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Mauerblümchen.

Mauerblümchen – das klingt so wehmütig, nach Vergessen- und Verlassensein, nach Darben und Sehnen. Man sieht bleiche, farblose Blüten dabei vor Augen, die niemand zum Strauße pflückt, oder auch wohl ein armes, trauriges, junges Ding, das Herz voll Sehnsucht, die Augen voll verstohlener Tränen, nicht hold, nicht schön, von keinem begehrt, übersehen, verschmäht, ganz allein, während alles rings umher im leuchtenden Saal lacht und scherzt und sich der seligen, flüchtigen Jugend freut.

Aber wie alles in der Welt seine sinnigen Liebhaber finden kann, so auch die verachteten Mauerblüten. Sieht man genauer zu, so finden sich gerade an altem Gemäuer unter dem unscheinbarsten Pflanzenwuchs die lieblichsten Blumengesichter, und wer sich in einem Ballsaal einmal die Mühe nimmt, den armen Sitzengebliebenen in die verschleierten Augen zu schauen, der entdeckt vielleicht unter den gesenkten Wimpern einen süßeren Glanz, als in den strahlenden Augen der schönen Ballköniginnen, die gerade Zufall, Glück, Mode des Geschmacks auf den Schild erhoben hat.

Ich fand einmal an einer morschen Weinbergsmauer einen wahren Busch voll großer, tiefdunkelblauer, entzückend duftender Veilchen.

Das Mauerblümchen, von dem ich heute erzählen will, ist zufällig auch ein Veilchen. Sie wurde Viola getauft, weil die Veilchenbeete in ihrer Eltern kleinem Garten noch niemals so märchenhaft reich geblüht hatten, wie in jenem Frühling, da sie geboren ward; der seltene Name ward aber für den gewöhnlichen Gebrauch in einem einfachen und ärmlichen Lehrerhaus als viel zu schade betrachtet; deshalb wurde sie als einziges Schwesterchen von vier älteren Brüdern einfach Mädi genannt; nur auf ihren Schulheften und auf ihren geliebten Zeichenbrettern und Zeichenbüchern prangte der Veilchenname.

Daß Mädi mit sechzehn Jahren schon auf einen Ball kam, war eigentlich ganz gegen die Grundsätze ihrer einfachen Erziehung. Aber dieser Ball sollte eine Art Schmerzensgeld sein. Mädi tat den Eltern leid. Sie hatte eben mit einem heißen jungen Wunsch auf eine rührende, heldenhafte Weise für immer abgeschlossen. In Mädi steckte ein Stückchen Künstlergenie; man sah es dem schlichten, bescheidenen Kinde gar nicht an, aber viele Hunderte von kleinen reizenden Bleistiftskizzen, Momentbildchen voll scharfer und klarer Charakteristik, voll kluger und lieblicher Auffassung, die in allen Heften, in allen Mappen und Büchern Mädis zu finden waren, sprachen dafür. Der Zeichenlehrer der Fortbildungsschule hatte es auch gesagt, er hatte Mädis Eltern ernst beschworen, dies reizende Talent ausbilden zu lassen – aber ein armer Unterlehrer, dem die Zukunft von vier Söhnen zu sichern obliegt, fühlt leider bei jedem Sprung seiner Wünsche gar schmerzhaft den strengen Zügel der Not. Wie hätte man eine lange künstlerische Ausbildung für Mädi bestreiten sollen? Im Orte gab es, obgleich derselbe nicht klein war, nicht eine einzige geeignete Lehrkraft. Unterricht und Pension in einer fremden Stadt, – das waren unerschwingliche Luxusdinge. Und dazu lag hart neben dem kleinen Lehrerhaus als nicht zu übersehende Mahnung das große neugegründete Lehrerinnenseminar; eine Freistelle darin war Mädi gesichert; so gab es eigentlich gar keine Wahl, gar kein Schwanken, nur ein paar heimliche mitleidige Tränen von Mädis Mutter, als die Entscheidung fiel, und ein paar Tage voll unnatürlicher, wehmütig-fieberhafter Lustigkeit von Mädis Seite. Die Eltern kannten sie. Unter dieser Art Fröhlichkeit hatte sie immer ihr kleines und großes Leid versteckt; es lag viel Festigkeit und starker Wille, viel Kraft zum Überwinden in dem jungen Ding. Weinen und klagen hatte sie nie gemocht.

Zu Ostern sollte der Klassenkursus im Seminar beginnen. Mitte März kam die Einladung von Tante Jettchen nach Kurzstädt zum Kasinoball. Ein Ball – solch ein leuchtender Saal voll Schönheit, Leben und Fröhlichkeit – das war der kleinen Künstlerin immer als etwas berauschend Reizendes erschienen. Während ihrer Studienzeit durfte sie ja nie einen Ball besuchen, und ist die Studienzeit zu Ende, dann, mit neunzehn Jahren, meint eine Sechzehnjährige, ist die Jugend beinahe vorbei. Und alles das, obgleich sie es kaum aussprach, empfand ihr die Mutter, die treueste und liebste Freundin, heimlich nach; so kam es dann, daß Mädi den feinen rosa Wollstoff auf ihrem Geburtstagstisch fand, daß Bruder Hans noch am selben Tag die Schlösser an seinem Studentenköfferchen putzte, kurzum, daß es beschlossen und abgemacht war: Mädi fährt nach Kurzstädt zum Kasinoball.

