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Achtzehntes Kapitel
Die Freiheit

Auszug durch die Tür der Enttäuschung

Diese Ungewißheit erstreckte sich auch auf meine äußeren Verhältnisse. Seit dem zweiten Besuch meiner Mutter bestand die zwar weiter nicht bestätigte, aber auch von keiner Seite widerrufene Auffassung, daß ich nach hier verbrachter Vorbereitung als Seminarist nach Bern gehen sollte. Die Zeit rückte nun nahe heran, in welcher sie sich verwirklichen sollte. Bei der Unterredung über die Berufswahl, die Herr Salis mit mir gehabt hatte, wußte er zu meiner Betretenheit noch nichts von jenen Abmachungen. Er fragte genau nach allen Nebenumständen und entließ mich mit einer Miene, über welche ich vergeblich hin und her riet, ob sie hoffnungsvoll oder zweifelnd gewesen sei, aber daß er sich zu wundern schien, allein das genügte schon, um mich zu beunruhigen.

Ich hatte jetzt ziemlich lange nichts mehr von meiner Mutter gehört. Auf meine letzte Mitteilung, daß ich am Palmsonntag konfirmiert werden würde, war ich ohne Antwort geblieben, und meine geheime Hoffnung, sie würde dabei sein, hatte sich nicht erfüllt. Immer ängstigte mich die Stille, die mir aus der Gegend meiner Mutter her wehte. Vielleicht war sie krank. Vielleicht war sie auch verreist; ich wußte zwar durchaus nicht, wohin sie verreist sein sollte, aber es war doch auch eine Möglichkeit. Herr Salis hatte mir in Aussicht gestellt, mit dem Herrn Vater über meine Angelegenheit Rücksprache zu nehmen, aber in dieser Zeit der Föhnstürme und dann des neuen Frühlingsaufruhrs in der Natur ging es ihm so schlecht, daß eine Woche um die andere verstrich, ohne daß meine Sache gefördert werden konnte. Auch Herr Salis hatte, wie ich aus gewissen Zeichen schloß, endlich an meine Mutter geschrieben. Aber den Erfolg erfuhr ich nichts, und die Unsicherheit wurde immer größer. Alle hatten nun schon eine klare Laufbahn vor sich. Der eine sollte zu einem Gärtner kommen, der andere zu einem Schreiner. Sie kannten schon die Namen und die Wohnorte ihrer künftigen Meister; nur ich wußte noch nichts. Unser Klassenerster, der durch unerschütterliche Musterhaftigkeit seinen Platz bis zum Schulende gehalten hatte, obwohl ich bei weitem mit dem besten Schlußzeugnis abging, war durch meine Pläne so erkenntnisreich angeregt worden, daß er sich seinerseits von irgendeinem Gönner in aller Stille die Finanzen für vier Seminarjahre in Bern sicherstellen ließ, und mir richtig auch hier den Rang ablief. Nun wartete ich noch auf irgendein Wunder, und vor allem hoffte ich, daß am rechten Tag plötzlich meine Mutter selber auf dem Plan erscheinen werde, um alle diese Zweifel niederzuschlagen und die Fragen selbstherrlich zu meinen Gunsten zu entscheiden.

Am stillen Samstag, dem Tag vor Ostern, berief mich Herr Salis auf sein Zimmer. Ich warf alles weg, was ich in den Händen hielt, und lief durch den Andachtsaal und die Treppe hinauf wie mit Flügeln, denn nun war zweifellos die glückliche Entscheidung da. Herr Salis empfing mich mit dem freundlichen und aufmerksamen Blick, den er immer für uns hatte, aber ernster, als es mir wünschenswert schien, ja, mit einer gewissen Zurückhaltung, die ich bis jetzt an ihm nicht bemerkt hatte.

