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Die Berberitze.

»Ja, meine Berberitze«, sagte der alte Amtsrat, »ich wollte, ihr Freunde, ich könnte sie euch malen, wie sie damals war mit ihren sechzehn Jahren: so biegsam und schlank, zart und doch kräftig – das Gesichtchen mit dem weichen Flaum ein wenig bräunlich von dem vielen Herumtreiben in der frischen Luft; das braune Haar so glatt und weich um die schmale feste Stirn – dazu ein kurzes, zierlich abgerundetes Näschen, ein lieblicher Mund, große schwarze Augen, und aus den Wangen jenes durchsichtige frische Rot, nicht wie Rosen, sondern wie reife Beeren – – –

Davon war ihr auch der Name Berberitze gekommen; der Name gehörte zu ihr, als habe sie ihn mit aus die Welt gebracht. Bei ihrem Taufnamen Barbara hat sie, glaub' ich, im ganzen Leben niemand gerufen.

Auf dem kleinen Gütchen ihrer Eltern, draußen im Weimarischen, hab' ich als Junge alle meine Ferien zugebracht. Es ging sparsam und einfach genug zu an dem glattgebohnten Tannentische; der alte selige Onkel hat sich übermenschlich schwer heraufarbeiten müssen, und die Tante Marie sah von der Mühsal ihres arbeitreichen Lebens mit fünfzig Jahren schon aus wie ein uraltes zartes Mütterchen. Meine Ferien waren mir trotzdem eine Paradieseszeit, und die Erinnerung daran lag von Jahr zu Jahr wie ein frischroter Morgenhauch über der Eintönigkeit meiner Schulstrapazen. Das viele Lernen war nämlich damals kein Spaß für mich; ich war bis zu meinem achtzehnten Jahr nie stark bei Kräften, ein rechter Schwachhans und eine Art Sorgenkind für die Frau Mutter –.

Dachte ich daheim von meinem Arbeitstisch aus an das liebe Moosbach, so wehte mir's immer wie frische Luft um die Ohren, und alles um mich her war in blühendes Rot getaucht. Auf zweierlei schien sich dann alle Vorstellungskraft zu konzentrieren: auf Berberitze und auf einen uralten geblümten, riesigen Vorhang von Purpurzitz, der in der Dachkammer, welche als Fremdenstube diente, den Kleiderschrank vertrat und welcher mir der Höhepunkt alles irdischen Behagens, aller irdischen Gemütlichkeit schien. Der rote Stoff hatte ein Muster von vielfach verschlungenen weißpunktierten Ranken. Wenn ich morgens in meinem Bett die Augen aufschlug, so fiel mein erster Blick auf den Vorhang, auf dem der ganze Glanz der drüben über dem Walde aufgehenden Sonne lag. Welche Wonne war es dann, mit dem Bewußtsein, einen langen Ferientag vor sich zu haben, sich noch ein halbes Stündchen zu dehnen, dem erwachenden Leben unten im Hofe zu lauschen, vom gestrigen Tag zu träumen, Pläne für den heutigen zu schmieden und dabei immer den Gang dieser wunderlich verschlungenen weißen Arabesken auf dem leuchtenden Rot zu verfolgen!

Daß Berberitze, das kleine resolute Frauenzimmer, in meinen Gedanken das ganze übrige Moosbach vertrat, war kein Wunder. Alle lustigen Erlebnisse, alle frohen Streiche meiner Ferienzeiten sind mit ihr verknüpft, ja, die meisten verdanken ihrem erfinderischen Köpfchen ihre Entstehung. Dabei hatte ich als der viel ältere und als eine Art Aufsichtsrat über die Kleine natürlich die Verantwortlichkeit für alle zu tragen. Da liegt denn auch manche beklemmende Erinnerung zwischen der frohen.

Aber der Berberitze zu widerstehen war ja nicht möglich. Das hab' ich schon bei meinem ersten Einzug in Moosbach erfahren.

