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Siebentes Kapitel
Der Johannesbund

Die Bluttaufe

Ich war keine so duldende Natur, daß ich mich rein leidend den Beunruhigungen und Anfechtungen hingegeben hätte, die mir an diesem Platz widerfuhren. Das ließ schon meine Phantasie nicht zu, die der eigentliche Trieb meines Daseins ist. In die Zeit, in welcher ich anfing, nach Gegenmitteln auszublicken, fiel eine dunkle Geschichte.

Wir hatten da einen gutartigen Jungen, ein Elsässer Kind mit blauen Augen, der Größeren einer, doch sanft und still und vor allem dem Frieden zugeneigt. Aber ab und zu fiel ein Wort von ihm, das auf Selbstachtung und geheime Reizbarkeit schließen ließ. Es wurde mir nie recht klar, nach welchen inneren Regeln er dann entbrannte, aber eben das machte ihn mir interessant; er gehörte zu denjenigen in der Anstalt, auf die ich achtete. Dieser Junge begann auf eine geheimnisvolle Weise zu kränkeln. Eines Tages bemerkte ich, daß er am Arm bis zur Hand herunter eiternde Wunden mit ziemlich schlimmen Borken hatte, aber als ich ihn daraufhin ansprach, lenkte er schnell ab und sprach von etwas anderem. Er war zwei Jahre älter als ich. Auch der Aufseher bemerkte die Geschwüre; sie gaben ihm Anlaß zu abfälligen Bemerkungen über Unreinlichkeit und Schweinerei. Schließlich heilten sie von selber. Das merkwürdigste an der Sache war, daß ich auch von anderen Jungen, mit denen ich darüber sprach, kurz abgefertigt wurde; entweder sie gingen nicht darauf ein, oder sie sprachen darüber weg, und ausnahmslos waren es solche, auf die ich etwas hielt. Ich schloß daraus, daß irgend etwas dahinter steckte; aber als die Krankheit verheilt war, vergaß ich die Sache.

Eines Tages zeigte es sich, daß der Junge – Fraundörfer hieß er – hinkte. Man hörte, er sei beim Turnen vom Reck abgeglitten und mit dem Knie auf einen Stein aufgeschlagen. Später, als ein großes Unglück aus der Sache geworden war, schüttete man den Platz mit Gerberlohe auf. Wer nun mit Fraundörfer bekannter war, durfte sehen, wie das Knie anschwoll; ich wurde auch dazugelassen. Tatsächlich gewann das Bein von Tag zu Tag an Umfang; plötzlich stellten sich dort die bekannten Geschwüre und Borken wieder ein. Die Jungen, die mit ihm näher verkehrten, waren jetzt sehr still und schienen bedenklich. Sie steckten viel die Köpfe zusammen, setzten aber dem Fraundörfer doch zu, sein Knie der Frau Mutter zu zeigen. Was dabei herausgekommen war, wurde nicht recht bekannt. Sie verschrieb Bewegung des Knies, und zur Blutreinigung Lebertran, den er nicht trank; einer seiner Freunde soff ihn heimlich an seiner Stelle als Ergänzung des Speisezettels.

