Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das gute Herz.

Wenn es einer, der in der Jugend für einen guten Kopf, eine verheißungsvolle Kraft gegolten, bis über sein vierzigstes Jahr hinaus noch zu nichts gebracht hat, so nimmt die Welt es ihm bitter übel, daß er ihre Erwartungen täuschte, und zieht ihr Zutrauen meist auf die kränkendste Weise von ihm zurück.

Dadurch hat schon mancher, dem es nicht an Redlichkeit und Geist, sondern nur an Erfolg fehlte, schließlich Ausdauer und Selbstvertrauen verloren und ist, wie die Vettern und Basen es ihm voraussagten, wirklich zu Grunde gegangen.

Auch der arme Lorenz Anwalden wäre auf seiner erfolglosen Jagd nach dem Glück, auf der ihn schon längst nicht mehr das ermutigende Horngeschmetter beifallsreicher Freunde begleitete, längst ermattet, längst verzweifelt liegen geblieben, hätte er nicht einen so lieben und treuen Kameraden gehabt, der fest und unverbrüchlich zu ihm stand, der ihm vertraute und mit ihm hoffte und mit allen seinen Träumen in jener glücklichen Zukunft lebte, die durch Anwaldens Fleiß und Genie einst doch noch anbrechen mußte.

Dieser herzige Kamerad war Cordchen, Anwaldens älteste Tochter.

Der törichte Mann hatte nämlich, was ich hier gleich einschalten will, mit kaum fünfundzwanzig Jahren ein armes junges Ding geheiratet, das er seit seiner frühesten Kindheit liebte. Damals war er sicher, durch eine neue Wasserhebemaschine, die er erfunden hatte, in kurzer Zeit Hunderttausende zu verdienen. Leider beutete, da man von Reichspatenten damals noch nichts wußte, ein anderer seine Erfindung aus; und der auf goldenen Träumen errichtete Hausstand hatte Mühe, sein windiges Gefüge gegen die Stürme eines armseligen, wechselvollen Lebens zu behaupten.

Lustiger als seine Erfolge wuchs dem strebsamen jungen Ingenieur eine Schar froher, schöner Kinder empor.

Die schlecht bezahlte Stelle, die er in einem technischen Bureau – einstweilen – bis zum Eintreffen des Glücks – inne hatte, erlaubte freilich nur schmale Brot- und Fleischrationen, aber trotzdem waren die Mädchen und Buben voll frischer Lebenskraft, trotzdem lag in den großen Augen aller jene strahlende Erwartung einer glückseligen Zukunft, welche sie mit den ersten Atemzügen eingesogen hatten.

Zwischen neuen Plänen, immer neu aufrauschenden Hoffnungen und tiefen Entmutigungen floß die Flut des Lebens so weiter und weiter.

Die Mutter der fünf Kinder starb dahin mit dem leisen Weh beginnender Enttäuschung im Herzen, dabei aber mit dem holden Trost, daß ja Cordula da sei, um ihre Pflichten zu übernehmen und den Vater mit Hoffnungen zu unterstützen, kühner, frischer und freudiger, als sie es noch je zustande gebracht hätte.

Niemals hat ein fünfzehnjähriges Mädchen ihren ersten Schmerz tapferer bezwungen und die junge Brust furchtloser in den Wogenschlag hochgehender Lebensflut getaucht als Cordula.

Sie führte den ganzen Haushalt allein wie am Schnürchen; sie bannte die wilden Jungen, die auch lieber »Erfinder« spielen wollten, an ihre Schularbeiten fest; sie kleidete die Mädchen, wobei deren Liebreiz ihrer eignen Geschicklichkeit half, immer mit ärmlichen Mitteln etwas herzustellen, was ihnen reizend stand; aus alten Kleidern des Vaters verstand sie, neue für die Knaben zu schaffen, und aus dem geringen Quantum von Fleisch und Gemüse, das ihr Beutelchen hergab, immer neue Gerichte, die allen schmeckten, die alle satt und froh machten.

Dieses hastige Tagewerk erklärte es, daß Cordchen noch nicht einmal zu der Entdeckung Zeit gefunden hatte, wie reizend sie war, wie fein und blütenweiß ihr Gesicht, wie lieblich der bläuliche Anhauch der zarten Schläfen, wie glänzend ihr Haar und wie tiefdunkel und beredt ihre freundlichen Augen.

Immerhin hatte sie Muße, an andre zu denken, die nicht so glücklich, so hoffnunggesättigt waren, wie sie selbst.

Nicht allein, weil sie ihm selbst so wohl tat, ihm alle Wünsche ablauschte, ihm alles zuliebe fügte, nannte der Vater sie sein »gutes Herz«. Nein, auch weil er sie hundertmal angetroffen hatte, wie sie ein mühsam aufgespartes Restchen vom Mittagsmahl verstohlen zu der kranken Nachbarin trug, wie sie am Abend, wenn alles für die Geschwister getan war, noch ein winziges Jäckchen oder Strümpfchen aus dem Arbeitskorb hervorbrachte, das später in eine der übrigen Dachwohnungen des hohen Vorstadthauses wanderte. Keinen Bettler ließ sie von der Schwelle ziehen, ohne ihn freigebig zu beschenken, ohne ihm wenigstens durch ein Stück Brot, das sie sich selbst an der Vespermahlzeit abzog, den guten Willen zu zeigen.

Aber eben deshalb wurde ihr Kosenamen »gutes Herz« von seiten des Vaters oft in ernstem und mahnendem Tone ausgesprochen.

»Du wirst das Geben, das schöne Vorrecht des Reichtums, noch einmal in vollstem Maße genießen können, gutes Herz. Jetzt in dieser Übergangszeit, darfst du wirklich nicht jedem reisenden Strolch Gehör geben. Bedenke, Cordchen, wenn es bekannt wird, daß du hier schutzlos und allein bist und eine immer offene Hand hast! – Später, wenn wir uns erst Leute halten können ...«

»Ach, Herzenspapa, wie freue ich mich auf diese Zeit!«

»Ich auch, du gutes Herz. Und sie ist nun nicht mehr fern. Es ist ein enormes Glück, daß ich diese Quellen fand, daß ich auf die Idee dieses großen Wasserleitungsunternehmens kam. Es handelt sich nun nur darum, die richtigen Unternehmer zu finden.«

»O Papa, was bist du doch für ein einziger, herrlicher Mensch!« – – – –

Leider traf, noch ehe jene Wasserbauunternehmer sich gefunden und noch ehe Cordchen im Hinblick auf das kommende Glück sich ihre hilfsbereite Barmherzigkeit vorläufig abgewöhnt hatte, ein unvorhergesehener Unglücksfall mitten im Winter das hoffnungsreiche Haus.

Das Bureau, dem Anwalden seit fünfzehn Jahren seine Kräfte widmete, löste sich infolge einer verunglückten Spekulation plötzlich auf, und alle Arbeiter wurden brotlos.