Ich hatte den Winter vorher einen schlimmen Typhus durchgemacht und sollte mich in der frischen Landluft erholen. Die Verwandten hatten sich bereit erklärt, mich auf vier Wochen in Pension zu nehmen und so fuhr ich denn mit meinen wohlverpackten vier Anzügen für jede Sorte von Witterung zum erstenmal allein in die Welt. Die Eisenbahn ging damals nur bis W., von da fuhr mich eine wacklige Postkutsche drei Stunden weiter bis Auma und dort sollte, wie meine Frau Mama sich's erbeten hatte, des Onkels alte Kalesche auf mich warten. Aber nichts davon! Der Posthalter sagte mir einen Gruß von den Verwandten und sie brauchten die Pferde auf dem Feld. Ich solle nur zu Fuß die paar Stunden gehen. Die Landstraße führe ganz direkt durch den Wald und dann durch die Felder auf Moosbach zu – ein Viertelstündchen vor dem Gut werde ich die Verwandten bei der Schotenernte im Felde antreffen.

Ich war halbtot, als ich mit meinem schweren Köfferchen in der Hand diese Schotenstation erreichte.

»Nun laß nur den Koffer hier«, sagte Tante Marie nach der ersten Begrüßung voller Erbarmen, »der kann abends mit heimgefahren werden. Du lauf', die Berberitze findest du im Garten. Die weiß Bescheid. Sie soll dich gleich in dein Stübchen führen, daß du dich ein bissel ausruhen kannst. Unterdes soll die Hanne Kaffee kochen und Butterbrote schneiden – «

Wie dankte ich Gott, als ich von der Landstraße her durch die beschriebene Pforte in den alten Garten trat! Ein Zug von Kindern bewegte sich, ein schwarzverhülltes Ding tragend, in langsamen Trauerschritten singend durch die Gänge; voran ein etwa siebenjähriges Mädchen mit braunem Haar im roten Röckchen, das mußte die Berberitze sein. Mit meiner letzten Kraft rief ich ihr über die Nelkenbeete weg ihrer Mutter Auftrag zu.

»Erst mußt du mit zu Grabe gehen«, rief sie energisch zurück und war im Nu mit ihrer ganzen Dorfbande samt der schwarzen Truhe neben mir. Ich widerstrebte. »Du mußt!« rief sie und faßte meine Hand. »Wir begraben den lahmen Star. Es dauert nicht mehr lange, komm' nur. – « Und auf einen Wink von ihr war der Zug sofort wieder in straffer Ordnung, die Leidtragenden hielten ihre kleinen Sträuße wieder steif in den Händen, die Träger, ebenso die Fußbank mit dem schwarzverhüllten Toten, und im schwermütigen Tempo stimmte die Berberitze, den Marsch beginnend, wieder ihr Kirchenlied an. Es war: »Mein erst Gefühl sei Preis und Dank – «, das war das einzige, das sie kannte. Ihre kleine Hand hielt meine mit eisernem Druck umspannt. Ich mußte mit – es war, als sei unter der Feierlichkeit des Ganzen jeder Widerstand gebrochen. Es ging die schmalen Wege zwischen den Rabatten auf und nieder – endlos – endlos! Ich wundere mich heute noch, daß ich nicht vor Hunger und Mattigkeit an dem Vogelgrabe zusammenbrach. Dort hielt die Berberitze noch eine lange ernsthafte Trauerpredigt. Erst als das kleine Erdloch zugeschüttet und mit Blumen bedeckt war, reichte sie mir die Hand. »Na, nun komm'!«

Ja, irre machen ließ sie sich nicht, die kleine Hexe. Wir wurden bald die besten Kameraden, aber mein ernsthafter elfjähriger Schülerverstand trottelte immer hinter ihrem eigensinnigen Köpfchen her. Ich bin auf ihre freundliche Anregung hin unzähligemal ins Wasser gefallen, unzähligemal mit zerrissenen Kleidern von irgend einem Streifzug heimgekommen. Ihr war ja kein Baum zu hoch, kein Graben zu breit. Auch keine Arbeit war ihr zu schwer; leider waren es vorläufig noch lauter Unnützigkeiten, an denen sie ihre starken jungen Kräfte maß. Daß das später anders geworden ist, brauche ich euch ja nicht erst zu sagen.