»Es ist jetzt höchste Zeit, Johannes, daß wir uns über deine Zukunft schlüssig werden«, hob er zu reden an, nachdem er mir einen Stuhl neben seinem Schreibtisch angewiesen hatte. Einen Moment schwieg er noch. »Über deinen Plänen muß wohl ein Verhängnis schweben«, fuhr er dann weiter. »Deine Mutter läßt nichts von sich hören. Der Herr Vater ist fortdauernd so leidend, daß ich nicht mit ihm persönlich reden kann. Die Frau Mutter aber stellt alles in Abrede, was du mir berichtest. Eine solche Absprache zwischen dem Herrn Vater und deiner Mutter habe niemals stattgefunden, im Gegenteil, gerade damals sei dein Verhalten nicht derart gewesen, daß man dir eine solche Zukunft hätte eröffnen können. Sage mir nun die Wahrheit, Johannes. Wie verhält sich das mit diesen Geschichten?«

Mir waren diese Eröffnungen wie ebensoviel Schläge auf den Kopf. Ganz benommen und fast gedankenlos saß ich da und starrte Herrn Salis an. Endlich fand ich auch einige Worte.

»Es ist aber alles ganz bestimmt so!« stotterte ich unglücklich und halb weinend vor Enttäuschung. »Der Herr Vater selber hat das noch wiederholt, als ich vom Pferd zurückkam. Und meine Mutter sagte, daß für mich eine Besinnungszeit abgemacht sei, um mich zu entscheiden, ob ich zu ihr fahren wolle, um aufs Gymnasium zu kommen, oder ob ich lieber meine Zeit hier ausmache, um dann das Seminar zu besuchen.«

»Und was hast du deiner Mutter geschrieben?«

»Ich habe geschrieben, daß ich hierbleiben und nachher aufs Seminar wolle«, entgegnete ich leise.

»Die Frau Mutter sagt aber, deine Mutter sei niemals in den Verhältnissen gewesen, daß der Herr Vater mit ihr ein solches Abkommen hätte treffen können.«

»Sie hat doch meinen Vetter Franz geheiratet, und der hat einen großen Hof.« Fragend sah ich ihn an.

»Warum antwortet sie dann nicht?« versetzte Herr Salis schonend mit abgewandtem Gesicht. Ich sah nun, daß diese Dinge auch ihn begrämten. Zögernd vermutete ich: »Vielleicht weil ich nicht zu ihr gekommen bin.«

»Wer weiß.« Er schwieg noch einen Augenblick wie bedrückt und unzufrieden. »Wie dem auch sei«, nahm er endlich wieder das Wort, »so müssen wir jetzt auf eine andere Laufbahn schlüssig werden. Das Seminar kostet Geld, und Geld ist nicht da.« Er betrachtete mich mit sorgenvollem Ausdruck. »Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen. Es ist ja möglich, daß dir der Weg später doch noch frei wird. Aber vorerst müssen wir uns ans Wirkliche halten. – Es ist da noch eine Bewerbung von einem Schuhmachermeister. Du hast ja jetzt schon einen Begriff von diesem Handwerk. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Möglichkeit wahrzunehmen. Du kommst in einen anständigen und nicht zu mühsamen Beruf, der dich zum selbständigen, ja angesehenen Mann machen kann. Dein künftiger Meister ist ein solcher. – Last nur nicht den Kopf hängen, Johannes. Denke, es ist Gottes Willen so. Was dir im Leben Gutes und Wunderbares vorbehalten ist, wird dir auch auf diesem Weg begegnen, und vielleicht bist du darauf besser vor manchem Leid behütet, das dich auf einem anderen ereilen könnte. Tu deine Pflicht, Johannes. Bleibe rein und willig, so bleibst du freudig und hoffnungsreich. – Ich habe sehr gern mit dir zu tun gehabt; das will ich dir jetzt sagen. Und ich hoffe, daß es anderen Menschen auch so geht. Gott mit dir, Johannes.«