Es war das erste Mal, daß Lorenz Anwalden jenes schwindelgleiche, furchtbare Angstgefühl vor gänzlichem Ruin, vor der wirklichen, nackten Not empfand, das erste Mal, daß er sich scheute, seinem vertrauenden Kinde entgegenzutreten.

Aber Cordchen küßte ihm, ehrlich und mutig lächelnd, die schweren Tränen von den Wimpern.

»Herzenspapa, das ist ja gerade dein Glück! Nun hast du endlich einmal Zeit, von früh bis abends deine Kraft den Wasserbauplänen zu widmen.«

»Wahrhaftig! Insofern könnte es ein Glück sein!« – –

Und er beutete ihn aus, so gut er konnte, diesen glücklichen Zufall, der ihn arbeitslos machte. Den ganzen Tag lang war er auf den Beinen, er klopfte an alle Türen, er erschöpfte seine schöne, hoffnungsvolle Beredsamkeit.

Umsonst! Niemand ging auf seine Pläne ein; niemand wollte ihm glauben, daß es ein so enormes Glück, eine so unerschöpfliche Geldquelle sei, die er so eifrig, so fieberhaft flehend ausbot.

»Vielleicht, Papa, macht dein abgetragener Überrock die Leute mißtrauisch«, meinte Cordchen daheim, das kluge, das gute Herz. »Deine Talente würden ihnen mehr einleuchten, wenn sie dir selbst schon zu etwas verholfen hätten. Du weißt ja, wie kurzsichtig die Menschen sind.«

Mit diesem mitleidigen Seufzer über den traurigen Standpunkt der Welt setzte sie sich hin und zählte den Rest ihres kleinen Vermögens, den längst preisgegebenen Sparpfennig inbegriffen, eifrig durch.

»Du brauchtest einen neuen Überrock ja einstweilen nur zur Hälfte zu bezahlen; so weit reicht unser Vermögen jedenfalls; und drei, vier Wochen komme ich mit dem Rest in unserem kleinen Haushalt noch vorzüglich aus. Bis dahin findest du hundert-, tausendmal Rat. Bis dahin können wir gesichert, können wir reich sein.«

Ihrer reizenden Überredungskunst konnte man nicht leicht widerstehen. – Mit einem neuen Überrock ist es, gerade in Fällen der Not, ein eigenes Ding. Ein neuer Überrock gibt ein wundervolles Gefühl des Geborgenseins, der Sicherheit. Es ist, als wage sich das Gespenst der Not nicht so frech heran, solange man anständige Kleider trägt.

So wurde denn der Überrock bestellt und ein paar Tage später in aller nur wünschenswerten Eleganz abgeliefert.

»Nun tausendmal Glück auf den Weg«, rief Cordchen dem armen Glücksjäger zu, als er, in dem neuen Kleidungsstück, zum Ausgehen gerüstet, stattlich und vornehm vor ihr stand. –

Es war an einem Sonnabend, und Cordchen hatte mit dem Säubern und Putzen ihres armseligen Königreichs so viel zu tun, daß sie ihrem eleganten Papa nicht wie sonst das Geleit bis zur Tür geben konnte. Dies hatte Lorenz vorher berechnet, denn Cordchen sollte es nicht sehen, daß er den schönen Überrock im Vorflur wieder ablegte und an Stelle des alten, abgeschabten, in den Kleiderschrank hing. Er hatte heute einen Weg vor, von dem sein armer Liebling, sein gutes Herz, nichts zu wissen brauchte, den Weg zu einem um Zahlung drängenden Gläubiger, den der Anblick des neuen Rockes gewiß nicht zu Mitleid, Geduld und Einsehen veranlaßt hätte.

Mit heißen Gebeten, mit nimmermüdem Hoffen begleiteten Cordchens Gedanken den Vater diesen ganzen Vormittag.

Während das Küchenfeuer lustig prasselte und ein Zimmer nach dem anderen in blanker, festlicher Sonnabendsreinheit unter ihren flinken Händchen erstand, wurde ihr selbst wunderbar festlich und erwartungsvoll zu Mute.

Es mußte nun kommen, das Glück, das Glück! Wie wollte sie es jubelnd empfangen! Wie wollte sie den Becher der Freude über die Kinder ausgießen! – Lieber Gott, seit zwei Jahren wünschen sich die Buben, einmal in den Zirkus zu gehen. – Der Nachbarin konnte eine warme Jacke wahrhaftig auch nichts schaden. – Ach, und die armen Handwerksburschen jetzt da draußen in dem Schnee – – – –

Ein gellender Klingelruf störte sie aus ihrem Sinnen auf. Das ist der Vater – das Glück!

Blutrot eilte sie nach der Tür.

»Papa!«

Nein, er war es nicht. – Ein blasses, trauriges Gesicht, von wirrem Greisenhaar umrahmt, starrte ihr entgegen.

»Liebes Fräuleinchen«, klang es, zitternd vor Kälte und Kraftlosigkeit, »ach, liebes Fräulein, geben Sie mir armen, alten Mann eine Kleinigkeit!«

»Können Sie denn nicht arbeiten?« fragte sie, gegen ihr Mitleid ankämpfend, wie der Vater es ihr für ähnliche Fälle geraten hatte.

»Arbeiten! Du lieber Gott! Ich komme aus dem Spital. Wie eine solche Krankheit einem das Mark aus den Knochen saugt, kann sich ein junges Fräulein freilich nicht denken. Und nun die Kälte –«

»Haben Sie denn zu Haus nichts Warmes anzuziehen?« fragte das gute Herz, die dünne, zerlöcherte Jacke des Armen mit ängstlichen Blicken musternd.

Ein klägliches, bitteres Lächeln wurde ihr zur Antwort.

»So sind die Leute, denen es gut geht! Nein, mein liebes Fräuleinchen«, sagte der alte Mann, »ich habe weder etwas Warmes, noch überhaupt ein Zuhause. Zum Vergnügen geht man heute nicht betteln.«

Der Vorwurf in diesen Worten war so schneidend, daß er ein kälteres und härteres Herz, als das Cordchens erschüttert hätte. Cordchen wurde blaß und dann dunkelrot.

»Ich meinte es nicht böse«, sagte sie. Und dann trat sie in den Flur zurück und empfand den traulichen Wärmehauch, der von der Küche her zog. »So sind die Leute, denen es gut geht«, wiederholte sie leise.

Ach ja, wie gut war es ihr immer ergangen! Sie wollte die Armut meistern, und dabei hatte sie selbst nie gehungert und nie gedarbt, sie war vor Kälte geborgen, und inmitten des Winterschnees blühte die Erwartung eines ganz nahen, ganz sicheren, strahlenden Glückes wie Rosen um sie her.