Erinnert ihr euch noch der schönen Steingrotte im Moosbacher Garten? Sie ist jetzt ganz mit Waldfarn und Frauenhaar übersponnen. Dazu hat Berberitze – zehn Jahr alt höchstens – die ganzen schweren Steine von der Landstraße in ihrem kleinen Schubkarren angefahren. Vom Bau der Chaussee war ein langer Steinhaufen liegen geblieben, es hatte Streit gegeben zwischen der Dorfgemeinde und der Baukommission; die letztere hatte zu viel Steine angefahren, die erstere wollte sie nicht bezahlen, und unbezahlt sind sie wohl bis heute geblieben, Berberitze hat die Steine des Anstoßes, einem glücklichen Impuls folgend, wenigstens vom Eingang des Dorfes weggeräumt. Der Onkel war starr, als er eines Tags die angefangene Grotte, sauber mit Erde zusammengefügt, im Winkel seines Gartens entdeckte. Das Kind hat sein Werk aber so manierlich und mit so viel Ausdauer zu Ende geführt, daß er das Ding zur Erinnerung stehen ließ. Heute ist es mit seinem zarten Blätterschmuck eine Zierde für den ganzen alten Garten.

Aber was ich eigentlich erzählen wollte, das sind ein paar Stücke von der großen Berberitze. Mit ihren Kinderstreichen würde ich ja ohnehin heute nicht fertig.

Ja – also sie war so zwischen fünfzehn und sechzehn Jahre alt – ein kräftiges, fleißiges, rühriges Ding, dem jede Arbeit und Anstrengung selbstverständlich schien, und doch bei aller Frische und Kraft so leicht und fein!

Ich war wieder einmal, damals schon als Student im ersten Semester, bei den Verwandten zu Gast. Damals widerfuhr dem armen Moosbach eine große, unverhoffte Ehre. Der Onkel hatte von einem ausländischen Freund ein paar Säcke Samen von irgend einer neuen Lupinenart geschickt bekommen, er hatte schon damit experimentiert und es standen ihm nun bereits ein paar Felder in goldgelbem Flor. – Er hatte in einer landwirtschaftlichen Zeitung die Kollegen auf die neue Fütterungsmethode aufmerksam gemacht, der Artikel hatte viel Beachtung gefunden, und eines Tages sagte sich der damals im landwirtschaftlichen Fach so bekannte Geheime Regierungsrat von Dahlen in einem liebenswürdigen Brief zu einem mehrstündigen Besuch in Moosbach an. Er hatte den Vorsitz bei der Jahressitzung des landwirtschaftlichen Kreisvereins, der diesmal in dem drei Meilen entfernten W. tagte, und wünschte dringend, vorher persönlich mit dem Onkel zu sprechen, um einige genaue Angaben über die neue Futterart seinem Vortrage einfügen zu können.

Der hohe Besuch wurde mit allen Ehren empfangen. Die Tante hatte ein sehr umfangreiches Frühstück hergerichtet, und ihre Seele trug schwer daran, daß der Gast zur Verkleinerung der ungeheueren Berge von Fleischschnitten und Eierspeisen im Eifer seines Wissensdurstes trotz ihres vielen Zuredens fast gar nichts beitrug. – Dagegen konnte sie sich über verletzten Mutterstolz um so weniger beklagen. Herr von Dahlen äußerte, als Berberitze einmal das Zimmer verließ, sein ehrliches Entzücken über diese frische holde Erscheinung. Er wollte durchaus, der Onkel solle seine hübsche Tochter zu dem großen Festessen, das nach der Sitzung stattfand, nach W. hinüberkommen lassen. Es sei natürlich Ball nach der Tafel, ein junges Mädchen müsse so etwas benutzen.

Berberitze hatte wohl nicht übel Lust – aber es war an Ausführung des Planes gar nicht zu denken. Schon Tantens Festtoilette, ihr altmodisches braunausgefärbtes Brautkleid, ließ zu wünschen übrig, das Berberitzchen aber besaß keine Spur von einem Anzug, der sich auf einem Festessen und Festball in W. hätte sehen lassen können; das beste Kleid, das sie heute zu Ehren des Gastes trug, ein sehr bescheidenes schwarzes Fähnchen, stammte noch von ihrer Einsegnung her. Es war schon merklich verwachsen und heute für das kühle Zimmer fast zu heiß – geschweige fürs Tanzen. Und Berberitze plagte sich nicht mit unmöglichen Wünschen und verlorenem Sehnen – sondern half dem Mütterchen in der ehrlichen Beteuerung, es sei unmöglich, sich bis heute Abend ballfertig zu machen, ganz unmöglich! –

