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»Er«

Hat jemals der schöne Vergleich mit einem Blumenkranz einer Gesellschaft junger Mädchen wohl angestanden, so war dies bei dem noch heute allen – seitdem um 15 Jahre gealterten – Genossinnen seiner Blütezeit in hellster Erinnerung stehenden »Veilchenbund« der Fall.

Derselbe hatte sich in einer kleinen wohlhabenden, durch ein paar schöne alte Stadttore und ein vorzügliches Gymnasium berühmten Stadt des deutschen Nordens aus acht wirklich allerliebsten höheren Töchtern zusammengeschlossen. Es waren die gewesenen Schülerinnen der Selekta, einer Selekta, wie sie das Herz der Lehrer erquickte, voll Haltung und Gesetztheit, voll jungfräulicher Würde, Fleiß und Bildungsdrang, welche dem Bedürfnis nach engster Herzensverschwisterung durch Gründung jenes Bundes nachgekommen waren. Alle diese acht Veilchen in ihrer Sonderheit zu schildern, ist mir leider nicht möglich, da ich selbst diese Geschichte nur vom Hörensagen kenne; ich weiß nur, daß jedes dazu beitrug, den Kranz zu schmücken, und daß aus dessen duftigem Gewinde namentlich eine Blüte in jeder Weise bemerkbar hervorstrahlte.

Diese eine, Editha Foß mit Namen, die Tochter der verwitweten Frau Bürgermeisterin, war nicht nur die schlankste, die schönste und älteste aus dem Kreis, sondern es ward auch einstimmig behauptet, daß sie es sei, die dem Veilchenbund sein eigenartiges geistiges Gepräge aufdrückte. Die jugendliche Geselligkeit hatte nämlich durchaus nichts Kindisches; ein Zug nach dem Höheren, ein Hauch von Schöngeisterei, der Duft einer unverkennbaren ästhetischen Weihe ging in erfreulicher Weise durch das Ganze. Nur jemand, der fanatisch für jugendliche Frische und Natürlichkeit schwärmt, hätte diesen Grundzug der Vereinigung vielleicht etwas frühreif und altklug nennen können.

Die jungen Kränzchenschwestern fanden ihn höchst am Platze. Vielleicht war auch unter ihnen eine oder die andere, die lieber noch einmal eine Stunde mit den Puppen gespielt hätte, statt so viel Literatur, Kunst- und Weltgeschichte zu treiben, um im Kränzchen, wo man nur höchst »gebildete« Dinge vorlas und besprach, ihren Mann stellen zu können. Aber wer so kindlich empfunden hätte, wäre jedenfalls zu vorsichtig gewesen, um es sich merken zu lassen. Was hätte Editha dazu gesagt, Editha, die mit sechzehn Jahren eine vollkommene Dame, die so klug und reif und überlegen war! Editha hatte wohl kaum jemals mit Puppen gespielt, sonst hätte sie in so jungem Alter nicht so viel junge Weisheit in dem zierlichen, hochfrisierten und immer ein bißchen sehr hoch getragenen Köpfchen haben können; Editha sprach entzückend Französisch und Englisch, zeichnete, malte und musizierte hervorragend schön; Editha wußte alles, was sie einmal gelernt hatte, und konnte über alles reden, wobei sie sich etwas darauf zu gute tat, ihre eigenen – freilich mitunter sehr eigenen – Ansichten zu haben; mit einem Wort: Editha war das Vorbild aller ihrer Freundinnen, und es ist kein Wunder, wenn dieselben in dem Wunsche, ihr zu gleichen und ihrer Freundschaft wert zu sein, ein wenig früher, als es nötig war, aus dem sonnigen Garten der Kindheit ins reifere, ernstere Leben traten.

Dies letztere war wirklich der Fall und in mehr als einer Hinsicht. Die jungen Geschöpfe hatten schon – ebenfalls Edithas Beispiel folgend eine Menge zarter Freuden, Sorgen und Schmerzen im Kopfe und im Herzen, deren sie sich noch ein paar Jahre lang hätten entschlagen dürfen. Man »schwärmte«.

Gegen die sonst im Städtchen herrschende Gewohnheit hatte diese Vorzugsselekta schon während des letzten Schuljahres Tanzstunde mit »Herren« gehabt; das Eis zwischen den Inhabern der himmelblauen Primanermützen und den Trägerinnen blonder und dunkler Mädchenzöpfe war gebrochen, man kannte und grüßte sich, und Editha hatte durch die graziöse Gelassenheit, mit der sie sich die offenkundige Verehrung eines baumlangen blonden Gymnasiasten gefallen ließ, das Vorbild zu allerhand wirklichen und eingebildeten kleinen Herzensnöten, stillen Schwärmereien und reizenden heimlichen Poussaden gegeben.