Ja, sie mußte dem Armen helfen! Natürlich hatte sie den Vater falsch verstanden; so weit durfte die Härte nicht gehen! – Aber womit, womit nur gleich? – Sie sann ein Weilchen nach, dann ging es erlösend, wie ein Sonnenleuchten, über ihr Gesicht.

Natürlich – Papas alten Überrock! Daß sie nur nicht gleich darauf verfallen war! Papa brauchte ihn ja im Leben nicht mehr. Als Leiter eines großen Bauunternehmens wird er sich hüten, im alten, fadenscheinigen Rock einherzugehen! – Und die Buben? – Pah, für die gab's dann auch einmal neue, hübsche Überzieher, lichtbraune von flockigem Wollenstoff, mit dunklen Kragen, wie sie die reichen Jungen jetzt haben –

Froh über ihren Entschluß eilte sie nach dem Kleiderschrank, nahm im Dunkeln den Rock vom bekannten Nagel und reichte ihn dem Alten hinaus.

»Da! Und tragen Sie ihn gesund!«

Blitzschnell schlug sie die Tür hinter der Liebesgabe zu, teils um dem Dank zu entgehen, teils um der Milchsuppe, die auf dem Herde dem Kochen nahe sein mußte, zu Hilfe zu kommen.

Wie reizend in seiner holden Befriedigung, in seiner glückseligen Güte war das junge Gesicht, das sich über den Dampf dieser Milchsuppe beugte!

Nun dauerte es nicht lange, da kündeten sich mit sanftem Klingelruf die aus der Schule heimkehrenden Schwestern an, dann mit dem bekannten Sturmgeläut die großen Jungen.

Und nun mußte die Glocke jeden Augenblick noch heftiger tönen, und der Vater mußte kommen!

Jetzt! Das war sein Schritt!

Aber seltsam, er klingelte gar nicht, sondern klopfte nur leise, wie er es tat, wenn er abgespannt, müde und traurig war und die schrille Stimme der alten Klingel nicht hören mochte.

Allen voran flog Cordchen auf die Tür zu. Ein Blick im Halbdunkel auf das geliebte Gesicht erzählte ihr eine lange Geschichte von einem in Qual und Sorge verbrachten Vormittag.

»Wieder nichts, mein gutes Herz!«

»Ach, tröste dich, Papachen. Nachmittags hast du immer mehr Glück gehabt als früh. Heute nachmittag wird dir's gut gehen! Ich fühle es vorher – gib acht, gib acht«, sagte sie munter, indem sie dem müden Manne aus seinem schneebestäubten Rocke half.

»Ja, Papa – da ist natürlich alles erklärlich!« sagte sie plötzlich betroffen – »du hast ja den alten Überzieher an! – Nein, schonen darfst du den neuen nicht. – Herr Gott«, schrie sie auf einmal auf, »Papa, Papa, bist du etwa schon früh in dem alten fortgegangen?«

Es war ein Anblick von höchster dramatischer Wirksamkeit; diese beiden einander erwartungsvoll, ratlos anstarrenden, heiß errötenden Gesichter, das eine von tiefster Verlegenheit, das andere von höchstem, ahnungsvollem Schreck durchglüht.

Lorenz Anwalden fand zuerst die Sprache wieder.

»Liebes Cordchen, ich hatte meine Gründe. Weißt du, manche Geschäftsleute sind eigen und lassen sich durch einfaches Auftreten gerade bestechen. Bei diesem Wetter ist der alte Rock entschieden passender als der neue. Es ist solch ein richtiger, gemütlicher Wetterrock.«

Cordchen war einer Ohnmacht nahe.

»Und den neuen hingst du wieder in den Schrank? An den alten Nagel, Papa?«

»Ja, ehe ich ging; ich hörte den Eisregen so an die Fenster schlagen.«

»Um Gotteswillen, um Gotteswillen, Papa!«

»Cordchen, was hast du nur? Bist du krank? Ist dir etwas geschehen?«

»Mir nichts, Herzenspapa, mir nichts; aber dem Rock!«

Sie lag ihm nun zu Füßen, umschlang seine Kniee, zitterte und weinte.

»Lieber, lieber Papa, es ist furchtbar, was ich getan habe! Du wirst mir nie verzeihen! Kommen nun deine herrlichen Pläne nicht zur Ausführung, müssen wir einst darben, hungern und frieren, so bin ich daran schuld. Papa, o wäre ich nie auf die Welt gekommen! Ich bin euer Unglück – ich richte euch zugrunde mit meinem grenzenlosen Leichtsinn. – Papa, o wie soll ich es dir sagen!? Ich – ich – ich habe – Papa, ich habe – deinen neuen Rock verschenkt!«

Eine lange, bange, furchtbare Stille folgte dieser Beichte. Man konnte fast hören, wie die armen Herzen alle schlugen. Als der Vater sich endlich niederbeugte, um Cordchen aufzuheben, weil er meinte, dann besser die nötigen Worte tadelnder Traurigkeit zu finden, sah er, daß Cordchen wirklich ohnmächtig war.

Es war dies eine süße Wohltat für das gute Herz, indem ihr nun selbstverständlich jeder laute Vorwurf erspart blieb. Als sie, auf ihr Lager gebettet, die Augen wieder aufschlug und das tief erblaßte Köpfchen hob, sah sie alle die teuren Gesichter um sich her von zärtlicher, barmherziger Sorge verklärt. Da sie zu lächeln versuchte, lächelten sie alle mit, der jüngste Bruder jauchzte laut, und der Vater sagte so fröhlich, so befreit, wie er lange nicht gesprochen hatte: »Gott sei Dank! Nun ist alles gut! Alles andere ist Nebensache!«

Während die jüngeren Kinder sich nun unverzüglich über das nächstliegende Tagesereignis, die schon halb erkaltete Milchsuppe, hermachten, hing Cordchen an des Vaters Hals, und, Wange an Wange geschmiegt, tauschten die beiden erst die Erlebnisse ihres Vormittags, dann neue Pläne, neue zage Anspielungen auf Glück und endlich neue, siegesgewisse Hoffnungen aus.