Der Ostertag stieg strahlend am Himmel herauf, aber mir war er wolkig und regendrohend. Noch hoffte ich in einem Winkel meines Herzens heimlich auf meine Mutter. Während der ganzen Predigt lauerte ich auf das Geräusch eines vorfahrenden Wagens. Nach der Predigt traf der Vormittagszug ein, der die Gäste und Besuche von Basel brachte. Meine Mutter war nicht darunter. Kleinlaut mischte ich mich unter meine Mitkonfirmanden, die sich bereits befriedigt in ihre Aussichten eingelebt hatten; einige begannen sogar zu prahlen. So weit war ich noch nicht. Übrigens hatte unser Klassenerster von Weihnachten her noch seine Leckerli, mit denen er jetzt hervorkam, um sie vor unsern Augen umständlich und wählerisch zu verzehren, ohne jemand etwas davon abzugeben. Sie waren ganz aufgeweicht, aber er sah aus, als wäre das eben die bekömmliche und allen Feinschmeckern wohlbekannte richtige Beschaffenheit. Plötzlich wurde ich gerufen, um zu Herrn Salis zu kommen; irgend jemand wolle mich sprechen. Mein Herz klopfte wild auf, aber ich tat mir diesmal Gewalt an und ging ruhig mit dem Jungen, der mich geholt hatte. Es sei ein Mann, hörte ich, und ich dachte an den Vetter. Nun konnte noch alles gut werden. Aber als ich hinaufkam, war es nicht der Vetter, sondern ein ganz fremder »Herr« aus Basel, dem ich als meinem künftigen Meister vorgestellt wurde. Er sah nicht schlecht aus und redete mich freundlich und verständnisvoll an, aber es war doch nicht der Vetter, und ich starrte ihm wortlos und nun schon abgrundtief enttäuscht entgegen, so daß er sich ein wenig über mich wunderte. Herr Salis entließ mich gleich wieder; wahrscheinlich hat er nachher den guten Mann aufgeklärt. Mit heimlichen Zorntränen erschien ich wieder unter den anderen. »Es war nur mein Meister!« sagte ich kummervoll.

Noch eine andere Dämpfung lag auf diesem Tag, aber nicht bloß für mich. Der Herr Vater hatte zu sterben begonnen. Seit zwei Tagen ging es zu Ende. Er lag durch manche Stunden völlig unbeweglich, manchmal leise röchelnd, dann wieder geheimnisvolle oder bittende Worte flüsternd, und seine Familienangehörigen waren ständig um ihn. Niemand wußte, wann die Stunde sein würde. Es konnte sehr bald sein, aber es konnte noch Tage, ja vielleicht Wochen dauern. Die lauten Spiele waren im Hof abgesagt. Man hatte den Kindern mitgeteilt, daß man sie gleich nach dem Essen nach dem Wald führen würde. Dort sollte eine kurze Kinderlehre im Freien abgehalten werden. Dann würde man vespern, und den Rest des Nachmittags konnten sie sich tummeln. Wir Konfirmanden durften einen selbständigen Nachmittagsspaziergang unter uns machen. Aufsichtspersonen gab es für uns nicht mehr. Aber dieser Tag ging vorbei, ohne droben das erwartete Ende zu bringen. Der Herr Vater lebte noch am Montag, und selbst der Dienstag fand ihn noch bei Atem, wenn man uns auch sagte, daß der Todeskampf nun angehoben habe.

Einer nach dem anderen verließ nun die Anstalt. Für alle gemeinsam war noch eine Abschiedsfeier abgehalten worden. Jeder hatte einen Werktags- und einen Sonntagsanzug, zwei Paar Schuhe, zwei Hemden, einige Taschentücher und zwei Paar Socken bekommen. Wem nicht seine Verwandten ein Köfferchen geschickt hatten, der trug seinen Besitz in der Pappschachtel oder im Papierpaket davon. Der Abschied wurde mir bei weitem nicht so leicht, wie ich einmal gedacht hatte. Alle meine Erfahrungen, Nöte, Kämpfe, Niederlagen und Siege an diesem Platz – wozu war das nun schließlich gewesen? Was war dabei herausgekommen als sicherer Besitz? Mußte ich nun alles den Geistern hier überlassen, den Gefallenen und Gestorbenen, um so arm und leer davonzugehen, wie ich hergekommen war?