Tante Jettchen war des Vaters ältere Schwester, welche an einen noch viel älteren Gatten, einen nunmehr pensionierten höheren Steuerbeamten verheiratet war. Das greise, gemütliche Paar besaß eine gewisse Wichtigkeit in der kleinen Stadt; sie hatten vor Jahren das Kasino, die etwas steife, sehr ehrbare Elitegesellschaft der Honoratioren, mit gegründet und besuchten deren Stiftungsbälle noch heute mit einer Art von rührendem Pflichtgefühl; Tante Jettchen thronte dann im hohen Kopfputz unter den Ballmüttern und nahm an den Triumphen der Stadtschönheiten teil, als ob sie alle ihre Töchter seien; Onkel Ernst saß währenddessen beim Kartenspiel oder beim Glase Wein und brachte jedesmal unter dem nämlichen Gelächter seiner Zuhörer die nämlichen Witze vor. So war es seit Jahren gewesen, bis ihnen der Ehrgeiz kam, einmal als wirkliche Balleltern aufzutreten. Mädi, ihr Patenkind, mußte ja nun erwachsen sein. Ob sie bei den Kurzstädtern würde Staat mit ihr machen können, war der Tante beim ersten Eindruck, den sie von Mädi gewann, nicht klar; die Kleine war ohne Zweifel fein und lieb und schön, aber doch gar sehr blaß, und für den Kurzstädter Geschmack lange nicht lebhaft, kokett-mutwillig und munter genug, viel zu eigen und zurückhaltend im Gespräch. »Sie muß es eben den anderen ein wenig absehen«, dachte die alte Frau.

Leider wurde die Tante krank, ehe der Ballabend kam; nicht schlimm und gar nicht gefährlich, aber doch so, daß sie ihren Ballmutterpflichten unmöglich obliegen konnte. Mädi sollte also ihre ersten Balllorbeeren unter Onkel Ernsts alleiniger Obhut ernten.

Onkel Ernst war ein außerordentlicher Freund von Pünktlichkeit. Lange vor Beginn des Balles betrat die schlanke Kleine an seinem Arm den fast noch menschenleeren, vorläufig nur spärlich erleuchteten Kasinosaal; es war ein Augenblick großer Ernüchterung für sie. Sie wollte gern gleich im ersten Augenblick volle Stimmung empfangen, sie wollte sich fortreißen lassen von Klang und Glanz und Fröhlichkeit. – Statt dessen nun des guten Onkels umständliches Umhersuchen in dem leeren Raum nach einem passenden Platz! Sie dankte Gott, als derselbe nach langem Erwägen endlich in einer offenen Nische an einem gemütlichen Tische Posten faßte und die Weinkarte zu studieren begann. Nun konnte sie ihr Gesichtchen still in den weißen Maiglockenstrauß vergraben und davon träumen, wie eine Stunde später berauschende Fröhlichkeit diesen dämmerigen Saal füllen und sie auf himmlischen Wogen dahintragen würde. Ja, es war gewiß ihr einziger Ball, und sie wollte sich für ihr ganzes Leben satt trinken an der herrlichen Lust des Tanzes. Sie tanzte so leidenschaftlich gern, wie nur je ein junges leichtfüßiges Kind; in den Mädchentanzstunden in der Selekta war sie die beste Tänzerin gewesen, ein seliges Gefühl weltentrückten Schwebens kam immer über sie, sobald sie sich nach dem Takte einer guten Tanzmelodie drehte.

Und nun endlich flammten auch die herabgeschraubten Lampenlichter auf, und der Saal begann sich zu füllen. Wie viele, viele junge, freilich zum größten Teil nicht mehr ganz junge Mädchen, hatte doch diese kleine Stadt! Warum sie nur alle ihre leichten Ballkleider durch so viel schwere Bänder und Blumen verdarben? Warum sie das Haar alle in so mühsam gebrannten Locken, fest zusammengeschraubten Schnecken und künstlichen Puffen trugen? Nicht ein natürlich gewellter Scheitel um eine hübsche Stirn! Mädi kam sich mit einem Male ordentlich glücklich vor mit ihren nur leicht zusammengeflochtenen lockigen Haaren und dem schlichten, elegant geschnittenen Kleid, das keinen Ausputz trug als die zierlichen Schleifen, mit denen die kurzen Ärmel auf den Achseln zusammengebunden waren. Solch einen Kunstbau also nannte die Tante eine »Frisur«! Sie hatte Mädi heute unausgesetzt überreden wollen, sich eine Frisur machen zu lassen. Ohne Frisur könne man doch unmöglich auf einen Ball gehen!

Immer mehr und mehr Tänzerinnen füllten den Saal, die kleine Anzahl von schwarzbefrackten jungen Herren verschwand beinahe in dem Gewoge von zartfarbigen bauschigen Mädchenkleidern. Mädi sah es mitten in ihrer Verwunderung mit einer Art heimlichen Auflachens, wie sich die Mütter in den schweren buntseidenen Kleidern immer freuten, wenn einer der so bedeutend minderzähligen Tänzer seinen Namen in das kleine Tanzbuch ihrer Töchter eintrug. Ihr hatte sich noch keiner genähert; jedenfalls hätte sich, außer ihr selbst, auch niemand darüber gefreut, denn Onkel Ernst schien erhaben zu sein über die Schicksale ihres Ballabends. Er hatte sich mit einem alten Bekannten, den er Herr Oberst nannte, in eine offenbar sehr gute Marke Rotwein und eine sehr angeregte Unterhaltung über Volkswirtschaft vertieft. Mädi saß stumm in lebhafter Betrachtung und schon etwas peinlicher Erwartung neben den beiden.