Der Herr Regierungsrat ging nicht ohne inniges Bedauern von seinen erfolglosen Überredungskünsten wieder zum Kapitel der Landwirtschaft über. Er notierte des Onkels Angaben mit haarfeingespitztem Goldstift zwischen die Zeilen seines aus lauter kleine Blättchen stenographierten Vortrags, den er in einer silberbeschlagenen schwarzen Brieftasche bei sich trug. Dann machten die Herren sich auf, um die Felder noch einmal in ihrer Lupinenpracht in Augenschein zu nehmen. Tante Marie hing unterdessen das alte weißseidene Umschlagetuch über das braune Kleid und setzte den Strohhut mit dem karrierten Bande auf. Sie hatte des Herrn Regierungsrats Bitte, gleich mitzufahren, nicht abschlagen mögen, die Zeit bis zum Festessen konnte sie recht gut zu ein paar Einkäufen benutzen. Als die beiden Herren auf den Hof zurückkehrten, stand des Herrn Rats eleganter Wagen schon im Hofe zur Abfahrt bereit, Hanne brachte dem Onkel seinen hohen grauen Hut und den langen glanzleinenen Überrock für den Abend, Berberitze überreichte dem Gast einen fabelhaft bunten Sommerblumenstrauß zum Abschied. Dann zogen die schlanken glänzenden Füchse an. Leichter und eleganter ist wohl niemals ein Gefährt über den holprigen Moosbacher Gutshof dahingeflogen.

Natürlich wurde das Berberitzel nun ein wenig geneckt. »Du möchtest ja doch gern mit zum Ball –«

»So schrecklich gern gar nicht,« versicherte sie treuherzig, »du, wir fahren mit ins Heu, das ist viel lustiger.« Dann flog sie trällernd ins Haus, um die vielen verschmähten Butterbrote in Sicherheit zu bringen. Im nächsten Augenblick kam sie eilig und wichtig wieder heraus, ein paar flatternde Blättchen in der kleinen braunen Hand.

»Da hat der Herr Regierungsrat ein Stückchen Vortrag unter den Tisch fallen lassen«, rief sie mir in ihrer schnellen Sprechweise atemlos zu. »Ich trage sie schnell nach. Der Wagen fährt ja hinter'm Dorf in langsamem Schritt den Berg hinauf und hinunter. Den hol' ich zehntausend Mal ein.«

Vergeblich lag ich mit ihr im Kampf:

»Laß mich gehen! Gib her! Für dich schickt sich so etwas gar nicht!«

»Ach, was –« rief sie und wand sich los. Und schon huschte sie wie eine Feder quer über den Hof durch die Gartenpforte.

Ich ärgerte mich ein wenig über den Wildfang und triumphierte, als sie solange blieb. »Die mag dem Wagen wohl über den ganzen Berg in der Sonnenhitze nachgelaufen sein«, dachte ich und gönnte dem Eigensinn den Schaden. Indessen wurde mir bald ängstlich zu Mute. Sie blieb gar zu lange. Es verging Stunde auf Stunde – sie kehrte nicht wieder. Ich dachte an allerhand schreckliche Gefahren, an Sonnenstich, an Überfall – dazwischen wohl an irgend einen bubenhaften Einfall, der sie unterwegs aufgehalten oder vom Wege abgelenkt haben mochte. Vielleicht ist sie gleich direkt auf die Waldwiese gelaufen zum Heuen«, dachte ich und ging ihr dorthin nach. Sie war nicht da. – Und sie war auch nicht im Haus, als ich atemlos dorthin zurückkehrte. – »Sie ist ein Stück mitgefahren«, dachte ich endlich und beruhigte mich. Meine Ungewißheit aber mußte ich tragen bis zum späten Abend, wo ich, wie ausgemacht, mit der alten Kalesche, welche Onkel und Tante am andern Morgen heim bringen sollte, den Leutchen nachfuhr. Berberitze war nicht heimgekehrt. Sie mußte ja bei den Eltern sein! Behaglich, das gestehe ich, war mir bei dem Gedanken an sie nicht ums Herz. Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen. – Wenn ihr etwas geschehen wäre! Ich durfte es gar nicht ausdenken! Ich hätte es sicher nie, nie verwunden!