»Könnte ich einmal mit dem Minister von Falkenau reden«, meinte Herr Anwalden. »Das ist ein Mann! Welche Unternehmungen hat er schon ins Leben gerufen! Könnte ich ihn für meine Pläne interessieren, so hätte ich gewonnenes Spiel.«

»Schreibe ihm doch noch einmal!«

»Ach Cordchen, wieviel Briefe hat er von mir empfangen! Bedenke, von wieviel Seiten man einen solchen Herrn in Anspruch nimmt. – Nein, ich müßte ihm die Sache einmal selbst darlegen.«

»So bitte doch um eine Stunde Gehör!«

»Herzchen, auch dies ist schon oft geschehen, umsonst geschehen. Nein, ich werde noch andere Wege finden!«

»Gewiß, gewiß, Herzenspapa! Nun muß es dir ja glücken! Denn sieh, Gott kann mich nicht durch dein Unglück für meinen törichten Leichtsinn strafen wollen.«

»Er wird, er muß dich ja segnen, du gutes Herz.«

»Und du, liebster Papa, bist mir gar nicht mehr böse? Und du gehst nun und ißt dein Mittagbrot? Nicht wahr?«

»Und du, mein Mädchen, wirst wieder gesund? Und merkst dir's und hältst dein Herzchen im Zaum, bis – bis wir's einmal dazu haben? Nicht wahr?«

»Ja, ja, ja! Gewiß, du einziger Papa!« –

Und in Sturm und Regen und immer dichter wirbelnden Flockenschauern ging das Suchen und Werben aufs neue los. – Der Pfad ins Ungewisse, zum fernen, lockenden Ziel, wurde immer schwindelnder und schmaler; immer zager und ängstlicher flatterte die Hoffnung vor dem müden Wanderer auf.

Wäre Cordchen nicht gewesen, deren kraftvoller, frischer Jugendsinn immer neue Strahlenpfade in die Zukunft baute, deren liebendes, stolzes Vertrauen unerschöpflich genug war, um ein verschmachtendes Herz zu laben – die Jagd nach dem Glück hätte vielleicht mit einem Sturz in furchtbare Tiefe geendet.

Aber Cordchen war da. Sie war ein wenig bleicher und zarter als sonst, aber nicht vor Angst, sondern vor angespannter, innerer Erregung.

Jedes Klingelläuten durchzitterte ihr Herz jetzt mit süßem Schreck. Fast war ihr bei der inneren Erregung das Alleinsein schwer, und sie freute sich heimlich, als der jüngste Bruder, eines Fußübels wegen, für ein paar Tage der Schule entsagen und sich daheim pflegen lassen mußte.

Dieser Bruder, der einzige von den Geschwistern, der das blonde Haar und die blauen Augen der Mutter geerbt hatte, war ihr besonderer Liebling. Und doch schämte sie sich an einem dieser Tage fast seiner, als er auf einen Klingelruf nach der Tür geeilt war und gar so ungeschickt, so blutrot, so tödlich verlegen zu ihr in die Küche zurückkam.

»Cordel, ein Herr steht draußen, ein Herr von Falkenau, der Papa oder dich sprechen will.«

»Aber Junge«, sagte sie, während entzückende Hoffnungen wie weiße Vögel in ihrem Herzen aufflatterten, »man läßt doch einen solchen Herrn nicht vor der Tür warten! Weißt du denn gar nicht, was sich schickt?«

Und dabei flog in der Zeit eines Augenaufschlags das blaue Küchenschürzchen vom Gürtel an den Nagel; mit ein paar schnellen Griffen waren das feine wehende Gelock aus der Stirn gestrichen, der Anzug geordnet und der hinkende Junge als Aufpasser neben das hochaufwallende Erbsengericht postiert.

Mit feiner, lieblicher Grazie bat sie ihren Besuch ins Zimmer.

Sie hatte einen alten, ehrwürdigen Herrn, ein greises Gesicht voll Ernst und Güte, erwartet und war betroffen, einen ganz jungen Mann mit hübschen, etwas abgelebten Zügen und in fast all zu kokett moderner Tracht vor sich zu sehen.

»Ohne Zweifel habe ich die Ehre, einen Sohn des Herrn Ministers – –«

»Gewiß; die Ehre ist selbstverständlich ganz auf meiner Seite«, sagte der junge Herr, indem er, Cordchens einladender Handbewegung folgend, auf dem Sofa Platz nahm.

»Sie kommen in Papas Angelegenheit?« fuhr Cordchen mit leiser, vor Erregung zitternder Stimme fort. »Ihr Herr Vater hat seine Briefe gelesen? Seine Pläne geprüft? Er will ihn empfangen?«

»Gewiß, mein gnädiges Fräulein. Er will ihn empfangen«, sagte der Fremde mit freundlichstem Lächeln. »Er freut sich sogar sehr, ihn zu sprechen, und bittet, einstweilen seine Stundenpläne – –«

»Es waren Pläne für einen Brunnenbau, mein Herr.« –

»Ganz recht, ganz recht, mein gnädiges Fräulein, für einen Brunnenbau. Diese Pläne haben ihn wirklich hoch entzückt. Ich sage nicht zu viel: er freut sich, den genialen Urheber kennen zu lernen.«

»Und er wird – – O, mein Herr, wie ist dies alles entzückend! – er wird ihm helfen, sie zu verwirklichen?« jauchzte Cordchen auf.

Der Sohn des Ministers warf einen raschen, eigentümlichen Blick auf ihr freudiges, in der Erregung entzückend schönes Gesicht.

»Er wird es tun«, versicherte er. »Doch nun, mein schönes Fräulein, lassen Sie mich gestehen, daß mich nicht diese Nachricht allein, sondern noch ein andrer Beweggrund zu Ihnen führt. Sie haben unzweifelhaft von den 200 im Graf X.schen Schachte verunglückten Bergleuten gehört?«

»Mein Gott, nein; nicht ein Wort«, flüsterte Cordula, in deren eben noch glückdurchrauschte Seele die letzten Worte wie ein Reifregen fielen.

»Sie haben nichts davon gehört? Ist es möglich? In der Tat – nichts?« näselte der elegante Herr in einem Tone tiefen Bedauerns, der ebenso gut Cordchens grober Unwissenheit als dem Schicksal der verunglückten gelten konnte. »Nun, so lassen Sie mich Ihnen sagen – stellen Sie sich vor: zweihundert junge blühende Leute –«

» Alle noch jung? Wie furchtbar!«

»Alle, ja, d. h. zum Teil wenigstens. Also, kurz und gut, die Geschichte ist furchtbar. Unsre ganze Aristokratie ist auf den Beinen, um zu helfen. Wir haben Sammellisten angefertigt, um der Mildtätigkeit der einzelnen Familien entgegenzukommen. Sie sehen hier eine solche Sammelliste.« –

Cordchen sah allerdings unter aufdämmerndem Schrecken, wie der vornehme Herr mit den Fingerspitzen seiner gelbbehandschuhten Rechten ein zusammengefaltetes, durch die Mildtätigkeit schon stark mitgenommenes Stück Papier aus der Brusttasche zog und vor ihr ausbreitete.

»Ich bitte, lesen Sie hier, mein gnädiges Fräulein: Graf Unkstein 500 Mark, Freiin Therese von der Straaten 100 Mark, Fräulein Meta Geyer, Gesellschafterin bei derselben, 10 Mark, usw. usw. – Eine Gesellschafterin, mein gnädiges Fräulein, 10 Mark! Ich frage Sie: ist das nicht reizend? Ist das nicht famos?«

»Reizend, sehr reizend«, stammelte Cordchen, auf ihrem Stuhl hin und her rückend.