Als ein rauschender Tonwirbel die Polonäse begann, ohne daß sie zu derselben aufgefordert worden, war sie tief erschrocken. Sie war an Beschämung und Zurücksetzung im Grunde nicht gewöhnt und kam sich den dicht an ihr vorüberschreitenden Tanzpaaren gegenüber wie gebrandmarkt vor. Bald aber begann sie sich zu trösten; sie trug ihr Schicksal nicht allein. Mindestens zwölf weiße, rosige, rote und lichtblaue Mauerblumen schmückten außer ihr die Wände des Saals. Sie saßen alle in langer Reibe nebeneinander und schienen durch ihr geziert übermütiges Geschwätz eindringlich sagen zu wollen: »Was liegt uns an dem bißchen Tanz? Wir können es erwarten.«

Dafür waren sie auch die ersten, die beim darauffolgenden Rundtanz engagiert wurden. Die Söhne der Stadt schienen von äußerstem Gerechtigkeitsgefühl beseelt zu sein. Nun mußte auch Mädi endlich erlöst werden! – Ein himmlischer Walzer brauste durch den Saal. Schon flogen die ersten Paare dahin; – Mädis Füßchen zuckten. Sah man sie denn wirklich nicht auf ihrem verlorenen Posten? Wollte man sie nicht sehen? Nein, alle Paare wirbelten ja an ihr vorbei, und – sie irrte sich nicht! – viele neugierige Blicke glitten über ihr verlegenes Gesicht. – Gewiß hatte nun irgend jemand Erbarmen! Man würde sie nun zu irgend einer Extratour abholen, würde sie um den nächsten Walzer bitten – nur Geduld, nur Geduld! – –

Aber auch dieser Tanz, ja, auch der nächste ging zu Ende – niemand forderte Mädi auf. Sie gefiel offenbar den Kurzstädtern in ihrem einfachen Anzug nicht! Wenn sie sich doch zu einer »Frisur« entschlossen hätte! Aber darüber mußte sie gleich darauf beinahe lachen. Die vom Tanz halb aufgelösten gebrannten Locken der Mädchen sahen schrecklich aus. Eine lange Hellblonde im blauen Kleid, die immer mit einem besonders triumphierenden Blick an ihr vorüberflog, trug den koketten kleinen Vergißmeinnichtkranz schon schief wie ein Studentenmützchen über dem heißen Gesicht. Sie war niemals unter den Sitzenbleibenden, und ihr ganzes Wesen strahlte das wonnigste Hochgefühl über diese Tatsache aus.

Ach, wenn Mädi nur eine halbe Stunde lang an ihrer Stelle hätte sein dürfen. Nicht mehr aus Lebenslust, nicht aus Eitelkeit, nein, nur aus Ehrgefühl hätte sie einmal tanzen mögen. Es war so entsetzlich beschämend, peinlich und niederdrückend, vor aller Blicken als einzige Verachtete und Verschmähte hier sitzen zu müssen.

»Du amüsierst dich doch gut?« fragte der Onkel ein paarmal ganz gemütlich mitten aus seinem eifrigen Gespräch heraus.

»Ach ja – wundervoll!« dachte sie voll Bitterkeit und Schmerz. Eine schrecklich lange Quadrille spielte sich eben vor ihren Augen ab. Sie hatte diesen Tanz mit seinen graziösen Verschlingungen immer reizend gefunden, heute fand sie ihn zum erstenmal entsetzlich langweilig, quälend endlos. Wie herausfordernd mutwillig und lustig tat dies dicht vor ihr tanzende Paar. Sie mußte die Füße zurückziehen, um von den Übereifrigen nicht getreten zu werden. Ja, ein wunderbares Vergnügen, sich dreiviertel Stunde lang beinahe unausgesetzt von einem witzelnden Leutnant und einer kichernden gezierten Schönen den Rücken zudrehen zu lassen! Wenn sie nur niemand beobachtete in dieser beschämenden Situation!

Mädi sah sich ganz ängstlich um. Tief erglühend schlug sie gleich danach die braunen Augen nieder. Ein lachender heller Blick, ein Blick, dem man das höchste Wohlgefallen an dem Humor der Situation ansah, war über sie weggeglitten. Oder galt dieses vertraulich-schelmische Anstarren gar nicht ihr? – Es war ja eigentlich unmöglich; sie mußte sich noch einmal durch einen ganz raschen Aufblick überzeugen, daß sie sich geirrt hatte.

Wie flüchtig ihr scheuer Blick nach der gefürchteten Seite glitt, die hellen scharfen Augen da drüben fingen ihn, wie ein erwartetes Spielzeug, übermütig leuchtend auf. Es war kein Zweifel, jener lange blonde Mensch, in dem etwas genial nachlässigen Gesellschaftsanzug lehnte nur an der Säule in Mädis Nähe, um sich an der schmerzlichen Demütigung des armen fremden Kindes zu werden. Sein ganzes Wesen sprach Triumph. Es hatte ihm offenbar lange nichts so viel Spaß gemacht, als diese rücksichtslos von dem vor ihr tanzenden Paare in die Enge gedrückte, verachtete, trauernde kleine Mauerblume.