Die alten Gäule, die zwei Heufuhren nach Haus gebracht hatten, ließen sich auf ihrem Abendspaziergang Zeit. Als ich nach W. kam, war es beinahe dunkel. Ich spannte im Goldenen Adler, wo die Festversammlung stattfand, aus, stellte die Pferde ein und stürmte hinauf nach dem hellerleuchteten Saal, um so rasch wie möglich die Verwandten zu sprechen. Brausende Musik schallt mir entgegen. Als ich droben die großen Flügeltüren öffne, setzt sich eben die Polonäse in Bewegung. Herr von Dahlen führt sie an und an seinem Arm schwebt – – Berberitze, Berberitze im alten schwarzen Kleidchen, einen vollen, frischen, königlichen Rosenkranz im Haar. – Wie sie hierhergekommen ist, haben sie, der Herr Regierungsrat, Onkel, Tante und Bäschen selbst, mir dann im lustigen Durcheinander erzählt. –

Berberitze lief über den Berg hinaus, ohne den Wagen zu treffen. Sie lief weiter in der Hoffnung, ihn in der Waldschenke, wo die Kutscher immer gern rasten, einzuholen, von der Waldschenke ist's noch fünf Viertelstündchen bis Auma – als sie den Wagen dort nicht trifft, läuft sie im Windesschritt bis Auma weiter – dort muß er rasten. – Um zwölf kommt sie dort an; vor keinem der beiden Gasthäuser sieht sie den Wagen halten; fragen will sie nicht, der Wirt, bei welchem man nicht Einkehr gehalten, hätte es den Moosbachern übel nehmen können – – also weiter: es gibt unterwegs ja noch manche Raststellen. Wenn der Herr Regierungsrat nur seine Papiere bekommt, Hunger und Hitze lassen sich dann schon noch ein Weilchen ertragen! So läuft sie, in einem Zuge, atemlos, wie vom Winde dahingeweht, bis sie gegen drei Uhr vor dem Goldenen Adler in W. steht. Nach sechsstündigem Dauermarsch!

Der Herr Regierungsrat hatte den Verlust der Papiere gar nicht bemerkt. Er hatte den Onkel beim Wegfahren gebeten, ihn doch erst auf einem Umweg um das Dorf, das er zu sehen wünschte, herumzufahren. Dann war man gemächlich mit sehr viel Raststationen weiter gefahren. Etwa um drei Uhr hält der schöne Landauer ebenfalls vor dem goldenen Adler. Der Herr Landrat springt zuerst heraus – da steht plötzlich jemand vor ihm, verneigt sich sehr tief – so leicht und graziös, drückte er sich aus, wie eine schlanke Ähre im Winde; – ein paar Blätter, mit seiner eigenen Handschrift bedeckt, flattern in einer kleinen zitternden Hand und –

»Berberitze!« schreien Onkel und Tante. »Was fällt dir denn ein? Ja Mädel, wo kommst du denn her? Bist du durch die Luft geflogen?« –

Es mußte wahrhaftig so scheinen!

Berberitze war wirklich und wahrhaftig dem Wagen vorausgeeilt. Während derselbe den Bogen ums Dorf machte, hatte sie den großen Vorsprung erlangt, durch die vielen Raststationen war das Gefährt dann immer hinter ihr zurückgeblieben – trotz allem war ihre Leistung ein Meisterstück, vor dem der hohe Herr bewundernd den Hut zog. Die Blätter waren ihm bei seinem Vortrag unentbehrlich; er wußte seinen Dank gar nicht lebhaft genug auszudrücken. Berberitze mußte natürlich nun bleiben und bei Tisch seine Nachbarin sein, trotz des schwarzen Kleidchens. Für ein paar passende lichte Florhandschuhe und ein paar ausgeschnittene Schuhchen zu sorgen, hatte Tante ja während der langen Herrensitzung Zeit. Herr von Dahlen selbst schickte als weiteren Schmuck den prachtvollen Rosenkranz.

Das schönste kam noch.