Die Kränzchenfreundinnen machten untereinander kein Hehl aus ihren Neigungen. Eine wußte von der anderen, wen sie meinte, wenn sie ihr verständnisvoll zuflüsterte: Ich habe »ihn« gesehen! oder: »Er« kommt heut zu meinem Bruder! oder: Dies Veilchensträußchen ist von »ihm«. Es herrschte ein allseitiges süßes Verstehen, eine gewisse Freimaurerei des Vertrauens unter den jungen Seelen. Sang Editha Foß mit ihrer hohen hellen Stimme zum Klavier: »Ach, wie ist's möglich dann« – so griff es den anderen mächtig ans Herz, denn sie wußten genau, wer es sei, den der schlanke Backfisch »von Herzen lieb« habe, und wenn das hübsche schwarzlockige Kantorsdorchen beim Vorlesen von »Hermann und Dorothea« plötzlich leise zu schluchzen begann, so wußte man, welchem Hermann diese Tränen galten, und man fragte nicht weiter, tröstete mit einem Händedruck und schonte ihre Gefühle.

So stand es um den Friedstädter Veilchenbund, als derselbe plötzlich vor die aufregende Entscheidung gestellt wurde, seine traute Achtzahl durch Hinzunahme eines neuen Mitgliedes in die Zahl der Musen zu verwandeln. Eine entfernte Verwandte Edithas, die Tochter eines in der Nähe der See begüterten Landwirtes, sollte auf Wunsch der Eltern die etwas knabenhafte Bildung, die sie mit ihren Brüdern und einigen Vettern zusammen von einem alten Hauslehrer empfangen, durch Handarbeits-, Mal- und Sprachstunden im Städtchen vervollständigen. Die Frau Bürgermeisterin hatte selbst die Freundlichkeit gehabt, eine Pension für die Kleine auszusuchen und derselben den Vorzug, in Edithas Freundinnenkreis aufgenommen zu werden, in einem Brief voll mütterlicher Güte in Aussicht gestellt. Das Kränzchen panzerte sich von vornherein mit Milde und Nachsicht gegen das Landkind.

Leider hatten die klugen Acht von diesen schönen Tugenden mehr nötig, als sie geahnt hatten.

Die Kleine kam und war so ganz anders, als man sie sich gedacht hatte, zunächst nicht klein, sondern kräftig und schlank wie eine junge Gerte, dabei bildhübsch mit dem langen, armdicken, blonden Zopf und den lachenden braunen Augen in einem vom schnellen Wachsen etwas bleichen und schmalen, ausdrucksvoll geschnittenen Gesicht. Dabei war von ländlicher Befangenheit und linkischem Wesen nicht das geringste an ihr zu spüren. Frei und unbefangen, mit fröhlicher, schlichter Natürlichkeit fand sie sich in der neuen Umgebung zurecht; da war nichts Gekünsteltes und Angekränkeltes – es war ein Mädchen, mit einem Wort, wahr und klar, frisch und rein wie ein Tautropfen.

Bekanntlich ist es nun viel leichter, mit kleinen Schwächen anderer Nachsicht zu haben, als mit so großen Vorzügen.

Die Mitglieder des Veilchenbundes sahen es auf den ersten Blick, daß Käthe Langmann nicht zu ihnen passe. Die ganze Art und Weise des Mädchens war ihnen unbequem. Käthe hatte eine lustige Schlagfertigkeit, einen knabenhaften Witz, der zu dem »gebildeten« und etwas pathetischen Ton des Veilchenkranzes in störendstem Gegensatz stand. Auch daß ihr die Vorlesungen und klugen Unterhaltungen imponierten, hätte man nicht sagen können. Käthe schwärmte, obgleich sie etwas Tüchtiges gelernt hatte und oft mit einer kurzen klugen Bemerkung trefflich ins Schwarze traf, viel mehr für ein gemeinsames Spiel im Freien, eine gute Anekdote oder einen lustigen Schwatz als für die langen, lehrhaften Sitzungen. Schon im ersten Kränzchen fiel sie zwischen zwei Akte des »Tasso« mit der kindlichen Frage ein: »Ja, spielt ihr denn nun nicht endlich etwas Vernünftiges?'