Wie ein heißer Strom drängte der armen Mädi alles Blut zum Herzen. Ein gerechter, ehrlicher Ärger flammte in ihr auf; – und doch begann sich gleich darauf die stürmische Flut wieder zu glätten. – »Vielleicht spottet er meiner gar nicht, vielleicht will er mit mir tanzen!« dachte sie mit aufblitzendem Entzücken. »Ach, nur einmal, nur ein einziges Mal im Saale herumtanzen, den ganzen unfreundlichen Gesellschaft zum Trotz – –«

Unsäglich sehnsüchtig sah sie dem Ende der furchtbaren Quadrille entgegen. Ach ja, sie ging vorbei – aber auch der nächste Tanz ging vorbei, und nun hätte Mädi einfach sterben mögen vor verletztem Stolz, vor demütigender Qual! Welche furchtbare, empörende Dreistigkeit von diesem Menschen! Unbeweglich lehnt er an der Säule da drüben und weidet sich an ihrer Vernachlässigung. Er denkt nicht daran, sie einmal aufzufordern. Wohin soll sie nur blicken in ihrer tödlichen Scham? Ein schreckliches Verhängnis muß es sein, das ihre Blicke immer wieder zu ihm hinüberführt, um sie ganz genau davon überzeugen zu lassen, daß so viel Abscheulichkeit wirklich möglich sei.

Er wendet kein Auge von ihr, und jetzt hat er es gehört, wie der Onkel mit beschämender Teilnahme auf einmal fragte: »Ich dächte, Mädi, du tanztest recht wenig?«

In demselben Augenblick wandelt er, von einem plötzlichen Mitleid erfaßt, auf den Tanzordner zu. Mädi zuckt zusammen, sie kann nicht daran zweifeln – er weist nach ihr – er will sich ihr vorstellen lassen. Da plötzlich – dem armen Ding wird es schwarz vor den Augen – auf halbem Weg zu ihr, bleiben beide Männer stehen. Der Fremde scheint sich anders zu besinnen. Er lacht eigentümlich auf, zuckt mit den Achseln, sagt ein paar Worte, verneigt sich gegen den Tanzordner und stellt sich wieder auf seinen alten Platz.

Es gibt Augenblicke unverdienter, nichtswürdiger Demütigungen in manchem Leben, Demütigungen, gegen die auch der Stärkste weiter keine Auskunft weiß, als Tränen oder – – ja – oder – – den Humor! Glücklich, wer diese letztere Zuflucht besitzt! Glücklich der, dessen Seele zu federn beginnt, wenn der Nebel des Augenblicks am dichtesten lastet!

Die arme Mädi sah auf einmal, wie aus sich herausgestellt, die ganze Komik dieser letzten jämmerlich zerschlagenen Hoffnung ein. Sie begann über sich selbst und die Erbärmlichkeit ihres Quälers zu lächeln. Damit stand sie mit einem Schlage hoch über dem Augenblick, und aus den Trümmern der verflossenen Stunde stand auf einmal die zerschlagene Selbstachtung heil und ganz wieder auf. Sie fühlte, daß sie durch die Niederlage, die sie heute erfuhr, vor allem, daß sie durch die schlechte Behandlung dieses fremden Menschen nichts von ihrem Wert verlor. Aber auch, daß es nun genug sei mit unnötiger Selbsterniedrigung, fühlte sie klar. Wozu mußte sie denn noch länger hier am Marterpfahl schmachten? Der Onkel würde ihre flehenden Blicke um baldige Heimkehr doch nicht verstehen. Mochte er sich denn nicht stören lassen. Sie konnte oben in der großen luftigen Damengarderobe harren, bis er Lust bekam nach Hause zu gehen. Überall, überall, selbst am dunkelsten Ende der Welt, würde es ihr wohler sein, als hier.

Und aufatmend sitzt sie ein paar Minuten später zwischen Mänteln und Schals oben in einem kleinen, wohlig durchheizten Saal, an die Bretterwand, die Herren- und Damengarderobe scheidet, gelehnt, die knappen langen Handschuhe sauber zusammengerollt, die gefalteten Hände im Schoße. Es ist ihr gelungen, ungesehen, ohne von müßigen Fragen belästigt zu werden, an den beiden schwatzenden Garderobefrauen vorbei zu kommen – nun kann sie stundenlang hier sitzen und träumen, die Musik hört sich aus her Ferne so zauberhaft an, man möchte denken, ein Ballsaal sei ein Paradies! Wenn man's nicht besser wüßte!