Fraundörfer bewegte nun fleißig das Knie, aber es setzte ihm in zunehmendem Maß Widerstand entgegen, und gleichzeitig begann er zu verfallen. Abends lag er oft frierend und schlotternd im Bett, bis er warm werden konnte; wahrscheinlich hatte er Fieber. Daneben aß er schlecht, und als mit ihm überhaupt nichts mehr zu machen war, steckte man ihn in die Krankenstube. Je länger man es ohne Arzt getrieben hatte, desto schwieriger wurde der Entschluß, ihn nun zu einer vollkommen verdorbenen Sache heranzuziehen. Schließlich war es nicht länger zu umgehen, und der Mann kam. Wir hörten von Fraundörfer, daß er ziemlich deutlich geworden sei, und daß die Frau Mutter einen roten Kopf bekommen habe. Inzwischen entschloß er sich, das Bein zu strecken, nachdem er den Ausschlag weggebracht hatte. Drei kräftige Brüder mußten mit anfassen, und das Geheul des Jungen erklang durch die ganze Anstalt. Darauf lag er etwa acht Wochen im Gipsverband sehr vergnügt. Nachdem man dann den Verband geöffnet hatte, ging man daran, das Bein wieder zu biegen, um ihm seine Beweglichkeit zurückzugeben. Fraundörfer erfüllte jetzt jeden Morgen die Anstalt mit seinem Geschrei. Er verfiel wieder. Fieber stellte sich von neuem ein. Und endlich blieb nichts anderes übrig, als ihn nach dem Krankenhaus zu schaffen, wo die Kniescheibe heraus genommen wurde. Das ganze Knie war vereitert gewesen, und niemand konnte sich denken, wie das zugegangen war, denn auch die rustikalen Kunststücke des zugezogenen Arztes waren keine letzte Erklärung.

Zu jener Zeit wußte ich über die Sache mehr, als alle Ärzte und Professoren zusammengenommen. Eines Tages hörte ich ohne meinen Willen ein Gespräch zwischen zwei Freunden Fraundörfers, aus dem folgender Sachverhalt hervorging. Schon verschiedentlich erwähnte ich den sogenannten Bund. Von diesem Bund war Fraundörfer eines der beliebtesten und angesehensten Mitglieder. Über den Bund selber wußte man nicht mehr, als daß er eine lose Zusammenrottung der widerstandsfähigeren Köpfe war, und daß er die »Bluttaufe« hatte. Es wurde einem mit einem Messer eine Wunde beigebracht, und damit war man, wie es schien, aufgenommen und hatte Anspruch auf alle Vorteile des Schutzes, den der Bund seinen Mitgliedern angedeihen ließ, war aber auch auf eine Reihe von Verpflichtungen festgelegt, deren Tragweite bei den Außenstehenden nicht ganz feststand. Die Beteiligten selber wußten zu schweigen. Das Messer nun, mit dem Fraundörfer geritzt worden war, stammte aus dem schmierigen Hosensack eines Anführers, wo es den Raum mit Maikäferleichen und einem Rattenschädel nebst den zugehörigen auf der Straße aufgelesenen Bindfäden und anderen selbst der Bezeichnung unzugänglichen Dingen geteilt hatte. Was er vollends vorher damit gemacht hatte, entzog sich auf ebenso entschiedene als geheimnisvolle Weise jeder näheren Kenntnis. Daß die Wunde dann zu eitern begann, ist daher an sich nicht so mysteriös. Gesetzmäßig verbreiteten sich die Schwären über den Arm und verschwanden nach einiger Zeit, als ihre Existenzbedingungen abgelaufen waren. Als mit dem Sturz auf das Knie eine neue Veranlassung gegeben war, brachen sie ebenso selbstverständlich frisch aus und blieben am Werk bis zum Untergang des Organismus, den sie zweitmalig befallen hatten.

Die Sache gab mir viel zu denken. Betrachtete ich meine Lage richtig, so enthielt sie tatsächlich manches Unsichere, denn ich hatte nachgerade einigermaßen begriffen, mit welcher Macht ich es hier zu tun hatte. Ebenso konnte ich mir vorstellen, daß es nichts schaden würde, dagegen einen gewissen Rückhalt zu haben. Nachdem ich längere Zeit hin und her gedacht hatte, was ich tun müsse, um aufgenommen zu werden, entschied ich mich schliesslich für das direkte Verfahren. Frei nach Schiller in der Bürgschaft dichtete ich folgenden Vers:

»Ich sei, gewährt mir das Verlangen,
In eurem Freundschaftsbund empfangen.«

Den Vers schrieb ich auf und reichte ihn bei demjenigen der Bundesbrüder ein, mit dem ich am besten bekannt war. Er tat zuerst, als wüßte er nicht, was ich wollte, aber da erzählte ich ihm, was ich gehört hatte, und er versprach, die Sache weiterzugeben. Ein paar Tage lang wurde ich von den Bündlern groß angesehen, ohne daß einer etwas zu mir sagte. Endlich trat einer zu mir und begann allerlei dunkle und verworrene Dinge vorzubringen, die mich kopfscheu machen und abschrecken sollten; aber ich hatte mich einmal in den Gedanken verbissen, blieb auf meinem Begehren, und ganz verwundert ging er wieder ab. Einige Tage später nahm mich wieder einer beiseite und examinierte mich nun ziemlich feierlich, ob ich also wirklich bereit sei, mich auf Gnade und Ungnade aufnehmen zu lassen, einerlei, was mit mir passiere? Und ob ich willens sei, für den Bund durch dick und dünn zu gehen? Er sprach von sehr schweren Strafen bei Wortbruch, und stellte mir noch den Rücktritt frei. Meine Idee war inzwischen zu einer Art von stiller Besessenheit geworden, und so forderte man mich schließlich auf, mich zum kommenden Sonntagmittag zur Verfügung zu halten.

Der Wagenschuppen hatte einen großen Dachboden, den man über eine alte Holztreppe erreichte. Wir hatten dort nichts zu suchen, und man konnte nur hinauf, wenn die Luft ganz rein war, denn die Örtlichkeit gehörte zum Bereich des Herrn Johannes, der alles sah und stets da auftauchte, wo etwas los war, als ob er mit den Geistern im Bund wäre. Heute war er nach Basel gefahren, und der beaufsichtigende Bruder wurde durch Mitwisser festgehalten, wurde »belimpft«, wie der Bundesausdruck hierfür hieß. Ein kleiner Kreis von Jungen wartete droben; einer brachte mich an. Im ganzen waren wir fünf. Eine etwas dunkle Einführung folgte nun, deren Hauptaufklärung in der einfachen Nachricht bestand, daß »der Name Johannes sei«. Der Name des Herrn Vaters wurde nicht genannt; ich fühlte, daß er zu jenem lichten, verehrten den dunklen Schatten, »das Andere« bildete. Man weihte mich ferner in die Zeichen ein. Das Kreuz war ein schlechtes Zeichen, das verschränkte Dreieck ? ein gutes, das Zeichen Johannes. Wessen Zeichen das Kreuz sei, wurde wieder nicht gesagt. Schweigsamkeit war absolute Pflicht. Wer petzte, ging keinen guten Tagen entgegen. Zum Schluß nahm man vor, was man zu Beginn hätte nehmen sollen: die Bluttaufe. Ich mußte den Ärmel aufstreifen. Einer der Jungen, der hier das Wort führte, öffnete sein Taschenmesser, und mit der kleinen Klinge zog er mir einen Riß unter der Impfnarbe hin, der ziemlich blutete. Ich bin also dreimal geimpft. Aber ich sah dem Bluten ruhig zu. Auf die Schärfe des Messers hatte ich dann noch die Hand zu legen, während ich den Namen »Johannes« aussprach, und damit war ich eingeweihter Johannesbündler. Einzeln verließen wir den Boden, um nicht aufzufallen, und einer nach dem anderen mischte sich wieder unter die Spielenden, als ob er nie weggewesen wäre.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich alle Mitglieder des Bundes kannte und bis ich über die Richtung und Tätigkeitsweise desselben im klaren war. Inzwischen begann ich frischweg, meine Umwelt mit den Augen eines überzeugten und von dichterischer Phantasie bewegten Johannesbündlers zu betrachten. Das Leben gewann mir erstmalig ein Gesicht. Ich selber hatte einen Standpunkt gefunden, um welchen herum die Dinge und Erscheinungen sich zu ordnen begannen. Eine große und einfache Einmütigkeit verband stillschweigend die Glieder des Bundes miteinander. Alle standen noch in einer Frühzeit, in der sie sich prüfend und suchend nacheinander hinfühlten, und in welchem das, was dabei ausgesprochen werden konnte, erst in der Bildung begriffen war. Aber eben das Unausgesprochene gab unserem Bund diesen geheimnisvollen und beseelten Zusammenhalt. Genug, daß man sich gewöhnte, im Kreuz immer mehr das Zeichen der Lebensanfechtung und der Gefangenschaft, und im Doppeldreieck das Symbol der ungenannten und ungestalteten Widersetzlichkeit, der Freiheit und Unbegrenztheit zu sehen, wenn man es auch nicht so klipp und klar in Worte zu fassen wußte.