Am schlimmsten war es, daß Käthe durchaus kein Verständnis für das Hauptthema des Kränzchens, für die kleinen Herzensseligkeiten und Herzenskümmernisse der verschiedenen Veilchen, hatte. Ihr waren die jungen Vettern daheim nichts andres als gute Kameraden gewesen, und sie begriff nicht, wie die Mädchen über den Gruß eines Gymnasiasten bis über die Ohren erröteten und es hernach wie einen holden Triumph im Kränzchen verkünden mochten: »Ich habe ›ihn‹ gesehen!«

Vergeblich suchten die anderen durch herablassende, freundliche Mitteilsamkeit ihr Interesse für den Gegenstand ihrer Neigungen zu gewinnen; Käthe merkte sich nicht einmal, wer mit dem »Er« einer jeden gemeint sei; ja, sie brachte die ungeheuere Harmlosigkeit zu Tage, auf einen speziellen Vertrauenserguß Edithas, der im Hinblick auf die große Jugend des Angeschwärmten mit den Worten schloß: »Ja, ja, das Leben ist schwer!« die entsetzliche Antwort zu geben: »Namentlich hier in Friedstadt! Du magst es glauben oder nicht, ich bin bei euch in der Stadt noch nicht einmal ordentlich satt geworden!«

Mit diesem Bekenntnis, das ihr furchtbar übel genommen wurde, hatte das arme Käthchen keine kleine Wahrheit ausgesprochen. Lag je ein Schatten auf ihrem zarten, reinen Antlitz, so war er, wenn er nicht einem Anflug von Heimweh galt, durch das entsetzlichste aller Worte: Hunger! hervorgerufen. Käthe war bei einem ältlichen Lehrerspaar in Pension, das den Ausbau ihrer Bildung zwar mit edlem und ängstlichem Eifer betrieb und von dem schönen Bewußtsein durchdrungen war, auch für das leibliche Wohl seines Pfleglings alles Erdenkliche zu tun, dabei aber leider von den Ansprüchen eines fünfzehnjährigen, bei den Fleischtöpfen Ägyptens auferzogenen Magens nicht den leisesten Begriff hatte. Winzige Bratenschnittchen und lächerlich zarte Butterbrote sprachen dem erst in Friedstadt so merkwürdig zu Tage tretenden Eßbedürfnis des armen Kindes Hohn. Käthe war äußerst schnell gewachsen, und man sah es den schlanken Formen ihres Körpers an, daß dieser Lust hatte, sich einmal sehr kräftig, voll und schwellend zu entwickeln. Im Interesse dieser Neigung aber sehnte sich der junge Magen mit wahrer Inbrunst nach den kräftigen heimatlichen Schinkenbroten, frischen Eiern und gemütlichen Schüsseln voll köstlicher dicker Milch.

So hatte Käthe auch ihren Harm, und wenn sie ihn noch so humoristisch auffaßte, er war doch da, und es gab Stunden, wo er ihr beinahe ebenso das junge Dasein trübte, wie es eine eingebildete unglückliche Neigung zu einem flotten Primaner zu tun imstande ist.

Gottlob, an solch bösem Übel litt Käthe wenigstens nicht, so wenig, daß sie nicht einmal merkte, wie die langgeschossenen Studenten in spe die blauen Mützen vor ihr noch tiefer zogen als vor den ehemaligen Tanzstundenfreundinnen. Den Primanern war es nicht entgangen, daß die kleine neue Einwohnerin sehr reizend und daß sie namentlich sehr anders war als die anderen. Ihre frische Natürlichkeit fiel schon durch die lachende Grazie, mit der sie jeden Gruß erwiderte, angenehm auf, und nachdem vollends Hans Cordes, der Primus von Prima und Edithas Flamme, sie bei ihren alten Pensionseltern, seinen speziellen Freunden, näher kennen gelernt, war das Urteil, Fräulein Käthe Langmann sei ein »prächtiger Kerl«, in der ganzen Prima wie eine unumstößliche Wahrheit gäng und gäbe.

Und in der Tat, Käthe war prächtig, wenn sie so ohne Ziererei in ihrer herzigen, harmlosen Weise mit einem der jungen Leute ins Gespräch geriet. Sie hatte mit den Brüdern zu Haus Latein und ein wenig Griechisch betrieben, kannte ganze Gesänge aus der Ilias und der Odyssee in der Übersetzung von Voß auswendig und schwärmte für seltene Schmetterlinge, interessante Pflanzen und schöne Steinkristalle, Dabei wußte sie leicht und frisch, ohne allen Anspruch, immer mit einem kleinen witzigen Seitensprung, über alles zu reden.

Es konnte Käthens Genossinnen nicht lange verborgen bleiben, daß die fremde, kecke Landpflanze sie an Beliebtheit bei den ritterlichen Blaumützen allesamt übertraf. Bei den üblichen Abendspaziergängen auf dem Wall, wo die Honoratioren des Städtchens sich zu treffen pflegten, bei den Sonntagmorgenkonzerten im schattigen Lindengarten der »Erholung« sowie bei jeder andern Gelegenheit, wo alt und jung zwanglos zusammentraf, machte es sich wie von selbst, daß das freundliche Lehrerspaar, unter dessen Schutz Käthchen in die Welt trat, an ein paar jungen Schülern freundliche Gesellschaft fand.