Lange, lange sitzt das Mauerblümchen still und träumt, und während sie träumt, wird sie heiterer und heiterer. 5ie sieht das Erlebte immer mehr im Lichte eines feinen, seelenvollen Humors – ihre eigne kleine klägliche Gestalt, das spöttischkluge Gesicht des Fremden, das selbstzufriedene Antlitz der eifrigen Tänzerin mit dem schiefen Vergißmeinnichtkranz, den renommierender Leutnant, den jovialen Onkel und den alten Oberst beim Rotwein, im Hintergrunde die bauschigen Balltoiletten; – das alles tritt mehr und mehr aus dem Rahmen des Ganzen heraus und wird zum »Motiv.« Unwillkürlich läßt sie das entzückende scharfgespitzte Bleistiftchen, das ihre – ach so überflüssige – Tanzordnung zusammenhält und das sie während des ganzen Abends mit ihren Künstleraugen heimlich geliebkost hat, über die jungfräulich weißen leeren Blätter des Büchelchens gleiten. Flott und zart umrissen, dabei wunderbar scharf und doch liebenswürdig charakterisiert, wie sie es liebt, treten die Typen des heutigen Abends auf der atlasglatten Papierfläche hervor; nur sich selbst und ihren Peiniger schont sie nicht; ihre klägliche Verzagtheit von vorhin muß ihr kleines karikiertes Ebenbild nun bitter büßen, und er – er sollte sich sehen! Ganz prächtig hat sie seinen dreisten Blick, seinen horngefaßten Klemmer, seine in die Stirn hängende, gar nicht ballfähig kunstlose Haartolle getroffen!

Mit sich und der Welt ausgesöhnt, läßt sie, als der Raum des winzigen Zeichenbuchs erschöpft ist, das abgestumpfte Stiftchen sinken. Sie ist in entzückender Laune, geklärt und sonnig, wie die Luft nach einem raschen heftigen Gewitter. Am liebsten möchte sie singen; ihre Stimme ist leider wenig wert; – aber pfeifen kann sie sehr gut, vortrefflich wirklich, wie ihr der Bruder Student immer mit heißem Neid versichert.

Hier hört es ja niemand; – die beiden Garderobieren sind gar nicht im Saal, und die Melodie: »'s ist nix auf der Welt, 's ist nix auf der Welt,« drängt förmlich unwiderstehlich in ihr zum schalkhaft-entsagungsvollen Ausdruck.

Leise, leise, mit wirklich ganz erstaunlicher Kunstfertigkeit, pfeift sie das Liedchen zu Ende. Dann kommt »Verlassen – verlassen« daran und darauf, der zartinnigen Wehmut dieses holden Liedchens zum Trotz, recht übermütig der »liebe Augustin.«

Im Nebenraum muß irgend ein gefühlvoller Kleiderhüter ihre Kunst zu schätzen wissen. Ein Echo, leise wie ein Hauch, antwortete schon ein paarmal ihren bubenhaften Musikleistungen. Das macht ihr ungeheuren Spaß. Extra diesem bescheidenen Lauscher zu Liebe gibt sie nun noch: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus« zum besten; das Echo pfeift vom zweiten Vers an in tieferen wundervoll klaren Tönen, manchmal an eine gute Hirtenflöte erinnernd, die Melodie mit.

Mädi hat sich lange nicht so gut amüsiert, wie in dieser Stunde. Solch ein kleines originelles Vergnügen ist ganz nach ihrem Geschmack. Nach Schluß dieses gemeinsamen Vortrags klatscht sie leise in die Hände vor Entzücken.

»Noch eins?« fragt jetzt eine bescheiden bittende Stimme jenseit der Wand.

»Warum nicht?« gibt sie aufs höchste belustigt zurück. Ihr Repertoire ist noch sehr reich.

»Können Sie: ›Ich schoß den Hirsch im wilden Forst?‹« fragte sie den unsichtbaren Nachbar herablassend.

Dieser stimmt gleich selbst den ersten Vers dieses schönen Liedes an. Einen solchen Partner im Pfeifen zu finden, hätte Mädi sich niemals träumen lassen. »Wer sind Sie da drüben denn eigentlich, Sie Musikgenie?« fragte sie nach dem letzten Ton in jubelndem Entzücken.

O weh, das war zu weit gegangen! Der bescheidene Garderobier da drüben wird frech. »Ich werde mir gleich erlauben, mich Ihnen vorzustellen«, klingt es in schneidigem Ton herüber. Gleich darauf hörte sie eilige, sich entfernende Schritte. Offenbar nähert sich der Unglücksmensch der Ausgangstür, um über den Korridor weg in die Damengarderobe zu gelangen. Die improvisierte Bretterwand hat keine Verbindungstür. – Mädi bleibt nun nichts übrig, als an eilige Flucht zu denken. Sie wird sich hüten und sich von dem anmaßenden Menschen finden lassen! Das wäre ein abgeschmacktes Ende des hübschen, harmlosen Spaßes.

In der Mitte der einen Längswand des Saales befindet sich eine niedere Tür, die wahrscheinlich nach irgend einem dunklen, unbenutzten Raum des großen Kasinogebäudes führt. Da kann sie ja ein paar Augenblicke warten, bis der musikalische Jüngling nach erfolgloser Entdeckungsreise auf seinen Posten zurückgekehrt ist.