»Und nun, mein liebes Fräulein, damit ich mich kurz fasse: Sie werden uns doch auch Ihre liebenswürdige Mithilfe nicht versagen? Es würde mir aufrichtiges Entzücken gewähren, wenn von Ihrer Mildtätigkeit auch weitere Kreise, auch höhere Kreise erführen.«

Das arme Cordchen war in so bitterer Verlegenheit, daß sie trotz der glücklichen Nachricht, die sie vorhin empfangen, beinahe in Tränen ausbrach.

»Mein Herr«, sagte sie mühsam und schüchtern, »es wird mir sehr schwer, was ich Ihnen sagen muß. Wir sind leider durch unglückliche Zufälle in einer Lage, daß Summen, wie Sie sie vorhin nannten – –«

»Aber, liebes Fräulein, woran denken Sie?« fiel der junge Mann liebenswürdig ein. »Von solchen Summen lassen Sie uns ganz schweigen! Zeichnen Sie 10 Mark, wie die arme Gesellschafterin, oder 8 Mark oder auch nur 6 Mark, und wir sind von Ihrem guten Herzen überzeugt. Mein Vater –«

Cordchen hatte eben mit Aufgebot der letzten Kraft gestehen wollen, daß sie auch nicht 6 Mark zur Verfügung hatte. Das Wort »Mein Vater« aber brachte sie zur Besinnung. Was würde der Herr Minister denken von einem Quellenfinder, der nicht einmal 6 Mark besaß? Und in der Tat waren ja noch 6 Mark, sogar noch etwas mehr in Cordchens Wirtschaftskasse.

Daß diese geopfert werden mußten, war ihr klar.

Mit zitternder Hand schrieb sie also ihren Namen auf das ominöse Papier und sah zu, wie der großherzige Sammler ihre beiden Talerstücke in einer buntseidenen Börse lautlos verschwinden ließ.

»Und nun gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen tiefgefühltesten Dank ausspreche«, flüsterte Freiherr von Falkenau, indem er aufstand und Cordchens Hand ergriff.

»Ich habe nie von schönerer Hand« – hiermit hauchte er einen Kuß auf das arme, eiskalte, zitternde Händchen – »eine willkommenere Gabe empfangen.«

Ein zweiter Kuß sollte auch dieses letztere bestätigen, doch fiel zufällig zwischen Lippe und Mädchenhand das stürmische Geläute der Vorsaalklingel ein, an welcher heute die Jungen ihren Triumph, vor den Mädchen die Treppe heraufgekommen zu sein, ausließen.

Herr von Falkenau empfahl sich, wippte mit lächelndem Gönnerblick an den hereinstürmenden Kindern vorbei und stelzte dann, ohne, wie Cordchen hoffte, auf die Brunnenpläne zurückzukommen, mit einer Geschwindigkeit, die wahrscheinlich zu den neuesten Triumphen vornehmen Sports gehörte, die Treppe hinunter.

Cordchen blieb wie betäubt zurück. – Die Erinnerung an das Geschehene, dazu schallender Kinderlärm und der für jede Hausmutter so überaus fatale Geruch verbrannter Erbsen wirkten so beklemmend auf sie ein, daß ihr das freie Aufatmen des Glücks vor der Hand noch nicht möglich war.

Kleinlaut füllte sie den zu rettenden Teil des Mittagsgerichts in die Schüssel, breitete Teller und Eßgeräte auf dem weißüberdeckten Tisch aus und setzte sich dann, wartend und träumend, vor ihr Nähtischchen am Fensterplatz.

Als sie den Vater von dort aus über den Platz aufs Haus zukommen sah, fing ihr Herz zum Zerspringen laut zu schlagen an. Sie hatte ihm die Erfüllung seines höchsten, liebsten Wunsches mitzuteilen, und dabei schnürte ihr diese unerklärliche, tränenschwere Niedergeschlagenheit fast die Kehle zu.

Erst bei Tisch, ganz ohne ihr sonstiges liebes Lächeln, über das halbverdorbene Erbsengericht hinweg, teilte sie dem Vater das Vorgefallene mit.

Seltsam – auch ihm erging es so wie ihr! Das war ja das Glück – und doch konnte er sich nicht recht freuen. Der Verlust der sechs Mark, für deren Preisgabe er Cordchen ja keinen Vorwurf machen konnte, war augenblicklich so bedeutsam, daß er auch ihm die nahe Aussicht auf Erfüllung seiner Wünsche zu verdunkeln schien.

»Es klingt alles so unsympathisch, Cordchen, nicht wahr? – Wir hatten uns immer vorgestellt, das ersehnte Glück müßte als ein Engel mit lichten Flügeln bei uns erscheinen. Dieser junge Mensch mit den gelben Handschuhen, der dir deine letzten sechs Mark aus der Tasche nimmt für verunglückte Bergleute, von denen wir nichts gehört haben, kommt uns als himmlischer Bote eben beiden nicht recht! Auf jeden Fall will ich aber den Gang zu dem Minister noch einmal wagen. Ich wüßte so wie so nicht mehr, wohin ich mich wenden sollte!«

In fieberhafter Aufregung erwartete Cordchen an diesem Nachmittag des Vaters Rückkehr. Es war nun wirklich die allerhöchste Zeit zur Hilfe! Was sollte geschehen, wenn auch diese letzte Hoffnung schwand? Das Hoffen, das Warten, das Weinen der letzten Nächte hatten das tapfere Kind nun doch müde gemacht, so daß sie meinte, sie könne es nicht überleben, abermals ein »Nein« auf des Vaters abgespannten Zügen zu lesen.

Zum Glück brachte der Heimkehrende, wenn auch noch keine Entscheidung, so doch wenigstens Hoffnung mit. Er war zu dem vielbeschäftigten Herrn eingelassen worden, dieser hatte seine Auseinandersetzungen voll Interesse mit angehört und ihm schließlich eine eigenhändige Empfehlung an einen jungen Geldmann, einen Herrn von X. gegeben, der sich vielleicht – im günstigen Falle – wenn er seine Kapitalien nicht schon anders fest angelegt habe – dafür interessieren dürfe, die Quellenhebung und die betreffenden Bauten als Privatunternehmen zu riskieren.

»Merkwürdig war es«, sagte der Erzähler zum Schluß, »daß der Freiherr auf die Geschichte mit seinem Sohn und dem Grubenunglück gar nicht einging. Vielleicht war ihm die Bettelei fatal, denn er sah mich, als ich darauf anspielte, so betroffen an, daß ich dem alten Diener dankbar war, der die Szene durch Überreichung eines eingetroffenen Telegramms abkürzte und damit den Besuch überhaupt zu Ende brachte.«

»Infolge dieses Grubenunglücks werden wir uns nun ein paar Tage aufs äußerste einschränken müssen«, sagte Cordchen mit neuem Mut. »Werdet ihr heute einmal mit trockenen Kartoffeln zufrieden sein?«

Heldenmütig sagte Lorenz Anwalden Ja, ohne zu ahnen, durch welche unerwartete Neuigkeit diese trockene Mahlzeit ihre Würze erhalten sollte.