Käthe ahnte nicht im entferntesten, daß sie der Grund dieser Annäherungen war, und die jungen Herren selbst dachten nicht daran, die Sache irgendwie sentimental zu nehmen, wie vorher die kleinen Kourschneidereien der Tanzstunde. Sie plauderten fürs Leben gern mit dem urwüchsigen, eigenartigen Kind, das ihnen so klug und lustig Bescheid zu geben verstand; dabei hatte das Herz weder hüben und drüben, weder wirklicher- noch eingebildeterweise etwas zu tun.

Je vernünftiger aber die flotten Jungen und je harmloser und gleichgültiger Käthe und deren Pflegeeltern die Sache erfaßten, um so gewichtiger fiel dieselbe in den Beobachtungskreis des Veilchenkranzes.

Man war empört über die Anmaßung der wilden Dorfblume, fand ihr kindliches Entgegenkommen so unschicklich und unmädchenhaft wie möglich und kam sich im Gegensatz zu Käthens Jungenhaftigkeit doppelt wohlerzogen und »gebildet« vor.

Am meisten entsetzt, ja bis in die tiefste Tiefe ihres empfindsamen Herzens gekränkt war Editha. Umsonst gab sie sich alle Mühe, ruhig und gelassen wie früher zu erscheinen; der Gedanke, durch Käthens Dazwischenkommen gewissermaßen entthront zu sein, ließ ihr keine Ruhe, und das schlimmste, ach, das Allerschlimmste war: Hans Cordes, der Löwe des Gymnasiums, der ihr sonst bei allen Gelegenheiten seine Verehrung in seiner ritterlichen Weise bekundet hatte, begann sie zu »schneiden«. Er war zweimal beim Frühkonzert nur mit einem Gruß am Tische, den sie mit ihrer Mutter innehatte, vorübergegangen, während er es nie versäumte, sich halbe Stunden lang zwischen Käthe und ihrem langweiligen Pflegevater niederzulassen.

Käthens Stellung im Veilchenbund wurde immer bedenklicher. Ich glaube, man ging ernsthaft mit dem Gedanken um, die Zahl der Musen wieder auf die traute Acht herabzusetzen, und bemühte sich, da man das Herz zu dieser Gewalttat nicht mit einem Mal zu fassen vermochte, Käthen inzwischen so unfreundschaftlich und von oben herab wie möglich zu behandeln.

Dem lieben Ding ging dieses Verfahren nicht allzusehr zu Herzen. Sie war sich keiner Schuld bewußt und verstand die Anspielungen der gesitteten Veilchen kaum. Recht wohl hatte sie sich unter denselben nie gefühlt, doch war sie zu gutherzig und schlicht, um auch nur in Gedanken ein böses Urteil zu fällen, und sie tröstete sich selbst über die ungemütlichsten Stunden mit dem Gedanken, daß das Friedstädter Exil ja nicht ewig währen könne.

So blieb sie, wie sie war, harmlos, heiter und sonnig und nur hier und da einmal ein wenig schwermütig und gedankenvoll angehaucht, wenn ein arger Heimwehanfall oder arger – Hunger ihren gesunden Sinn bedrückte.

Schon waren seit ihrem Einzug im Städtchen ein paar Monate vergangen; der Frühling war dahin, und in den bunten Gärten, welche die Breite des ehemaligen Wallgrabens füllten, begannen unter dem goldgrünen Schatten der uralten Linden die Rosen des Sommers zu blühen. Mehr als je wurden jetzt an den weichen, duftenden Abenden die Spaziergänge vor dem Tor gepflegt, und wo man junge Stimmen schwatzen und sich begeistern hörte, da waren es zwei Dinge, die immer wiederkehrten: die nahen Ferien des Gymnasiums und das »Jugendfest«.

Letzteres war eine seit lange übliche nachträgliche sommerliche Gabe, die der alte Tanzmeister des Städtchens alljährlich den Schülern und Schülerinnen des letzten Winters zu spenden pflegte, der Ersatz gewissermaßen für den in anderen Orten üblichen Auslernball. Es wurde in den Sälen und Gartenanlagen einer kleinen Waldwirtschaft abgehalten und war in bezug auf Ausstattung und Bewirtung den bescheidenen Verhältnissen des Gastgebers, der sich die alleinige Bestreitung der Kosten nicht nehmen ließ, angemessen. Dennoch besaß es – als erste Gelegenheit für den jüngsten Damenflug des Städtchens, sich in duftiger Balltoilette zu zeigen – eine fast feierliche, zauberhafte Wichtigkeit. Seit Wochen klang durch die Versammlungen des Veilchenbundes das für das »gebildetste« Mädchenohr so köstliche Sprachregister von: Tüll, Spitze, Krepp, Contre, Walzer, Atlasschuhen, Blumentuffs usw.