Welch eine hübsche Überraschung! Der Raum, den sie da betritt, ist keineswegs dunkel, sondern von allen hundertfünfundzwanzig Gasflammen des großen Ballkronleuchters, den Mädi in gerader Richtung vor sich hängen sieht, von der Seite her erhellt. Es ist ein leerer Tribünensaal mit hübsch geschnitzter Brüstung, von der aus man das ganze bunte Treiben der Tanzgesellschaft von hoch oben, wie aus der Vogelperspektive, beobachten kann. Mädi hält den Türgriff noch in der Hand und weidet sich, auf den Fußspitzchen wippend, mit lustigen Augen an ihrer neuesten Entdeckung. Mit welchen amüsanten Beobachtungen kann sie hier den Rest ihres traurig begonnenen ersten Ballabends verbringen – – –

»Ach, so habe ich mich doch nicht geirrt«, ruft es da plötzlich neben ihr mit liebenswürdigstem Ton. »Sie sind es, gnädiges Fräulein, die mich kennen zu lernen wünschte! Es ist mir dies ein ganz unbeschreibliches Vergnügen« –

Mädis lustiges Köpfchen fährt erbleichend nach der Seite herum. Eine zweite Tür in der langen Saalwand hat sich geöffnet, und eine elegant-nachlässige Herrenerscheinung – lang, blond, schwarzen Klemmer über der feingebogenen Nase – alles in allem durchaus nicht zu verkennen – taucht, sich tief verbeugend, vor den erschrockenen großen Mädchenaugen auf. Mädi hätte hundert Klafter tief in die Erde sinken mögen.

Er hier! – der fatale Zeuge ihrer kaum verwundenen, schmachvollen Ballniederlage, derjenige, vor dem sie eigentlich in erster Linie geflohen war! Und er war am Ende gar ihr Partner von jenseit der Bretterwand!?

»Ich verstehe Sie nicht! Wirklich nicht!« haucht sie, das Köpfchen zurückwerfend, mit mühsam behaupteter Würde.

»Aber, mein bestes Fräulein, was ist da überhaupt mißzuverstehen?« lacht der blonde Mensch mit dem frischesten und natürlichsten Ton von der Welt. »Wir haben eben noch entzückend zusammen gepfiffen, und nun wünschten Sie den bescheidenen Genossen und großen Bewunderer – ja, ganz begeisterten Bewunderer – Ihrer seltenen Gabe in persona kennen zu lernen. Ich gestehe, willkommener ist mir noch gar kein Wunsch einer Dame gewesen. Ich ahnte nämlich bereits – Doch kurz und gut: mein Name ist Erhard Freyer, Stand und Eigenschaft Maler. Ich wollte mir schon unten im Ballsaal die Ehre geben, mich Ihnen vorstellen zu lassen. Leider – – Sie haben es wohl gemerkt« –

»Daß Sie sich eines andern besannen – ja!« entfährt es Mädi zu ihrem sofortigen Verdruß.

»Besinnen mußten! Besinnen mußten!« seufzt er mit halb lachendem, halb klagendem, unendlich komischem Ausdruck. »Ich war so unglücklich darüber, wie nur je im Leben. Ich habe manchmal wirklich unverzeihliches Pech. Und das Schlimmste ist, daß ich Ihnen den Grund gar nicht sagen kann, eigentlich – nein – eigentlich nicht recht sagen kann.« –

»Ich will ihn auch wirklich gar nicht wissen«, versicherte Mädi so kühl als möglich.

»Im Grunde ist es ja nichts Schlimmes, Sie werden mich nur furchtbar auslachen«, fährt er in seiner leichten, ungenierten Weise fort. »Mein Schuster – denken Sie, mein gnädiges Fräulein – mein Schuster behauptet, ich hätte einen sehr kleinen Fuß. Lächerlich, nicht wahr? Und um diesen Fuß noch kleiner erscheinen zu lassen – er ist nämlich eitel darauf – macht er mir meine Ballschuhe nach einer närrischen neuen Fasson.«

»Das geht mich doch wirklich nichts an«, sagten Mädis abweisende Blicke.

»Und so eng – gnädiges Fräulein, Sie müssen nun schon zu Ende hören! – so eng, daß das dünne, starre Leder einfach aus Empörung reißt! Ich merkte es schon, als ich in den Saal trat und stand deshalb eine halbe Stunde an einer Säule Wache. Zuletzt wollte ich doch einen Versuch wagen, den Invaliden ins Schlachtgewühl zu führen. Der Wunsch, einen Tanz von Ihnen zu erlangen, war unwiderstehlich. ›Sie muß wie eine Elfe tanzen‹, dachte ich in meinen andächtigen Gedanken. O Schicksal! Drei Schritte dem Tanzordner entgegen, drei Schritte in Ihrer Richtung – da klaffte die zarte Wunde – gerade oben auf dem Fußblatt – zum fürchterlichen Riß auseinander. Ja, lachen Sie nur, immer lachen Sie, mein Fräulein! Sehen Sie, Sie sahen mir gleich aus, als müßten Sie Sinn haben für Humor, und humoristisch ist's ja eigentlich ungeheuer. Nein, wie mich das freut, daß Ihnen die Sache solchen Spaß macht. –«

Mädi lachte in der Tat zum Herzerfreuen, ein so recht silberhelles Lachen, ein so recht befreiendes, erlösendes Mädchenlachen. Sie lachte nicht nur über den zerrissenen Schuh, sie lachte über sich selbst und über ihr verflossenes, nun ganz in Heiterkeit dahingeronnenes Leid. Wie anders, wie kränkend, wie vernichtend für ihr Ehrgefühl hatte sie das brüske Zurückweichen dieses harmlosen, offenherzigen Jungen aufgefaßt! Wie hatte sie ihm gezürnt, wie bitter hatte sie sich – um ein Nichts! – gegrämt. Nein, mit diesem Menschen ließ sich ja reizend verkehren! Es ging gar nicht anders, sie mußte ihm nun auch ein wenig erzählen von den Schmerzen und Qualen dieses ersten Balles.

