rettung? – Soll wirklich alles, alles verloren sein?« stöhnte Heiner im neu aufquellenden Schmerz. – Ja, die eine unglückselige Tat hatte einen unausfüllbaren Abgrund zwischen ihm und dem Mädchen aufgerissen, nie, – nie konnte der Vater ihm das vergeben. – Aber die Tochter? Konnte nicht Karoline sein Vergehen milder beurteilen und, wenn sie sich auch vorläufig dem Zwange des Vaters unterwarf, im stillen dennoch an ihm festhalten? Seine bleichen Wangen röteten sich. Zwar mußte er sich bei ruhiger Überlegung selbst sagen: von einem anderen Mädchen könne er das vielleicht erwarten, von Karoline nie 120 und nimmer! – Sein gequältes Herz klammerte sich an diesen Strohhalm, so schwach der Hoffnungsschimmer auch war; ehe er sich selbst dessen recht bewußt ward, hatte er schon ein ganzes Gebäude von Hoffnungen, Erwartungen und Wünschen darauf gegründet. »Bleibt mir Karoline zugetan, dann ist nichts verloren,« sagte er fast laut. »Ich will meine Torheit vergessen machen, will ihrer wert werden, – und die Zeit tut ja Wunder! – Aber heute noch muß ich erfahren, wie das Mädle zu mir steht, – solche Ungewißheit ist nicht zu ertragen!«

Fest und unverrückt stand dabei der Vorsatz in ihm, ein anderer Mensch zu werden unter allen Umständen. Innerlich drängte es ihn, bald, sogleich einen Anfang zu machen. Mancherlei nötige Besprechungen, Verrichtungen in den umliegenden Orten kamen ihm rechtzeitig in den Sinn, ungesäumt ging er an ihre Besorgung. Ein schweres Werk hatte er sich aufgebürdet! In jedem, auch dem kleinsten Orte erneute sich die Szene, die er in Schottendorf erlebt hatte, und er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, nicht wild, seinem Entschlusse nicht untreu zu werden. Machtvoll bezwang er sich; allen Hohn und Spott nahm er geduldig hin als wohlverdiente Strafe; nur gelobte er sich selbst mit heiligen Eiden, daß solche Schande nie mehr über ihn kommen dürfe!

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