Je länger je mehr ging ich in einer geheimen Bewegung herum, die meine bisherige Welt in einem neuen Sinn gestaltete. An den guten Dingen, die ich liebte, oder die ich ersehnte, bemerkte ich nun plötzlich das verschränkte Dreieck als Eigenzeichen; die anderen versah ich mit dem Kreuz. Vor zwei Erscheinungen machte ich jedoch halt und zauderte. Erstens wagte ich nicht, die Gestalt des Herrn Vaters mit einem Zeichen zu versehen. Ich sah keine Möglichkeit, ihm das Doppeldreieck zuzuweisen, aber ihm das Kreuz zu geben, fühlte ich mich nicht stark genug. Und dann war da in meinem Leben auch noch meine Mutter, auf die ich stieß, wenn meine Gedanken auf Ordnung auszogen. Für das Jazeichen war sie weder so hell noch so glücklich, daß ich es ihr geben konnte; ich fürchtete, daß sie es ungeduldig abschütteln würde. Aber sie mit dem Neinzeichen zu versehen, dagegen wehrte sich mein Schicksalsgefühl und mein gerechtes Bedürfnis, sie im Kreis meiner guten und wohltätigen Dinge zu wissen. Ich hatte sie nun schon im fünften Jahr nicht mehr gesehen, wußte nicht, wo sie war, was sie tat, wie es ihr ging, mit wem sie lebte, aber nach wie vor war sie ein Bestandteil meiner Welt, und je nachdem war sie mehr, war sie ziehende, nagende Sehnsucht, war sie eng einhüllende Atmosphäre der Traurigkeit, oder war sie das ferne, unzufrieden und heiß blinkernde Licht eines Sternes aus jener astrologischen Konstellation, die mein Schicksal bedeutete.

Besuch der Mutter

Oft hatte ich mit leisem Hunger und mit Neid gesehen, wie andere Jungen nach der Schule benachrichtigt wurden, daß Besuch für sie da sei, wie sie davonliefen, ihren Kaffee im Stich ließen, und wie sie im Hof zärtlich und stolz irgendwo neben ihren Müttern saßen. Es herrschte unter uns in solchen Fällen ein unabgesprochener Feinsinn. Niemand belästigte durch seine Nähe ein solches Paar, wo es sich niedergelassen hatte. Die Spiele wurden woanders abgewickelt, ja es galt als guter Ton, überhaupt nicht hinzusehen, und so gern wir einander etwas am Zeug flickten, so scharfzähnig und hochfahrend wir insbesondere in Gefühlsäußerungen miteinander verfuhren: über den Umgang mit Müttern wurde nie ein Wort verloren; das war Schonbezirk.

Aber eines Nachmittags, als ich aus der Schule kam, wurde mir gesagt, jemand warte im Besuchszimmer auf mich. Mit klopfendem Herzen, denn es war mein erster Besuch, ging ich hin. Ich fand da eine vollkommen unbekannte, mehr als mittelgroße Frau von bitterschönem Aussehen, mit großen, schwarzen Augen und schwarzem Haar. Sie erklärte mir, daß sie meine Mutter sei, und fragte mich, ob ich sie noch kenne. Ich war furchtbar betroffen, denn ich konnte mich durchaus nicht entsinnen, sie schon einmal gesehen zu haben, sagte ihr ungewiß guten Tag, blickte ihr suchend in die unzufriedenen, nachtdunklen Augenabgründe und bemerkte schüchtern den enttäuschten und müde aufgebrachten Zug in ihrem Lächeln, während sie feststellte: »Du gleichst aber sehr deinem Vater!« Dann ging sie daran, den mitgebrachten Armkorb auszuräumen. Geküßt hatte sie mich noch nicht; ich denke heute, daß meine große Ähnlichkeit mit meinem Vater sie so befremdete.