Der närrische Mensch fand es köstlich, »famos«, daß sie den ganzen Abend »sitzen geblieben« war.

»Das ist ganz natürlich, ganz klar einleuchtend«, erklärte er in seiner originellen Weise. »Das freut mich sogar. Auf einem Kurzstädter Kasinoball mußten Sie sitzen bleiben! Wie paßten Sie, mein gnädiges Fräulein, auch auf einen Kurzstädter Ball!«

»Es ist eine Schande, und ich sollte mich eigentlich noch weit mehr darüber grämen«, sagte sie. »Keinen Tanz getanzt!«

»Selbstverständlich nicht!« lachte er, »ganz selbstverständlich! Sie kennen die Kleinstadt nicht, mein Fräulein. Da hat der Assessor N. seine Tänze so prompt eingeteilt zwischen den zwei Präsidenten- und den vier Regierungsratstöchtern; der arme Doktor N. weiß ganz genau, daß er nicht mehr zu den großen Diners bei unserm Herrn Eisenröhrenfabrikanten eingeladen würde, wenn er mit einer kleinen fremden Schönheit tanzte, während das verzogene Fräulein Fränzchen säße. Und so fort, und so fort. Glauben Sie mir, es drückt hier noch manchen der Schuh, wenn auch nicht in so realer Weise, wie mich vorhin.«

»Und Sie wohnen hier«, fragte Mädi, »als Maler – in dieser so anregend geschilderten Welt?«

»Keine Spur, mein Fräulein. Wo denken Sie hin! Berlin, Berlin, weiter gibt's jetzt eigentlich gar keine Stadt für unsereinen! Ich bin nur hier, um ein Altarbild in der Lutherkirche aufzustellen. Aus ganz praktischen Gründen verirrte ich mich auf diesen Ball. Ich habe daheim eine lustige Kleinstadtgeschichte zu illustrieren.«

Das interessierte nun Mädi über alle Maßen, Das war so recht ihre Welt! Davon mußte sie mehr hören! Warum sollte sie Herrn Freyer nicht den Gefallen tun und in seiner Gesellschaft eine Weile vorn an der Brüstung auf dem bequemen Samtsessel sitzen, die tanzende Kleinstadt ungesehen beobachten und sich dabei eine Menge der wundervollsten Dinge erzählen lassen?

Dieser glückselige Mensch!

Das mußte ein wonniges Leben sein, das er führte! Sein eigner Vater, sein Lehrer, ein Mütterchen, einsichtsvoll, lieb, lustig, wie der beste Kamerad, dazu ein Kreis von frischen talentvollen, heiteren Freunden, köstliche Aufträge, flotte Arbeit, bezaubernde Reisen – ach, wer auch einmal solche Himmelsluft atmen könnte!

»Wissen Sie auch, daß wir zur großen Tafel wieder unter die sterblichen Menschen heruntersteigen müssen, mein Fräulein?« fragte der unermüdliche Erzähler endlich. »Ihr Herr Onkel wird Sie dann natürlich doch suchen. Und darf ich dann wohl die Ehre haben, Sie zu Tisch zu führen? Und den sogenannten Tischwalzer schenken Sie mir auch aus freundlicher Gnade? Ja? Ich muß freilich in diesen gar nicht ballfähigen Straßenstiefletten tanzen. Wollen Sie sich das nachsichtig gefallen lassen? – Und dann noch ein paar Tänze. Bitte, bitte! Einen Walzer! Einen Galopp! Darf ich gleich meinen Raub in Ihr Tanzbüchelchen eintragen?«

Mädi besann sich zu spät, daß ihr Tanzbuch längst für seinen eigentlichen Zweck verdorben war. Ein ganz kinderhaft lauter Freudenruf ihres jungen Genossen ließ sie erschrocken auf das in dessen Händen befindliche Corpus delicti blicken. Herr Freyer sah sie an, groß, verwundert, strahlend, als sähe er sie zum erstenmal.

»Das ist ja unerhört! Das haben Sie doch nicht gezeichnet?«

»Ja! Nein! Geben Sie doch her!«

»Wahrhaftig hier mein Porträt! Das beste bis jetzt existierende! Und das haben Sie nur so in der Eile hingeworfen?«

»Ja, wer sonst? Machen Sie doch kein Aufheben davon!«

»Mädchen – gnädiges Fräulein wollt' ich sagen – das ist ja kaum denkbar! Warum haben Sie mir das nicht eher gesagt? Ich habe Sie da wie ein halbes Kind behandelt; daß etwas Besonderes dahinter steckte, merkte ich freilich schon. Ja, ja, mein Fräulein, Sie können wahrhaftig mehr als pfeifen! Sie sind ein Genie, wissen Sie das? Nein, diese gute Laune, dieser sichere Strich! Wo studieren Sie denn? Wer hat Ihnen denn diese entzückende Manier beigebracht?«

»Lieber Gott, eigentlich niemand!« – Mädi erzählte mit leidvoll zuckender Stimme, mühsam lächelnd und nur mit heldenhafter Anstrengung die Sache in ein scherzhaftes Licht rückend, die ganze kleine Schmerzensgeschichte ihrer Kunst.

Daß ihr übermütiger neuer Freund so ernst, so reif und verständig aussehen könnte, wie beim Anhören dieser Dinge, das hätte sie nie geglaubt.