Auch Käthe wurde, obgleich sie lachend versicherte, nur von ihrer alten, ein bißchen hinkenden Wirtschaftsmamsell tanzen gelernt zu haben, durch eine Einladung, mit welcher der freundliche Tanzkünstler den Kreis seiner Gäste zu vergrößern pflegte, beehrt – zu spät leider, um ein Ballkleid, Fächer und Ballschuhe zu beschaffen. So erschien sie in ihrem Sonntagsstaat, einem gestickten Batistkleid mit einer neuen Gürtelschleife von blaßrotem Seidenband, ein Kranz heller Rosen im aufgesteckten Blondhaar – gewiß kindlich und anspruchslos genug unter den flimmernden, bauschigen, wolkenzarten Gewändern ihrer feindseligen Freundinnen.

Dennoch fanden diese auch heute wieder genug an dem schlimmen Eindringling auszusetzen. Da die feine Einfachheit dem reizenden Dinge so zierlich stand, fand man sie natürlich aufs schlaueste berechnet und gesucht; geradezu toll aber war es, daß Käthe es einzurichten verstanden hatte, den ganzen Weg vom Städtchen durch die Eichhalde bis in die Waldschenke hinaus in Gesellschaft von Hans Cordes und im denkbar lebhaftesten Gespräch mit demselben zurückzulegen.

Natürlich konnte sie da gut die neueste Nachricht unter den Schwarm der Gefährtinnen bringen, eine aufs höchste überraschende und bestürzende Nachricht: Hans Cordes – sie nannte ihn weder »Herr« Cordes, noch »er«, sondern sehr ungeniert »Hans« – weile heute für lange Zeit zum letztenmal im Städtchen. Er hatte die entzückende Erlaubnis bekommen, einen Lieblingslehrer, der eine geognostische Studienreise in die Tiroler Alpen antrat, gewissermaßen als Beistand und Famulus zu begleiten. Der Lehrer hatte ihm selbst mit der Versicherung, über seine Privatstudien zu wachen, die Verlängerung der Ferien ausgewirkt. Schon am nämlichen Abend um elf Uhr reisten die zwei Glücklichen hinaus in die Welt; das »Jugendfest« sollte sich nur in seiner ersten Hälfte der Teilnahme des besten und flottesten Tänzers erfreuen.

Käthe erzählte dies alles harmlos und strahlend, beglückt, weil sie eben ihren Begleiter so glücklich gesehen und das Versprechen seltener Stein- und Blumenexemplare für ihre kleinen Sammlungen erhalten hatte. Welche Wirkung die Nachricht auf Editha ausübte, sah oder bemerkte sie gar nicht. Editha hatte schon seit Wochen Contre und Cotillon, die in die zweite Hälfte des Tanzprogramms fielen, an Hans Cordes vergeben; so war sie auf jeden Fall um das Beste des Festes betrogen, auch wenn es nicht gerade »er« gewesen wäre, der da so leichten Herzens, so frisch und seelenvergnügt eine Reise für fast ein Vierteljahr in die weite Welt antrat!

Zum Glück hatte der große Held des Tages es wenigstens einzurichten gewußt, durch Ausgleich mit einem Freund ein paar der ersten Tänze auf Edithas Karte frei zu machen, die er nun, während man in dem über dem Tanzsaal gelegenen kleinen Salon den Einleitungskaffee nahm, mit großer Liebenswürdigkeit für sich erbat. Hätte Käthe Langmann acht gegeben, so hätte sie sich über das glückliche Gesicht, mit welchem ihr gefeiertes Bäschen diese Programmänderung hinnahm, gewiß ebenso selbstlos wie vorhin über Hans Cordes' Wanderglück gefreut. Aber Käthe gab nicht acht; sie hatte genug zu tun, die Nummern ihres eigenen Tanzkärtchens unter die sie förmlich umlagernden Ballherren der Ordnung gemäß zu verteilen, und auch dabei war sie nur mit halber – ach nein, leider muß ich es gestehen – kaum mit dem vierten Teil ihrer Aufmerksamkeit. Im Lehrerhaus hatte es heute in anbetracht der Genüsse, die der Nachmittag bringen würde, ein mehr als dürftiges Mittagsmahl gegeben; der lange Weg durch den würzig duftenden Wald hatte, so schön und sommerprächtig er war, begreiflicherweise auch nichts Sättigendes gehabt; um so freudiger war nun den schönen braunen Mädchenaugen der herzstärkende Anblick eines stattlichen Tellers frischer Pfannkuchen gewesen, den sie bei ihrem Eintritt in den kleinen Salon zwischen den gestillten ländlichen Kaffeetassen auf dem Büfett thronen gesehen. Mit ängstlicher Spannung verfolgte sie nun diesen Teller, der, von der Hand eines jugendlichen Kellners umhergeschwenkt, mehrmals, ohne ihr dargeboten zu werden, an ihrem umlagerten Platze vorbeischwebte; schon war das Kaffeetäßchen, in dessen Besitz sie ein aufmerksamer Jüngling gesetzt, geleert, von unten klangen die ersten lockenden Takte der Polonäse herauf, und Paar um Paar folgte der festlichen Mahnung. Nun bot auch ihr Tänzer ihr den Arm, die letzte Hoffnung schwand; fast mit unterdrücktem Weinen – Hunger ist ein gar zu entsetzliches Gefühl – schwebte sie mit ihm an dem Büfett vorbei, auf welches eben der bis auf einen letzten Kuchen geleerte Teller zurückgesetzt worden war.