Nach der hohen Auszeichnung, die Berberitze durch den berühmten Herrn Vorstand erfahren, wollte natürlich jeder die Ehre haben, mit ihr zu tanzen. Ihr Tanzkärtchen war nach der Polonäse im Nu gefüllt; ich hatte mich selbstverständlich dabei nicht vergessen. Als ich aber meine kleine Tänzerin kurz darauf zum Walzer holen will, ist sie verschwunden. Ich durchsuche den Saal und die Nebenräume – umsonst; – da auf einmal sehe ich hinter einer Gardine auf einem halbverdeckten Fensterplätzchen den Rosenkranz. – Ich hebe den Vorhang auf, da lehnt sie, die Königin des Balles, auf einen Stuhl hingesunken und – schläft. Nebenan donnern die Trompeten; sie stört es nicht. Überwältigt von Müdigkeit ist sie hingefallen; ich nehme sie bei der Hand, ich rufe sie – sie hört nicht; nichts stört sie aus ihrem festen Kinderschlaf. Ein weiches, glückliches Lächeln liegt auf ihrem Gesicht; ihr Atem geht ruhig aus und ein; so hat sie, gewiß in gar heiteren Träumen, ihren ersten Ball verbracht.

Erst nach ein paar Stunden gelang es der Tante, sie aufzumuntern und ins Hotel zu führen. Dem Herrn Regierungsrat muß die ganze Geschichte unsäglich gefallen haben; er schickte nach ein paar Wochen ein Kästchen mit einem kostbaren Schmuck aus länglich geformten, hellroten Korallen an Berberitzchen zum Danke für den langen Weg, den sie um seinetwillen zurückgelegt.

Ja, ja! Das war so einer von den Berberitzenstreichen. – Noch einen? – Nun denn, weil ich gerade von dem Ball und von den Korallen erzähle, noch ein ähnliches Stückchen zum Schluß, das an diese beiden Dinge anknüpft.

Berberitze war durch ihr glorreiches Balldebüt unanfechtbar gesellschaftsfähig geworden; meine Eltern sahen ein, daß man sie nun auch einmal in die Residenz zu einem Kasinoball einladen müsse; einige Bedenken blieben zuvor natürlich nicht aus; die Eltern hatten das Cousinchen seit langen Jahren nicht gesehen; würde sie sich in den etwas steifen und ausschließenden Beamtenkreisen, die das Kasino bildeten, auch bewegen können und sich nicht durch allzu kleinstädtischen Anzug auszeichnen? Ich beruhigte die Eltern und rühmte Berberitzens natürlichen Takt und natürliche Anmut so lange und so lebhaft, bis mir die Frau Mutter ziemlich bezeichnend mit dem Finger drohte. – Indessen wagte sie die Einladung für den großen Eröffnungsball, erbat sich aber das Recht, des kleinen Landfräuleins Balltoilette besorgen zu dürfen; Berberitze solle nur ihr genaues Maß einschicken und angeben, welche Farbe ihr die liebste sei.

Dieser Brief mag wohl etwas herablassend und gönnerhaft ausgefallen sein.

Berberitze antwortete in einem sehr »gebildeten« Briefchen und nahm die Einladung mit vielem verbindlichen Danke an. Für die Besorgung der Toilette aber dankte sie stolz. »Gehe ich auf den Ball, so kann ich mir auch einen Anzug schaffen«, stand zwischen den zierlichen Zeilen zu lesen. Wörtlich schrieb sie, sie sei schon mit der Anfertigung eines Anzuges beschäftigt, der hoffentlich den Beifall der Frau Tante finden werde.

Als sie bei uns ankam, trug sie ein einziges kleines Köfferchen in der Hand.

Darin sei das Ballkleid, meinte sie stolz.

Meine gute Mutter hatte förmliches Ballfieber in Berberitzens Namen und konnte es gar nicht erwarten, das fragliche Fähnchen zu sehen. Die Kleine aber tat gewaltig rar und geheimnisvoll mit ihrem Staat; am Morgen des Balles, meinte sie, werde sie sich schon in ihrem Glanze vorstellen, bis dahin möge man sie nur verschonen, sie freue sich sonst gar nicht mehr auf das Vergnügen.

Der Mutter aber war die Sache doch zu wichtig. Berberitze gefiel ihr über alles Erwarten gut; ihre natürliche, kluge und bestimmte Art war freilich etwas anders als die der schmachtenden Stadtdämchen. Aber die Originalität der Kleinen war fein und graziös, und so fand sie Gnade. Und gerade deshalb sollte Berberitze auch den andern gefallen; – ihr Anzug lag der Mutter ebenso am Herzen, als handle es sich um ihren eignen ersten Ball. Am Abend vor dem Fest bat sie die Kleine sehr ernstlich, sie möge ihre Toilette jetzt einmal vorführen. Es sei morgen früh so vielerlei zu tun, daß sie dann vielleicht nicht dazu käme, genaue Inspektion zu halten.