»Vergiß deinen Konfirmationsspruch nicht«, ermahnte mich Herr Salis zum Abschied. »Es ist mehr für dich darin, als du jetzt ahnst. Grüble nicht. Versuche nicht, mit den Gewalten, die dein Leben lenken, zu rechten; sie lassen nicht mit sich rechten. Lerne, was schon die biblische Weisheit erkannte: ›Es ist dem Manne gut, daß er sein Joch in seiner Jugend trage!‹ Gott schütze und behüte dich!«

Mit meiner Pappschachtel an der Hand ging ich allein und sehr von dem Gefühl meiner Kleinheit in der weiten Welt geängstigt die kurze, ansteigende Straße zum Bahnhof hinauf.

Sturz in die Welt

Meine erste Handlung der Selbständigkeit war die Lösung der Fahrkarte am Schalter. Dafür hatte ich genau so viel Geld bekommen, als der Preis betrug. Vor Schüchternheit sprach ich nicht laut genug, so daß der Beamte mich anbrummte. Gleich kam der Zug gefahren. Ich fiel in das erste beste Abteil hinein, verlor meinen Pappkarton, da die Schnur riß, mußte noch einmal hinaus, um meine Sachen zusammenzulesen, und kaum saß ich wieder, so fuhr der Zug ab. Als ich mit meinem Paket fertig war, blickte ich mich um, um zu sehen, wo ich mich überhaupt befand. Rote Polster umgaben mich mit zurechtweisender Pracht. Ich erschrak sehr. Hier war vielleicht schon der Großherzog von Baden mitgefahren, und der Herr Vater hatte gewiß diese Klasse benutzt, wenn er nach Basel fuhr, als er sich noch regen konnte. Tief durchdrungen vom Gefühl der Ungehörigkeit, die ich durch meine Gegenwart in diesem Raum erregte, wagte ich kaum, aus dem Fenster zu blicken; wenn ein Bahnwärter an der Strecke meine profane Figur bemerkte, so mußte zweifellos etwas sehr Unangenehmes für mich erfolgen. Aber ich hatte viel zu romantische Begriffe von den Dienstwegen der öffentlichen Ordnung. Kurz vor Heinfelden erschien einfach ordnungsgemäß ein männlicher Kopf vor dem Fenster meines Abteils. Die Tür ging auf, und mit einem etwas verwunderten Blick über meine Gestalt forderte der Fahrschaffner die Karte. Als er sie gesehen hatte, nahm seine Verwunderung noch immer zu.

»Ja, was tuscht denn du hier?« fragte er mich. »Du bischt wohl ein Reichstagsabgeordneter, daß du erschte Klass' fährscht. Oder du kehrscht aus der Anstalt in dein angestammtes Fürschtenhaus zurück? Jetzt mach aber schnell, daß du da 'rauskommscht. Ebe hält der Zug. Da nebenan ischt die dritte Klass'. Mach, daß du's emal so weit bringscht, daß du mit Recht Erschte fahre kannscht!«