Käthe hatte auf diesem ihrem ersten Ball den größten Anlaß gehabt, etwas eitel und eingebildet zu werden; niemand schien zu finden, daß ihr leichter schwebender Tanz an die hinkende Lehrmeisterin erinnerte, sie flog von Arm zu Arm, und der leichte Anflug feinen leuchtenden Rotes, den die Bewegung auf ihr klares Gesicht malte, gab zu mehr als zu einer kühnen Schülerschmeichelei Anlaß. Aber Käthe war mit ihren Gedanken leider durchaus nicht bei der Sache, und so war es kein Wunder, daß die schwunghaften Liebenswürdigkeiten auf sie keinen Eindruck machten; sie kämpfte einen ihre ganze Aufmerksamkeit fesselnden Kampf mit ihrem murrenden, knurrenden, fast vor Hunger schmerzenden Magen; wie ein Lichtgebild tauchte die Erscheinung des letzten, einzigen liegengebliebenen Pfannkuchens, auf den sie ja eigentlich ein Recht hatte, immer wieder vor ihrem Geiste auf. So sehr sie sich schalt und der entsetzlichen Prosa ihrer Gedanken vor sich selber schämte, das Bild des Pfannkuchens ließ sie nicht los, ebenso wenig wie ihr Magen aufhörte, seine peinigenden Forderungen geltend zu machen.

Erschöpft vom raschen Tanz und beinahe ohnmächtig vor Hunger lehnte sie einen Augenblick lang rastend an einem blumenbekränzten Pfeiler. Dicht hinter ihr saß Hans Cordes an der Seite seiner Tänzerin, Fräulein Editha, beide gleichfalls eine kurze Pause machend im stürmischen Galopp.

»Mein letzter Tanz«, sagte »er« eben.

Sie seufzte. »So wollen Sie wirklich nicht einmal bis zur großen Pause bleiben?«

»Unmöglich. Sie wissen, ich verliere selbst am meisten dabei.«

Halblaut setzte sich diese Unterhaltung fort.

Hans war es seinen Eltern schuldig, diesen letzten Abend mit ihnen zuzubringen. Hätte er das Vergnügen gehabt, die nächste Tour mit Fräulein Editha tanzen zu dürfen, so hätte er die Zeit natürlich mit Freude zugegeben; so aber wolle er lieber ein Viertelstündchen oben im kleine Salon allein sein, ehe er ging, um ein kurzes Abschieds- und Dankgedicht, das sein Intimus dann bei Tisch in seinem Namen vorlesen würde, schnell fertig zu schmieden.

Käthe hätte die Unterhaltung, die dicht in ihrer Nähe geführt wurde, verstehen können und verstehen müssen, wenn sie nur mit einigem Interesse aufgehorcht hätte. Aber ihr Blick war mit einem eigentümlich abwesenden, nachsinnenden Ausdruck in den Wirbel der Tanzenden gerichtet; wie auf einem Unrecht ertappt, fuhr sie zusammen, als einer der jungen Leute sie mit tiefer Verneigung um die Fortsetzung des vorhin mit ihm begonnenen Tanzes bat.