»Also da hat man dich hingebracht?« sagte sie während des Auspackens. »Gefällt es dir denn hier?« Sie sprach alles mit dem gleichgültig scheinenden und von vornherein enttäuschten Ton, den sie jetzt an sich hatte.

»Manchmal«, erwiderte ich, noch etwas zurückhaltend. »Manchmal auch nicht. – Wie geht es dir?«

»Ach, danke. Man ist wieder in Europa; da muß man sich an vieles Schlechte gewöhnen.«

»Ist es denn in Amerika anders?« fragte ich.

»Ja. Daß eine Mutter, die zu ihrem Kind will, erst kreuz und quer verhört und so von oben herab behandelt wird, das gibt es jedenfalls drüben nicht.«

Ich sah sie erschrocken an, aber sie schien nicht erzürnt zu sein, so schwer mir auch der Verstoß vorkam, den man sich gegen sie hatte zuschulden kommen lassen. Ich nahm ihn mir zu Herzen, zumal man mich an die Auffassung gewöhnt hatte, daß ich hier vollberechtigtes Kind im Vaterhaus sei.

»Wer hat denn das getan?« forschte ich beklommen.

»Ach, das ist ja gleich. Irgend so eine junge Person. Es wird die Tochter hier sein. Kümmere dich nicht darum. Nimm! – Wie bekommt ihr hier zu essen? Du siehst nicht gut aus. Viel zu klein und schmal bist du! Was für dünne Ärmchen du noch hast! Ihr müßt da wohl sehr hungern?«

»Manchmal ist es zuwenig«, gab ich zu. Allmählich begann mich der Mutterklang zu erwärmen. »Wo bist du jetzt, Mutter?«

»In Wyhlen beim Vetter Franz. Du weißt doch: neben dem Großvater. Da ist die Frau gestorben, die Base Marie, und ich mache jetzt die Haushaltung. – Kommst du nicht einmal auf ein paar Wochen nach Wyhlen?«

»Wir dürfen hier nicht heraus. Niemand bekommt Ferien. Bloß die Brüder können im Sommer verreisen.«

»Mit meinem Willen bist du nicht hier. Das hat man hinter meinem Rücken getan. Ich kann dich wegnehmen, wenn ich will; ich habe das Recht dazu. Du mußt es nur sagen. Keine acht Tage bist du dann mehr hier. – Nun, überlege es dir. Ich werde ja jetzt ein Auge über dir haben. – Großvater und Großmutter lassen dich grüßen. Die Großmutter wird jetzt immer weniger; sie wird es wohl nicht mehr lange machen. Sie spricht immer von dir und macht dem Großvater Vorwürfe, daß er dich fort gelassen hat.«

»Ist die Großmutter denn sehr krank?«

»Sehr krank weiter nicht. Sie hat ja die Gicht. Und jetzt wird sie eben immer weniger. – Ich werde mit dem Vetter Franz sprechen, daß ich dich zu mir nehmen kann. Platz ist genug im Haus. – Man ist hier wohl sehr fromm?«