Berberitze lächelte stolz und geheimnisvoll, als sie sich nach ihrem Stübchen aufmachte, um sich zur Probe umzukleiden. Frau Mama ließ unterdessen die großen Lüster im Salon anzünden. Das kleine Fräulein brauchte merkwürdig kurze Zeit zu ihrem Anputz. Schon nach fünf Minuten erschien sie wieder; ich sah nur, daß sie sehr reizend aussah, sah das schöne bloße Hälschen, die schönen Arme, und daß sie ein rotes Kleid trug mit dem bekannten roten Korallenschmuck um den Hals.

Auch die Mutter schien vom ersten Eindruck hingenommen. Gleich darauf aber trat sie an das Mädchen heran, hielt die Lorgnette vor die Augen und rief gedehnt: »Sehr hübsch gearbeitet! Aber Kind, was ist das für ein merkwürdiger Stoff? Für ein seltsames Muster?«

Auch ich sah nun genauer hin – weiße Punkte begannen auf einmal vor meinen Augen zu tanzen – das Blut stieg mir vor Schreck in den Kopf. Nein, es war kein Irrtum möglich; was ich da vor mir sah als zierlich gefaltetes, neumodisch gemachtes Ballkleid – es war der alte geliebte Vorhang aus Tantchens Gaststube – nichts anders!

Unsere Blicke tauchten einen Augenblick lang verständnisvoll ineinander. Die meinen fragten: ist es möglich? Die Berberitzens geboten mir: schweige!

Und ich schwieg. Die Mutter hat sich noch den Kopf zerbrochen über dieses seltsame Ringelmuster und Berberitzens wunderbaren Geschmack. Sie behauptete lange, ihre Nichte könne so nicht zum Balle gehen, sie wolle morgen früh noch etwas anderes kaufen, man bekomme jetzt fertige Ballkleider in den Läden. –

Aber Berberitze war noch gerade derselbe kleine Eisenkopf wie früher. Sie habe sich so entsetzliche Mühe mit dem Kleide gegeben, und sei so glücklich gewesen, als sie diesen hübschen Stoff aufgetrieben; wenn sie das Kleid nicht tragen dürfe, so sei ihr der ganze Ball nichts wert; sagte sie. Ein geschenktes Kleid mache ihr nun einmal keine Freude.

Und dabei blieb sie; nichts machte sie irre; und sie sah so reizend aus in ihrem Eigensinn, daß der ängstlichen Mama vielleicht der Gedanke kam, ein Mädel wie dieses könne tragen, was sie wolle; einen so eigenartigen Reiz könne auch ein Kleid von Sackleinen nicht verderben.

So fügte sie sich in das Unvermeidliche, freilich erst, nachdem ich mit lachender, seliger Todesverachtung versichert hatte, ich wolle die Verantwortung auf mich nehmen, daß das purpurrote, weißgetupfte Cousinchen keinen Tanz sitzen bleibe.

Die ängstliche Mama brauchte ihre Nachgiebigkeit nicht zu bereuen. Sie erlebte den großartigsten Ballmuttertriumph, den es je gegeben hat. Mir wäre es lieber gewesen, Berberitze hätte in ihrem Vorhangskleid nicht allen so ausnehmend gut gefallen; zum Glück nahm sie alle Huldigungen sehr gleichmütig hin; nur die Schmeicheleien über die originelle »entzückende« Toilette schienen sie glücklich zu machen.

Als ich den nächsten Sommer vor Moosdorf vor Anker lag, fehlte nun freilich der rote Vorhang vor meinem Bett! Ich mußte ferner all meine Gedanken an das Gut, die ja sonst zur Hälfte dem Vorhang gegolten, auf die Berberitze konzentrieren!

Gott sei Dank, die hat mir's nicht übel vermerkt.

Das aber war das letzte Wort für heute und das der letzte Schluck! Ich muß nach Hause, daß mich meine gute alte Berberitze nicht schilt! – –

Und damit gute Nacht für heute«, sagte der alte Amtsrat.


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