Auch Editha wurde zu gleicher Zeit von einem unermüdlichen Unterprimaner ihrem Ritter entführt; mit offenbarer Verstimmung folgte sie der Aufforderung, die ihr in diesem Augenblick, da Hans Cordes sich eben zu ein paar schwermütigen Abschiedsworten aufgerafft hatte, so ungelegen wie möglich kam. Käthe sah noch im Davonschweben, daß ein fast feindseliger Blick aus Edithas vielbewunderten Veilchenaugen auch zu ihr herüberstreifte; weshalb, ahnte sie nicht einmal und die ganze Sache verursachte ihr auch durchaus nicht viel Nachdenken; der schnelle Tanz wirbelte ihr ohnehin die Gedanken so eigentümlich untereinander, ein Gefühl von Schwäche und Schwindel, wie sie es nie vorher empfunden hatte, brach über sie herein, und sie atmete wie erlöst auf, als ihr Tänzer, das tiefe Erbleichen ihres Gesichts bemerkend, sie schnell aus den Reihen der Tanzenden zu einem stillen Plätzchen in der Nähe der Saaltür führte. In derselben Sekunde ging Hans Cordes dem Ausgang des Saales zu und blieb, ihr die Hand freundlich entgegenstreckend, einige Zeit vor dem Stuhl des schon wieder ganz fröhlich lächelnden Kindes stehen.

»Ich wollte mich eben auf Französisch empfehlen und freue mich, daß ich wenigstens noch lebewohl sagen kann. Leben Sie recht wohl, Fräulein Käthchen! Meine Versprechungen werde ich feierlichst halten. Wollen Sie mir auch einen Gefallen tun? Bringen Sie Fräulein Editha doch noch einen Gruß; ich möchte nicht durch einzelnes Abschiednehmen Aufsehen erregen. Und nun ade, auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« Sie sagte es mit ihrem treuherzigsten Gesicht, ihm freundlich und fröhlich nachnickend, bis er entschwunden war.

Gleich darauf saß sie wieder in jenes traumhafte Sinnen von vorhin versunken. Es war doch lächerlich, so schwach, so kindisch abhängig von einem leeren Magen zu sein! Da drehte sich der Saal schon wieder so eigentümlich vor ihren Augen, wie vorhin beim Tanzen. War das Editha, die aus den verschwimmenden wogenden Kreisen von Weiß, Lichtblau und Rosenrot jetzt so seltsam bedeutungsvoll herüberblickte und auf sie zuschritt? – Nein, nicht auf sie zu – Gott sei Dank! – Sie ging aus der Saaltür hinaus. Jetzt ließ das Wallen und Wogen endlich nach. Sie sah wieder klar, der Schwindel war vorbei, dafür ließ sich das Drücken und Schmachten des schlecht gezogenen Magens aufs neue in empfindlichster Weise spüren. Käthe machte plötzlich ein Gesicht, als ob sie einen großen, gewaltigen Entschluß fasse. Schnell, um einem Tänzer zu entgehen, den sie eben mit tänzelndem Schritt von fern auf sich zuschreiten sah, stand sie von ihrem Platz auf, steckte ein Rosensträußchen, das sie in der Hand trug, rasch im Gürtel fest und eilte, ohne nach rechts und links zu sehen, in höchster Eile aus dem Saal über den Flur und die Treppe hinauf nach dem kleinen Salon.

Mit einem Ausdruck kindlichen, schelmischen Mutes öffnete sie die Tür. Tief und schwer atmete sie auf.

»Gott sei Lob und Dank!«

In demselben Moment entfuhr ein leiser, erschrockener Schrei ihrem Munde: »Editha!«

»Ja, wie du siehst, ich selbst!« ließ sich eine tadelnde Stimme vernehmen. Editha trat aus der dem Büfett benachbarten Fensternische, in der sie gestanden, wie zum Kampf entschlossen auf die zitternde Käthe zu. Lange ließ sie den Blick fest und durchdringend auf dem zuckenden, verlegenen Gesichtchen ruhen.

»So!« sagte sie endlich streng. »Also du bist endlich einmal abgefaßt, meine Liebe! Das trifft sich ja schön! Ich habe dich längst durchschaut. Und dabei kannst du so kindlich tun, so unschuldig! Gestehe jetzt, was du hier willst! Was für ein Recht hast du auf › ihn‹? Was geht ›er‹ dich an?«

Käthe stand mehr erstaunt als vernichtet vor der empörten Richterin. Röte und Blässe wechselten rasch auf ihrem ausdrucksvollen Gesicht, und ganz schüchtern schwang sie sich endlich zu den Worten auf: »Ach, liebe Editha, wie kann ich denn wissen, daß du ihn auch willst? Höre, ich kann es kaum glauben, bist du wirklich auch um seinetwillen heraufgekommen?«

»Ich auch?« brauste Editha auf. »Das wagst du zu fragen? Weißt du nicht, daß er mein ist? Aber man merkte es ja heute deutlich genug: Du hast es auf ihn abgesehen. Du willst ihn mir rauben!«

Jedenfalls war es ein Zeichen von gesunder Unerschrockenheit, daß Käthe trotz des drohenden Ernstes dieser Worte auf einmal verschmitzt zu lächeln wagte.