Ich war schon draußen. Während es mir um die Ohren brauste, stolperte ich nach der dritten Klasse, fiel in einen Wagen und zwischen andere Reisende hinein, ohne zu wissen, wie, und bis Herthen wagte ich nicht mehr, mich bemerkbar zu machen. Aber der Klang dieses Namens weckte Geister in mir, die mich meine Verschüchterung vergessen ließen. Kam nicht nach Herthen die Station Wyhlen, die Heimat meiner Mutter, meiner Großeltern, meiner Kindheit? Durch den Lärm der Eisenbahn hindurch hörte ich die beiden Bäche rauschen. Von der großen Stadt Basel und dem dortigen Schuhmachermeister, an den ich adressiert war, kannte ich nichts, aber in Wyhlen hatte ich lauter Freunde, den alten Pfarrherrn eingeschlossen, und wer wußte, was mir dort blühte, während ich mir die Basler Aussichten nicht anders als fremd und feindlich vorstellen konnte. Jetzt traten die wohlbekannten und so lange nicht mehr gesehenen Waldwinkel und Berghänge hervor, die Rebberge und Steinbrüche, droben die Turmspitze des ehemaligen Klosters Sankt Chrischona, wo jetzt die Brüder der inneren Mission hausten, und plötzlich erschien hinter Pappeln und Dächern der alte, graue Turm der Kirche. Mir klopfte das Herz kräftig auf. Ein triebhaft starkes Verlangen nach Freiheit und Freude erfüllte mich. Zwar warnte mich mein Schattenholdsches Blut. Warum hatte meine Mutter zu meiner Konfirmation nichts von sich hören lassen? Alle anderen hatten Besuch oder wenigstens Briefe und Geschenke bekommen; ich mußte sogar mit der Pappschachtel aus der Anstalt abziehen. Aber daran dachte ich jetzt nicht mehr. Der Zug hielt kaum, so sagte ich: »Exküse!«, und über Knie und Füße hinweg strebte ich eilig nach der Tür, die ich öffnete und in meiner Flucht offen hinter mir stehen ließ. »He, wohin willscht du denn?« rief mir der bekannte Schaffner nach. »Das ischt doch noch net Basel. Das ischt erseht Wyhle! Oder wenn du nachher weiterfahre willscht, so muscht deine Kart' abstemple lasse, sonscht ischt sie ungültig!« Aber ich sah nicht zurück. Wer wußte, ob ich nicht im letzten Moment genommen und wieder in den Zug gestopft wurde. Ich lief aus dem Bahnhof, als ob ich gestohlen hätte.

Da stand das Gasthaus zum Rößle. Sollte ich nun hintenherum oder vornherum gehen? Ich entschied mich für den Vorderweg. Erstens war es die Hauptstraße, und dann konnte man schon von unten her die Mühle sehen. In diesem Holzschuppen hatte damals ein Sarg über zwei Böcken gestanden, als der Mann gestorben war. Dort stand das Haus, vor dem der junge Blinde an jedem sonnigen Tag gesessen und in die Hände geklatscht hatte. Das war der Weg, durch den wir im Herbst nach dem Rebberg hinausgefahren waren, um Trauben zu schneiden. Und da fiel wie vorzeiten der Hang vom Wald hinter der Mühle herunter. Veilchen standen da, und auf der anderen Seite fand man Schlüsselblumen, soviel man wollte. Das kleine, schmale Eckhaus war das Haus meiner Großeltern. Mich zog es sehr hinein, aber meine Mutter hatte ich auf dem Hof nebenan an der oberen Straße zu suchen. Als ich doch durchs Fenster über dem Prellstein hineinsah, erblickte ich hinter dem Schustertisch ein fremdes Gesicht. Vielleicht hatte man das Zimmer jemand abvermietet. Vor der Mühle sah ich niemand. Jetzt kam ich zum Hof des Vetters. Da war ein junger Mensch damit beschäftigt, Mist zu laden. Ich kannte ihn nicht.

»Ist meine Mutter da drin?« fragte ich, um etwas zu sagen. Er sah mich verwundert an, weil ich so zielbewußt auf den Hof zustrebte.

»Deine Mutter?« fragte er. »Was für eine Mutter? Wer bist du denn?«

»Der Johannes Schattenhold bin ich«, gab ich zur Aufklärung. »Ist meine Mutter drin?« fragte ich wieder, da er mich immer noch so merkwürdig betrachtete.