Im dreistimmigen Chor brachten die jüngeren Kinder aus ihrer Nachmittagsschule eine Nachricht mit heim, die den wechselvollen Ereignissen der letzten Tage unbedingt die Krone aufsetzte. Ein paar Schutzleute hatten im Reichscafé an der Straßenecke soeben einen Betrüger verhaftet; die Kinder hatten ihn gesehen, im hellen Anzug, mit der bunten Krawatte und den gelben Handschuhen, genau so, wie Cordchen ihren Besuch vom Morgen geschildert hatte. Auch daß er den Leuten mit Hilfe einer Sammelliste Geldsummen abgelockt habe, hatten die Mägde auf der Straße einander erzählt.

Welch eine neue, furchtbare Beschämung war dies für Cordchen! »Einem Betrüger in die Hände gefallen«, rief sie mit Händeringen.

»Einem Hochstapler feinster Sorte! Und das muß uns armen Leuten passieren!« fügte der Vater hinzu.

»Vater, Vater, wie entsetzlich leichtsinnig und leichtgläubig bin ich doch!«

»Sechs Mark! Dafür hätte man sich einmal tüchtig sattessen können«, seufzte das zweitälteste Mädchen, die mit ihrer langgeschossenen Backfischgestalt und dem schmalen Gesichtchen so recht ein Bild ewig unbefriedigten, unermeßlichen Jugendappetits war.

Cordchen nahm mit schwermütigem Schuldbewußtsein alle Vorwürfe hin, bis der Vater endlich großmütig für sie eintrat.

»Ich selbst wäre dieser gutgespielten Komödie zum Opfer gefallen«, sagte er, indem er das blasse Mädchen tröstend an sich zog. »Der Name des Ministers, den der Schlingel sich beigelegt, mußte ja bei uns so verhängnisvoll einschlagen. Aber gerade darin liegt wieder eine wunderbare Fügung des Himmels. Das Morgen wird es ja beweisen, welch ein Glück es war, daß ich mich noch einmal zu dem Herrn wagte.« – – –

Und damit war die Flamme der Hoffnung wieder entzündet! Und sie leuchtete über dem armseligen Mahl, leuchtete in eine rosige, lachende Weite hinaus und rückte das Erlebnis des Vormittags mit seiner schneidenden Schicksalsironie in eine wohltätige Dämmerung.

»Nach diesen letzten Erfahrungen wird es mir wenigstens leicht werden, das Wohltun bis zu den Tagen des Glücks völlig aufzustecken«, meinte Cordchen, als sie dem Vater den lieblichen Mund zum Gutenachtgruß bot.

»Nimm dich nur zusammen, du gutes Herz«, erwiderte er mit einer leisen, frohlockenden Schelmerei, aus der die Gewißheit sprach, diese Selbstbeschränkung werde nun auf keinen Fall mehr von langer Dauer sein müssen. – –

Es war zur Mittagszeit des folgenden Tages, die Kinder waren aus der Schule heimgekehrt, das blasse Mariechen mit dem ungewöhnlichen, entsetzlichen Hunger und die andern voll neugieriger Erwartung, welche Nachrichten der Vater heute heimbringen werde.

Gegen seine Gewohnheit und zu Cordchens großer Besorgnis war derselbe heute nicht zur Mittagsstunde daheim eingetroffen.

In Spannung und Sehnsucht verging den Wartenden Minute auf Minute. Cordchen hatte ihr Küchenkostüm mit dem netten schwarzen Hauskleid vertauscht und saß nun, gegen alles Herkommen einmal feiernd, unter den andern, selbst vor Erwartung zitternd und doch immer beschwichtigend, um die wilden Geister noch ein Weilchen vom Angriff des Mittagbrotes zurückzuhalten.

Nun endlich tönte das ersehnte Klingelläuten.

»Er ist es!« rief die verhungerte Schar.

Jubelnd, lachend, sich überstürzend vor Lebenslust, jagten sie hinaus.

Über die älteste aber kam ein überwältigendes Gemisch von Hoffnung und Bangigkeit, das Bewußtsein, was dieser Augenblick bedeute, daß er über die letzte Hoffnung, vielleicht über Leben und Tod zu entscheiden habe.

Mit einem Aufschrei flog sie aus dem Zimmer, aber nicht nach dem Flur hinaus, sondern in das angrenzende kleine Schlafgemach, das sie des Nachts mit den Schwestern teilte.

Mit gefalteten Händen stand sie hier am Fenster still, sah zum schneeschweren Winterhimmel empor und betete so andächtig, als könne ihre heiße Inbrunst noch jetzt die Geschicke des Vormittags zurückwirkend beeinflussen.

Als die Kinder zu ihr in das Zimmerchen gestürzt kamen, war sie bereit, das höchste Glück oder die schwerste Enttäuschung mit Fassung und Ergebung zu empfangen.

Aber die Kinder kamen weder als Glücks- noch als Schmerzensboten. Sie drängten sich aneinander, scheu und verlegen, mit geröteten Gesichtern, den blonden Bruder als Sprecher vorschiebend, der auch endlich atemlos die Worte hervorbrachte:

»Cordchen, es ist schon wieder ein Herr da, der dich sprechen will. Er wartet im Wohnzimmer, diesmal war ich nicht so dumm, ihn vor der Tür stehen zu lassen.«

»Und da ist seine Karte und da ein Brief, den du lesen möchtest«, fügte Mariechen atemlos hinzu.

»Wieder ein Herr ›von‹«, fuhr der zweite Bruder heraus.

Wahrhaftig, da stand es: »Heinrich von Hochberg«. Bebend hielt Cordchen die Karte in ihrer Hand.

Natürlich war auch dies wieder eine Bettelei! Natürlich auch dies ein Betrüger! Das Ganze eine Versuchung, eine letzte Probe, die ihre Vorsätze zu bestehen hatten!

Aber – zum Glück – sie war nun gewitzigt! Sie hatte ihre Menschenkenntnis mit zwei schrecklichen Erfahrungen bezahlt und wollte nun fest und unbeugsam bleiben um jeden Preis.

Erglühend drängte sie die Kinder zurück, und hochaufgerichtet, das Feuer eines heiligen Zornes, einer tiefen, schmerzlichen Empörung auf dem lieblichen Gesicht, schritt sie hinaus und hielt dem Besucher, ohne sich durch dessen jugendschöne, vornehme Erscheinung auch nur im mindesten beirren zu lassen, mit unsäglicher Verachtung die Karte und den uneröffneten Brief entgegen.