Nur die unabänderliche schmerzliche Tatsache, daß es für sie mit Kunstträumen nun für alle Zeit aus und vorbei sei, wollte er durchaus nicht ernst nehmen.

»I, keine Spur! Sie werden nicht Lehrerin, mein Fräulein! Unter keinen Umständen, das weiß ich ja ganz genau. Das kommt anders; wir wollen es uns wiedersagen. Sie ändern Ihre Absicht!«

»– Als ob sich die ändern ließe!«

»Sie ändern sie! Ganz bestimmt! Sie werden noch einmal eine berühmte Malerin –«

»Ach nein, nein; niemals!«

»Und doch! Sie haben noch eine große Zukunft vor sich, Sie glückliches Kind! Warten Sie nur, warten Sie nur, das Glück kommt über Nacht. Ich stehe mich leidlich mit ihm, und ich will es einmal ganz extra auf Sie aufmerksam machen, wenn ich es treffe. Aber – nur gegen Vorausbezahlung! Sie müssen mir einen großen, großen Gefallen tun! Darf ich es sagen? Seien Sie gut, liebes Fräulein, schenken Sie mir zur Erinnerung an diesen netten Abend dieses kleine Buch! Ich möchte gern Ihr kleines, schlechtbehandeltes Selbstporträt einmal meiner Mutter zeigen!«

Mädi hatte keinen Grund, die Tanzkarte ihres ersten Balles als besondere Trophäe in ihrem Erinnerungskästchen aufzubewahren. Sie hat dieselbe dem fröhlichen Jünger ihrer lieben Kunst ziemlich leichtherzig geschenkt.

Eine Tanzkarte war ihr übrigens auch für den zweiten Teil des Balles, der weniger traurig als der erste verlief, nicht nötig. Die Reihenfolge ihrer Tänzer konnte sie sich für ihr ganzes Leben aus dem Kopfe merken. Sie tanzte den Tischwalzer mit ihrem neuen Freund, während des nächsten Tanzes saß sie plaudernd an seiner Seite; dann tanzten sie wieder zusammen, dann schwatzten sie, und so fort, viele fröhliche Stunden hindurch. Herr Freyer forderte Mädi schließlich im vollen Ernste auf, ihm bei seinen Kleinstadtillustrationen zu helfen; sie könne es ganz gut, in bezug auf manches Technische, was ihr noch Schwierigkeiten bereite, wolle er ihr raten und helfen. Der Titel des Werkchens sollte dann ihre beiden Namen tragen. Ob ihr das recht sei?

Ja, ob es ihr recht sei! Aber sie hatte ihre großen Bedenken. Was würden ihre Eltern dazu sagen? Als Seminarschülerin lustige Bücher illustrieren? – –

Herr Freyer schien ein furchtbar leichtsinniger Mensch zu sein. Alle Einwände reizten ihn nur zum Lachen. Mit den Eltern wollte er sich schon verständigen; er wollte die Sache schon in die Hand nehmen.

»Als ob das so leicht wäre!« seufzte sie, der Praktischen, nüchternen Notwendigkeit gedenkend.

Aber er hat es doch fertig gebracht! Ein paar Tage lang nach ihrer Rückkehr in die Heimat glaubte sie zwar, er habe sie vergessen, und sie gab sich tränenlächelnd Mühe, auch mit dieser Erfahrung ihres jungen Lebens fertig zu werden. Aber dann kam an den Herrn Bürgerschullehrer Vollmann ein Brief von einer himmlischgütigen Frau, die sich Johanna Freyer unterschrieb. Dieselbe schwärmte von den überraschend reizenden Skizzen in einem gewissen kleinen Tanzbuch, das ihr Sohn ihr gezeigt. Namentlich in das entsagungsvolle Gesichtchen der jungen Künstlerin selbst habe sie sich ganz und gar verliebt und sie mache den Eltern dieses reichbegabten Kindes einen Vorschlag: Viola solle sich im Atelier ihres Gatten zur wirklichen Künstlerin ausbilden, derselbe nehme die verlockende Aufgabe mit tausend Freuden in die Hand. Wohnen und leben aber solle die junge Kunstschülerin bei ihr; sie habe sich solch ein liebes und strebsames Pflegetöchterchen längst gewünscht. Ob mit diesem Vorschlag wohl alle Teile zufrieden seien? Sie hoffe es von Herzen und ihr Sohn, der seine junge Kollegin respektvoll grüße, mit ihr.

Es war immerhin kein leichter Entschluß für Mädis Eltern, und gewiß war es gut, daß die Schreiberin dieser Zeilen »zufällig« in derselben Woche etwas in dem Wohnort derselben zu besorgen hatte.

Einer solchen hinreißenden Persönlichkeit, einer solchen echten, wahren Frauengüte gegenüber gab es kein Bedenken mehr.

Mädi zog mit nach Berlin, einer wundervollen Studienzeit, einer glücklichen Zukunft entgegen.

Hat nicht jemand den Namen Viola Vollmann auf vortrefflichen Genrebildern, unter geistvollen, flotten Illustrationen schon mehrfach gesehen?

Schon seit ein paar Jahren schreibt sich die Künstlerin freilich Vollmann-Freyer. Wenn sie auch auf ihrem ersten Ball verschmäht und übersehen wurde – im Leben ist mein Mauerblümchen nicht sitzen geblieben!


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