»Wir haben jeden Tag zweimal Andacht. Aber viele denken, was sie wollen.«

Ich dachte an unseren Bund und entdeckte, daß ich einen neuen Halt in mir hatte, sozusagen eine Sicherheit, eine Zuflucht vor Gewalten und Einflüssen, die mich hier ängstigten. Dann sah ich meine Mutter auf die Zeichen hin an und fand zu meiner Beruhigung und unter einer starken Empfindung von Achtung für sie, daß sie außerhalb unserer Beziehungen stand; vielleicht stand sie sogar darüber als Vertreterin einer anderen großen Macht, die man hier nicht kannte, die aber sicher auch sehr einflußreich sein mußte. Vielleicht ließ jetzt der katholische Pfarrherr seine Kräfte spielen. Daß sie mich hier wegnehmen konnte, wenn sie wollte, machte mir doch einen starken Eindruck. Mit großer Schnelligkeit bildete sich der Begriff in mir, daß wir dann die angesehensten Leute in Wyhlen sein mußten, denn meine Mutter war in Amerika gewesen, und ich in einer protestantischen Anstalt. Etwas besorgt machte mich der Gedanke, den Johannesbund zu verlassen, aber vielleicht konnte ich einige meiner Kameraden nachkommen lassen und dort einen neuen gründen.

»Denke nur auch, was du willst«, ermahnte sie mich inzwischen. »Besser wäre, mehr Mahlzeiten und weniger Andachten. – Werdet ihr hier auch geprügelt?«

»Manchmal. – Du mußt aber nicht denken, daß es so sehr schlecht ist hier. In Tüllingen soll es viel schlimmer sein, und in Kasteln nicht besser.«

»Dann möchtest du wohl gern hierbleiben?«

»Jeder will gern hier weg«, sagte ich zögernd unter dem Entstehen einer für meine Verhältnisse ungeheuren Spannung. »Je eher je lieber. – Aber ich habe bis jetzt noch nicht gesehen, daß einer fortkam.«

»Nun, dann wirst du es selber erleben«, sagte sie mit leicht geröteten Wangen. »Umsonst ist man am Ende nicht drüben gewesen.«

»Warum bist du eigentlich zurückgekommen?« fragte ich. Ich hoffte im geheimen, zu erfahren, daß sie schon reich genug sei, oder daß man sie gerufen habe, um ihr einen Ehrenplatz anzuweisen. Doch sie sagte ganz geschäftsmäßig: »Ich habe das Klima nicht vertragen. – Aber iß jetzt auch. Schmeckt dir die Wurst nicht?«

Sie hatte mir Käse, Würste, Speck, Brot und Schokolade mitgebracht; auch ein Eierkuchen vom Mittagessen lag zwischen zwei zusammengeklappten Tellern auf dem Grund ihres Korbes; den sollte ich nachher noch essen.

»Doch, sie schmeckt mir«, sagte ich lachend; mir wurde auf einmal so leicht, ich wußte nicht, warum. »Aber das alles darf ich gar nicht behalten, Mutter; es wird mir doch weggenommen.«

»Nun, das wäre mir sehr merkwürdig. Was dir deine Mutter bringt, wirst du wohl essen dürfen.«

»Das ist hier aber so«, sagte ich achselzuckend. »Es geht allen gleich. Sie sagen, wir bekommen unser Essen, und was darüber ist, das ist vom Übel.«

»Was wird denn aus den Sachen, die die Mütter bringen? Werden die verteilt?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe noch nie etwas bekommen. Und es ginge auch in zu viele Stücke.«

»Sie werden das doch nicht selber essen?« horchte sie auf. »Also höre mal, Johannesli, ich werde das klarstellen. Du wirst deine Sachen behalten, dafür stehe ich dir gut. Wenn du davon anderen austeilen willst, so ist das deine Angelegenheit, aber nicht die fremder Leute.«

Später fragte sie mich, ob ich schon darüber nachgedacht hätte, was ich werden wollte.

»Ich möchte gern Lehrer werden«, sagte ich in fragendem Ton. »Aber das ist hier schwer. Man muß erst ein Handwerk lernen, und dann kann man wiederkommen, wenn man noch dazu entschlossen ist. – Ich werde eben wohl wiederkommen!«

Der letzte Satz war wohl etwas ungewiß ausgefallen, und sie lachte jetzt zum erstenmal ein bißchen.