»Ja, deine Mutter«, sagte er und stieß die Gabel senkrecht in den Mist, »die ist nicht mehr da. Das ist schon ein Jahr her, daß sie fort ist. Weißt du das denn nicht, wenn du doch der Johannes bist?«

Ich staunte ihn an, ohne etwas zu begreifen. Das ganze märchenhafte Licht, das all die Gegenstände und Figuren hier umspielt hatte, verschwand, und plötzlich sah ich, daß eigentlich Regenwetter herrschte.

»So, fort ist sie?« wiederholte ich endlich. »Wie – ist denn das zugegangen? – Und der Vetter Franz?«

Der Bursche begann vom Mist herabzusteigen; meine furchtbare Betroffenheit und Enttäuschung machte ihn verlegen.

»Komm ins Haus herein«, sagte er. »Da wirst du mehr erfahren. Die Mutter wird dir etwas zu essen geben; wirst Hunger haben. Komm nur!«

Nach seiner Mutter rufend, ging er durch die offene Tür. Ich folgte ihm wie in einem bösen Traum. Drinnen kam mir eine große, gesunde, wohlwollend dreinschauende Frau entgegen, die sich bedächtig die Hände an der Schürze abtrocknete, während ihr Sohn sie über meinen Fall unterrichtete. Sie überflog meine Gestalt mit einem prüfenden Blick.

»Komm nur herein!« sagte auch sie. »Kommst zu Christen und zu ordentlichen Leuten. Wirst uns wohl nicht verachten, wenn du auch aus einer vornehmen protestantischen Anstalt kommst.«

Sie nötigte mich in die Küche und dort an den Tisch, brachte einen großen Brotlaib herbei, von dem sie mir eine Scheibe herunterschnitt, wie ich seit sieben Jahren keine mehr zu sehen bekommen hatte, bestrich sie mit Butter, holte Speck und Wurst, und der junge Mensch kam mit einer Flasche Kirschwasser.

»Kirschwasser bist vielleicht nicht gewöhnt?« fragte die Frau. »Trinkst lieber eine Tasse Milch?«

Ich wehrte schüchtern ab, Kirschwasser sei mir ganz recht, und der Bursch goß mir ein.

»Trink aber langsam«, mahnte er. »Er hat's in sich.« Er schien heimlich zu lachen, und das machte mich noch verwirrter. »Zuerst iß einmal ordentlich, damit du einen Boden legst.«

Er ließ sich selber von der Frau ein Frühstück herrichten, und während sie die unterbrochene Zurüstung fürs Mittagessen wieder aufnahm, hatte ich zuerst Rede zu stehen, wie es in der Anstalt gewesen sei, und was ich jetzt vorhabe. Sie wechselten ein paarmal Blicke miteinander, sagten aber weiter nichts dazu.

»Ja, also der Vetter Franz«, hob dann die Frau an zu berichten, »der ist so sonderbar geworden die letzte Zeit, wie wenn er nicht mehr recht bei sich wäre, und da haben sie ihn schließlich ins Altmännerhaus geschafft, deine Mutter und die beiden Söhne. Ja, und dann haben sie hier alles verkauft und sind miteinander davongegangen. Nach Zürich, sagt man. Hat keiner hier etwas Direktes von ihnen gehört. – Daß du bloß von allem nichts erfahren hast!« wunderte auch sie sich.

»Vielleicht ist – der Brief verlorengegangen«, sagte ich, um die Ehre meiner Mutter zu retten.

»Ja, das ist schon möglich«, gab sie zu und schaffte weiter.

Eine Stille trat ein. Plötzlich stand ich auf.

»Ich will jetzt zu meinen Großeltern hinüber!« sagte ich. Tatsächlich waren ja auch sie die Nächsten dazu, mir das alles zu erzählen, und nicht diese fremden Menschen hier.