»Haben Sie schon gelesen, mein gnädiges Fräulein? Und können Sie meine Bitte erfüllen?« fragte der Fremde mit wohllautender Stimme, in ehrerbietigem und bescheidenem Tone.

Aber Cordchen ließ sich weder durch diesen Stimmzauber beeinflussen, noch durch den Blick warmer, wohlwollender Bewunderung, mit der der fremde Mann auf sie niedersah.

»Nehmen Sie nur«, sagte sie, ihm die Papiere in die Hand drängend. » Diese Art Schreiberei kenne ich, mein Herr! Ein für alle Mal will ich von derlei Betteleien nichts wissen!«

»Aber mein Fräulein, so lesen Sie doch! Ich bitte Sie!«

»Nein! nein, und nochmals nein!« rief sie in höchster Erregung, durch Tränenschleier mit strengen, strahlenden Blicken zu dem Fremden emporsehend. »Ich bleibe fest! Ich will mich nicht rühren lassen – und – übrigens«, fuhr sie fort, in der Aufregung schneller und schneller sprechend und mit der ausgestreckten Hand den Fremden nach der Tür weisend »und wenn ich wollte – es hülfe Ihnen nichts! Ich könnte nichts mehr geben, und wenn Sie mir erzählten, daß Sie frieren und hungern, und wenn Sie mir von sechshundert verunglückten Bergleuten berichten! Ich habe Papas Überrock verschenkt, ich habe unsre letzten sechs Mark verschenkt – – –«

»Aber, mein Fräulein«, klang es beschwichtigend, im Tone der herzlichsten Bitte.

»Geben Sie sich keine Mühe«, rief das Mädchen, ihre letzte Kraft sammelnd und das Köpfchen stolz und gebieterisch zurückwerfend, »es ist unnötig, und ich bitte Sie jetzt ernsthaft, mich zu verlassen und sich nie wieder hier sehen zu lassen.«

Wie ein leichter Hauch an dem Fremden vorbeischwebend, öffnete sie die Tür und gab ihm, mit einem Neigen des Kopfes, das sie von einer Königstochter gelernt haben konnte, den Weg nach dem Vorsaal frei.

Und leise lächelnd und sich tief verneigend, nahm der Mann, der das kleine Mädchen um ein paar Haupteslängen überragte, seine Entlassung hin. Das Lächeln blieb noch auf seinen Lippen, während er über den langen, schmalen Weg, in dessen Dunkel die Erinnerung an ein paar große, rührende Mädchenaugen ihn leuchtend umschwebte, nach der Flur zuschritt.

Für das zurückbleibende Cordchen wurde der Triumph, das Feld ehrenhaft behauptet zu haben, durch jenes Gefühl der Beklemmung getrübt, das mit großen, schwererkauften Siegen so oft Hand in Hand zu gehen pflegt. Erst, nachdem die Tür draußen ins Schloß gefallen war, fiel es ihr ein, wie ernst, wie klug, wie ausdrucksvoll das Gesicht des geschlagenen Feindes ausgesehen hatte; und leise, leise mischten sich, wie Schatten, Reue und Vorwürfe, trotz allem unedel und unbarmherzig gehandelt zu haben, in ihr Siegesgefühl.

Daß ihre Heldentat sich aber als völlige, schmähliche Niederlage für sie herausstellen würde, ahnte sie nicht.

Fünf Minuten nach Verschwinden des unwillkommenen Gastes rief ein abermaliger Klingelruf die Kleinen an die Tür. Auch diesmal war es noch nicht der heimkehrende Vater, der sich meldete, sondern ein Dienstmann, der ein an Fräulein Anwalden adressiertes Couvert hereinreichte.

Was brachten diese Tage doch für Überraschungen! Als Cordchen den Umschlag öffnete, fiel ihr derselbe Brief und dieselbe Visitenkarte entgegen, die sie dem fremden Besucher vor ein paar Minuten mit Verachtung zurückgegeben hatte. Die Karte war jetzt mit flüchtiger, steiler Bleistiftschrift bedeckt und enthielt folgende Worte:

»Da über meinem Besuch bei Ihnen, mein sehr verehrtes Fräulein, offenbar ein Mißverständnis waltete, das mich nicht zum Aussprechen und Darlegen meiner Bitte kommen ließ, so ersuche ich Sie aufs freundlichste, beifolgenden Brief noch jetzt, Ihren Vorurteilen zum Trotz, zu öffnen und aus demselben die Erklärung und Rechtfertigung meiner Zudringlichkeit herauszulesen, welche zur Wiedererlangung seines inneren Gleichgewichts sehr nötig hat.

Ihr ergebener
Diener Heinrich von Hochberg.«

Mit welchen niederdrückenden Befürchtungen Cordchen den Brief nun öffnete, läßt sich nicht in Worten wiedergeben. Der erste Blick auf die Schrift bestätigte ihre schlimmen Ahnungen.

Der Brief war – von ihrem Vater.

In rührenden, von heißem Dank überströmenden Worten teilte er zunächst seinem Liebling mit, daß der Himmel nun endlich alles zum Besten gelenkt, daß nach langem Irren und Suchen in tiefer Nacht das Ziel nun doch erreicht sei.

»Nicht nur in Herrn von X. selbst«, hieß es, sondern noch weit mehr in dessen zufällig hier anwesendem Vetter, einem Herrn von Hochberg, fand ich einen begeisterten, verständnisvollen Würdiger meiner Pläne. Die Herren sind bereit, die Hebungs- und Bauarbeiten nach meinen Angaben zu unternehmen und den Gewinn mit mir zu teilen. Welch ein Glück, welch ein Glück, mein Cordchen! – Ich sitze hier am Schreibtisch des Herrn von X. (einem Wunderstück von einem stilvollen Eichenschreibtisch), um die nötigen Eingaben wegen Erlangung der Konzessionen usw. zu entwerfen. Herr von X. will sofort einen Diener in meine Wohnung schicken und die Mappe mit den fertigen Berechnungen holen lassen, die ich noch dazu brauche. Gib sie ihm, Cordchen, vorn auf der rechten Seite meines Pultes liegt sie, Du weißt sie ja zu finden. Und dann auf Wiedersehen, auf seliges Wiedersehen heut abend!

Euer Vater.«

P. S. Um die Sache zu beschleunigen, will Herr von Hochberg selbst anspannen lassen, Dir diesen Brief überbringen und die Mappe holen. Danke ihm recht freundlich, ja recht freundlich, mein Cordchen!«

Diese letzten Worte, dieses »ja recht freundlich« brachen das lautlose Entsetzen, welches das arme Ding beim Lesen des Briefes erstarren ließ. Mit einem jammervollen Schmerzensgestöhn brach sie zusammen. Gott, Gott, was hatte sie getan! Die Blüte des Glücks, deren Auferblühen der Vater jahrzehntelang entgegengehofft, hatte sie nun im Augenblick der Entfaltung mit täppischer Hand gebrochen! Sie hatte dem Retter die Tür gewiesen, hatte Freude und Heil für immer von der Schwelle gejagt! O Gott, warum hatte sie auch die Not gelehrt, das Mitleid zu ersticken, ihr weiches Herz in der Brust zu verhärten! Wie furchtbar schwer es ihr geworden war, sich zu Strenge und Erbarmungslosigkeit hindurchzukämpfen, wußte nur Gott allein. Und dieser erste Versuch, klug und hart und vorsichtig zu sein, war ihr so jammervoll bekommen!