»Editha«, begann sie begütigend, »ich hätte nicht geglaubt, daß wir in so gleicher Lage sind. Aber, da dies der Fall ist, wirst du mich ja verstehen. Sieh, so wie heute war es mir noch nie zu Mute, ich konnte es nicht mehr aushalten, ich mußte ihn haben.«

»Und das sagst du so offen und keck? Und schämst dich nicht« – – –

»Editha, haben wir uns nicht eigentlich einander ertappt?« fiel Käthe mit plötzlich ganz zurückgewonnener heiterer Laune ein. »Es ist ja scheußlich von uns beiden, ja, ja, aber – – Weißt du, mir fällt auf einmal das Richtige ein: wir wollen ihn uns doch teilen!«

Nun war es mit dem letzten Rest von Edithas Ruhe zu Ende.

»Du spottest noch!« rief sie zitternd und bebend, »du leichtsinniges, liebloses Geschöpf! Wie elend, mich mit dir zu streiten! Nein«, schrie sie auf, »nimm ihn, nimm ihn! Sei glücklich mit ihm! Ich werde meinen Schmerz ewig im stillen tragen!«

»Aber, Editha, so sei doch klug, ich verstehe dich nicht!«

»Genug, kein Wort weiter! Du und er, ihr seid« –

»›Er‹«? Editha, nein, so geh' doch nicht fort, warte noch einen Augenblick! Ich glaube, wir haben uns überhaupt gründlich mißverstanden! Was – sag' doch nur – was oder wen meinst du denn eigentlich?«

Schon in der Nähe der Tür wandte sich Editha noch einmal um.

»So redest du dich nicht aus! Du weißt, wen ich meine! Hat er nicht eben noch unten heimlich und lange mit dir gesprochen? Hat er dir nicht gesagt, du solltest ihn hier treffen, ›er‹, Hans Cordes, der Eine, der lange für mich der Einzige war« –

Ein lautes, lustiges, schallendes Gelächter schnitt ihr die Rede ab.

»O, Editha, das ist ja ein köstliches Mißverständnis! und ich – lache mich nicht zu sehr aus! ich meine – den Pfannkuchen; ich wollte mir den Pfannkuchen holen – sieh, diesen letzten Mohikaner, der da auf dem Teller liegt! – Wir hatten trockene Bohnen heute, das einzige Essen, das ich nicht hinunterbringen kann. Vorhin bekam ich nichts, ich fieberte nach einem Bissen; der Heißhunger brachte mich beinahe um« –

Weiter sagte sie nichts. Sie hatte, während sie sprach, das Beweisstück zur besseren Erläuterung in die Hand genommen und mit den spitzen Fingerchen in zwei schöne, die leckere Füllung zeigende Hälften zierlich auseinandergebrochen.

»Willst du?« fragte sie und hielt die eine Hälfte mit lachender Großmut ihrem Gegenüber hin.

Aber Editha war weit davon entfernt, Pfannkuchenappetit zu verspüren. Sie war auf einen Stuhl gesunken, drückte das Spitzentüchlein gegen das Gesicht und schluchzte. Sie wußte nichts Besseres zu tun und zu denken in diesem Augenblick; ihre Schwärmerei, ihre Würde, ihre Höhe, alles schien rettungslos zusammengebrochen; sie fühlte nur das eine: sie hatte sich unsterblich blamiert.

Und Käthe stand dabei und verzehrte » ihn«. Sie wußte auch nichts Besseres zu tun.

Erst nachdem sie den letzten Bissen gegessen hatte, kam es wie neuer Schwung, wie neue Kraft und neuer Lebensmut über sie; sie ging auf Editha zu, schlang den Arm um sie und sagte lieblich lächelnd mit gemütlichem Ton:

»Weine nur nicht! Dein ›Er‹ hat es mir noch extra aufgetragen: ich soll dich von ganzem Herzen von ihm grüßen!«

* * *

Dieser »Er« saß indes in einem kleinen, an den Sommersalon grenzenden Skatzimmer, wo er seinen Cantus fertig dichten wollte. Er hatte die ganze kleine Szene mit angehört, und so ist es verständlich, daß aus dem Dichterwerk nichts Ernstes und nicht gerade etwas Unsterbliches geworden ist.

Schließlich kam darauf auch nicht viel an. Er wollte ja ohnehin nicht Dichter werden. Und in seiner Lebenskarriere scheint er schon seinen Mann gestellt zu haben. Er ist heute, mit fünfunddreißig Jahren, Professor, und Käthe – Editha heiratete schon mit achtzehn Jahren einen reichen Friedstädter Fabrikanten – Käthe ist seit fünf Jahren sein Weib und jetzt seine liebe kleine Professorin.


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