Die beiden sahen sich wieder an.

»Ja, da muß ich dir nur sagen, daß du die auch nicht wiederfinden wirst«, erklärte die Frau. »Gehst du zu Fuß nach Basel? Da kommst du nämlich am Friedhof vorbei. Dort liegen sie nicht weit voneinander. – Zuerst ist deine Großmutter gestorben, ist sanft und selig verschieden, und ein halbes Jahr darauf ging ihr der Großvater nach, hat eine Erkältung bekommen in seinen alten Tagen, und weil niemand nach ihm sah, ist eine Lungenentzündung draus geworden. ›Ich geh' meiner Lilli nach!‹ soll er gesagt haben. ›Ich hab' hier nichts mehr zu tun!‹ – So starb er.«

»Wer – wohnt denn jetzt im Haus?« fragte ich mit schwerem Herzen.

»Ja, das ist dann auch verkauft worden. Da waren ja zuviel Schulden zusammengekommen mit den alten Leutchen, und die Jungen konnten nicht helfen, denen geht es selber schlecht.«

Mich würgte es im Hals, daß ich Mühe hatte, den letzten Bissen Brot hinunterzubringen.

»Nimm einen Schluck Schnaps«, riet mir der Bursche. »Der wärmt und verreißt es.«

»Bist ja jetzt erwachsen und ein freier Mann«, sprach mir die Frau zu. »Mußt nun dein Leben auf die eigenen Schultern nehmen. Ist nicht schön, so etwas plötzlich zu erfahren, und dazu von fremden Leuten, aber das ändert ja an deinen Sachen nichts. Hast deine Marschroute. Lernst ein braves, ehrliches Handwerk und wirst ein rechtschaffener Mensch. Darauf kommt alles an.«

Halb bewußtlos trat ich endlich aus dem gewesenen Hof meiner Mutter wieder ans Tageslicht heraus. Den Schnaps hatte ich stehenlassen. Infolgedessen fror mich richtig, wie der Bursche vorausgesehen hatte. Er wünschte mir noch guten Weg, und die Mutter sagte, ich könne ruhig wieder einmal kommen, wenn ich wolle. Das Haus meiner Großeltern sah mich jetzt an wie ein längst Verstorbenes. Ich wagte nicht, zum zweitenmal durch das Fenster hineinzublicken, als ob ich mich fürchtete, den Augen eines Toten oder eines Geistes zu begegnen. Auch in der Mühle sahen andere Leute; die Müllersleute hatten Bankrott gemacht. Der alte Pfarrherr war gestorben; ein rundlicher junger Mann in der Soutane begegnete mir, als ich die Straße hinunterging.

Mit der Pappschachtel an der Hand wandte ich mich der Landstraße zu, um die Gräber meiner Großeltern zu suchen. Es fing leise an, zu regnen. Die Frau hatte mir die Lage der Gräber so gut beschrieben, daß ich sie bald fand. Jedes war von einem einfachen schwarzen Holzkreuzchen geschmückt; auf den Querarmen standen die Namen der Dahingegangenen. Es war mir so seltsam und beängstigend, daß diese Namen »Felix Kanderer« und »Lilli Kanderer« noch über der Erde im Licht des Tages leuchteten, während ihre einstigen Träger drunten im Dunkel des allumfassenden Mutterschoßes zerfielen und zu dem großen, geheimnisvollen Nicht- und Niemandsein zurückkehrten, aus dem sie seinerzeit – die Daten standen auch auf den Kreuzen – plötzlich aufgetaucht waren. Zum zweitenmal focht mich heute diese rätselschwere Frage an: »Wozu ist nun dies alles gewesen?« Und war es eine Antwort: »Damit ich werden konnte?« Mir schien nicht, als ob meine Existenz die Verantwortung übernehmen könne für all die vorhergegangenen Ereignisse. Der Sinn irgendwelcher Vorbereitungen konnte ich nicht wohl sein, soviel war mir aus dem fünfzehnjährigen Zusammenleben mit mir klargeworden.