Wie im Fieber jagten sich die Gedanken in ihrem armen Hirn. Gebrochen, lautlos, keines Wortes fähig, stand sie unter den Geschwistern, die sie mit Fragen bestürmten und nicht eher abließen, bis das hungrige Mariechen in ihrem unwiderstehlichen stillen Drange zu der einzigen rechten Tat schritt und die Suppenschüssel, die sonst den Weg auf den Tisch heute niemals gefunden hätte, mit eigenen Händen herbeitrug.

Während die Kinder nun aßen und sich dann mit schnell wiedergewonnenem Gleichgewicht und dem üblichen Wortreichtum aufs neue zum Schulweg vorbereiteten, während sie dann mit Mappen und Büchern sich im Chor auf den Weg machten und es ruhig, wie nach dem Sturme, in der kleinen Wohnung wurde, saß Cordchen unbeweglich, weiß und still, wie ein schönes, rührendes Bild von Stein, auf ihrem Lager.

Verzweiflungsvolle Angst, Scham und Reue rangen in ihr mit dem tiefen, zärtlichen Erbarmen für den armen Vater, für den sie ihr Herzblut hingegeben hätte und dem sie durch ihre grenzenlose Torheit gewiß, gewiß das endlich erlangte Glück zerschmettert hatte.

Und doch, in ihrem tiefsten Leide fühlte sie noch den Flügelschlag der Hoffnung sie umschwirren! Sie lebte die furchtbaren, entscheidenden Augenblicke noch einmal durch, und immer deutlicher hoben sich von dem schmerzlichen Hintergrund der Ereignisse die edlen, energischen Züge, die freundlichen, geistvollen Augen des Fremden ab.

Ach, wenn er ihr doch verziehe! Wenn er ihr doch verziehe! Wenn er ihre kindische Unfreundlichkeit vergäße! Oder – wenn er sie dafür strafte, recht schmerzlich und schwer, aber dem lieben, armen Vater sie nicht entgelten ließe! Wie von einem höheren Licht, dem Zauber einer edlen Allmacht umgeben, erschien ihr jetzt jener Mann, in dessen Hand es ja lag, sie durch ein hartes oder verzeihendes Wort glückselig oder elend zu machen. Es war ihr, als müsse sie ihn aufsuchen und ihm zu Füßen fallen.

Welch eine Gefahr für ein junges, warmes Mädchenherz darin liegt, eine edle Männererscheinung so mit göttlichen Eigenschaften zu umkleiden, ahnte sie in ihrer holden Unschuld nicht!

Stunden, lange schwere Stunden vergingen dem armen Ding, Stunden, in denen sie sich vor der Wiederkehr des Vaters wie vor etwas Furchtbarem ängstigte und dann wieder mit heißer Inbrunst bat und flehte, daß er nun kommen möge.

Und im Spätschein des traurig verschwimmenden grauen Wintertags kam die Entscheidung heran.

Wie Cordchen es fertig brachte, mit den zitternden Knieen, mit dem stockenden Herzschlag, sich an die Flurtür zu schleppen, als sie des Heimkehrenden Schritte vernahm, wußte sie später selbst nicht zu erklären.

Mit einem Aufschrei sanken sich die beiden Menschen in die Arme.

»Vater, weißt du es, was ich getan habe?«

»Ja, Herzenskind. Sei ruhig. Wir sind glücklich. Es ist alles gut!«

Auf seinen Armen trug er sein Herzblatt, dem die Füße den Dienst versagten, in das dämmerige Zimmer. Dort saßen sie, traut umschlungen, auf dem Sofa nebeneinander, der Vater mit dem leisen Lächeln einer unsäglichen Glückseligkeit auf den Lippen, Cordchen noch schluchzend, fiebernd, fassungslos nach der Aufregung des Tages.

»Vater, ach Vater, was sagte er nur von mir?« war ihre erste leise Frage.

»Willst du es wirklich hören, Cordchen? Auch wenn es dich ein wenig beschämt?« klang es da mit unterdrücktem Herzensjubel. »Nun denn: nachdem er mir die ganze tragikomische Geschichte in seiner lebhaften Weise, mit leuchtenden Augen, erzählt hatte, stand er lange am Fenster still, faltete die Hände und sah in das Schneetreiben hinaus. Und dann fragte er mich so mancherlei. Ich mußte ihm von der Mutter Tod, von den Kindern erzählen und von dir – wie wir dich alle lieben und was du uns bist. Mit wenig Worten, die gleichgültig klingen sollten und denen man doch nicht widerstehen konnte, fragte er alles aus mir heraus. Und dann, Cordchen, ging er lange mit festen Schritten im Zimmer umher, blieb endlich vor meinem Platze stehen, sah mir ins Gesicht und sagte: »Was haben Sie für eine Tochter! Was ist das für ein süßes, einziges Geschöpf! In welches Rosengesicht, in welche Sternenaugen, in welche weiche, tiefe, starke Seele habe ich heute geschaut!« – Ach, und noch mehr sagte er – aber – – was hast du? Du zitterst so. Cordchen; – Cordchen, ist dir wohl? Hörst du auch, was ich sage?«

Sie mußte doch gehört haben, denn ein leiser, jubelnder Laut tönte durchs Zimmer, und dann schmiegte sich ein heißes Gesichtchen an des Vaters winterkalte Wange, und Tränen flossen, erlösend wie eine Frühlingsflut, unter der, hold und heimlich, eine entzückende Hoffnung auferblüht.

Aus dem Städtchen, in dem diese kleine Geschichte sich vor Jahren zutrug, ist mir von meinem letzten Besuch zweierlei in der Erinnerung zurückgeblieben: das erste sind die herrlichen, für den Sachverständigen im höchsten Grade imponierenden Wasserwerke, welche die Stadt mit dem reinen, labenden Gesundheitstrank versorgen. Das zweite ist die Villa, die Herr von Hochberg in deren Nähe am Waldrand für sich und sein junges Weib erbauen ließ. Durch die Jasmin- und Fliederwildnis, die den Garten umhegt, erschaute ich, auf den Kieswegen dahinwandelnd, das schöne, selige Paar, von dem die Welt sagt, daß es so glücklich sei, weil in ihm der tiefste, reichste Geist und das liebste, beste Herz sich zusammengefunden haben.


 << zurück weiter >>