Vielleicht trug ich die Verantwortung für die Dinge, die mit meiner Mutter wieder geschehen waren. Ich hatte gemerkt, daß man mir sehr Bedenkliches aus Feingefühl verschwieg. Wenn ich damals mit ihr gefahren wäre, so hätte sie vielleicht die Angelegenheiten hier anders behandelt. Aber war sie nicht ohne mich vor acht Jahren nach Amerika gegangen? Und hatte sie bei ihrer Rückkehr nicht meine Schwester dortgelassen? »Der Herr wird gerecht richten zwischen mir und dir!« hörte ich die Stimme irgendeines alttestamentarischen Erzvaters sprechen. Eine Amsel sang aus der jungen Weide beim Totengräberhäuschen. Im Rheintal drunten rauchten die Schlote der Sodafabrik. Die kleine Glocke der Kirche läutete Mittag. Gegenüber auf der anderen Rheinseite sahen die Aufbauten der Saline Schweizerhall her. Ich fühlte, daß dies alles dazu angetan war, um sich darüber einer großen, andächtigen Verwunderung hinzugeben, und mit diesem Gefühl verließ ich den Kirchhof.

Der Regen zog sich dichter zusammen. Ich hörte jetzt die Tropfen auf meiner Pappschachtel aufschlagen. Bis ich nach Grenzach kam, hatte sich ein dauerhafter Landregen ziemlich ergiebig eingerichtet. Das Gasthaus zum Lamm grüßte an der Straße, aber ich hatte keinen Pfennig in der Tasche. Ich war darauf gespannt gewesen, zum erstenmal wieder die roten Türme des Basler Münsters zu sehen, aber es war, als ob ein grauer, triefender Vorhang vor allen Dingen hinge. Das Wasser rann mir in Bächen vom Hutrand und über das Gesicht, kleine Gebirge von Straßenschmutz häuften sich auf meinen Schuhen. Meine Pappschachtel begann sich in ihre einzelnen Bestandteile aufzulösen. Aber in den Erlen am Rhein sang wieder eine Amsel. Mochte ich enttäuscht und von neuem verlassen sein, so ging ich immerhin einem neuen Leben entgegen. Die Ungewißheit hatte Reize. Wenn sie auch beißend schmeckten, so forderten sie dafür die Männlichkeit heraus.

Ich richtete mich höher auf, um trotz meiner durchweichten Verfassung bei meinem Einzug in der großen Stadt einen braven und einigermaßen unverwüstlichen Eindruck zu machen. Als ich die ersten stumpfen und schmutzigen Häuser der Vorstadt sah, wurde mir zwar noch einmal wind und weh in meiner waghalsigen Gefaßtheit, aber nun hörte ich wieder die gute, überzeugende Stimme des Herrn Salis: »Es ist dem Manne gut, daß er sein Joch in seiner Jugend trage!« Ich fühlte eine bedeutende Willigkeit in mir gegenüber allen unbekannten Mächten und Verhältnissen, denen ich entgegenging, eine Freiwilligkeit, in welcher, wie ich gleichzeitig ahnte, viel Edelsinn und wartender Reichtum lag. »Es wird weitergelebt!« sagte eine andere Stimme zu mir. »Schwimmt und ringt nicht auch deine Mutter in diesem ungreifbaren Ungefähr?« Und noch erfüllt von den Stimmungen des Platzes, von dem ich herkam, sang es fragend und suchend in mir: »Nur frisch hinein! Es wird so tief nicht sein!« Der Vers stammte aus einem Neujahrslied, das Herr Johannes regelmäßig mit uns sang, als er noch lebte, und während ich ihn mit dem Kreuz auf seinen neuen Weg geleitet hatte, trat ich den meinen an unter seinem Zeichen, dem Johannesstern.


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