»Wirst schon wiederkommen!« spottete sie wohlmeinend. »Sei froh, wenn du heraus bist. Und Lehrer werden wird man dich auch noch lassen können. Da wird schon unser Herr Pfarrer dahinter her sein. Der erzählt jetzt noch, was du für ein guter Kopf warst, und was für ein Betragen du hattest. (»Also richtig der Herr Pfarrer!« dachte ich einsichtsreich.) In der Klasse warst du ja immer weitaus der Erste. Bist du hier auch der Erste?«

»Nein, der Zweite«, sagte ich ein bißchen kleinlaut. »Vorher war ich der Erste. Aber da bekam auf einmal der Lehrer die Versetzwut, als ich eine Antwort nicht wußte, und der Zweite auch nicht. Zuerst flog ich zum siebenten Platz hinunter, dann wurde ich Zweiter, und seither hat er nie mehr nach Leistungen gesetzt. – Es ist ja auch gleich.«

»Es ist gar nicht gleich. Ich werde untersuchen, warum du nicht Erster sitzest. – Wenn dein Vater noch lebte, so könntest du Pfarrer oder Doktor werden. Und wer weiß? Vielleicht heirate ich den Vetter Franz, und dann bekommen wir einen guten Hof. – Möchtest du nicht etwas Besseres als Lehrer werden? Lehrer sind Hungerleider.«

Ich überlegte. Herr Johannes war kein Hungerleider, aber wer konnte hoffen, auch ein Herr Johannes zu werden?

»Ja, dann möchte ich alles werden«, sagte ich wie zur Probe. Sie sah mich verwundert an.

»Ich weiß nicht, ob es ein solches Studium gibt«, erwog sie. »Vielleicht die Philosophie.«

Während wir so sprachen, kam ein älteres Mädchen ins Besuchzimmer herein und sagte, meine Mutter möchte zum Herrn Vater kommen. Sie packte ihren Korb wieder ein, nahm mich an der Hand und folgte meiner Leitung. Mit roten Flecken auf den Wangen, aber ruhig trat sie mit mir vor die hohe Persönlichkeit. Ich war sehr stolz auf sie, und meines nächsten Schicksals schon beinahe gewiß, betrachtete ich dies alles hier ein bißchen mit Abschiedsblicken.

»So, also Sie sind die Frau Schattenhold!« sprach der Herr Vater sie an. »Es ist ja schön, daß Sie wieder im Land sind und sich um Ihr Kind kümmern.«

»Um mein Kind habe ich mich immer gekümmert«, erwiderte sie. »Ich hatte es bei seinen Großeltern gut untergebracht. Man hat es ohne meinen Willen dort weggenommen und kann mir nun nicht solche Sachen durch die Blume sagen. Nachdem ich heute gesehen habe, wie man hier mit Müttern umgeht, kann ich mir auch denken, wie man die Kinder behandelt. Ich werde jetzt zurückfahren und alles bereitmachen. In acht Tagen bin ich wieder hier, um ihn zu holen.«

»Sie denken wohl«, erwiderte der Herr Vater mit bereits aufsteigendem Zorn, »ein lebendiges Kind ist eine Puppe, die man liegenläßt und nach Jahren wieder aufnimmt, wenn es einem ankommt? Sie finden hier einen leidlich artigen, wohlgebildeten Jungen vor, der Ihnen gefällt, und wollen nun mit der Frucht unserer Anstrengungen vor den Leuten prahlen? Ein vernachlässigtes, seelisch verkommenes Wesen wurde uns vor vier Jahren eingeliefert, ein kleiner Strolch, der sich schon mit Mädchen herumtrieb, und außerdem sollte er dazu verführt werden, katholisch zu werden. Kann schon sein, daß das Kind nicht mit Ihrem Willen da ist, aber es ist mit dem Willen Gottes da. Darüber denken Sie einmal nach, wenn Sie überhaupt noch etwas von Gott wissen.«

»Ob es auch mit seinem eigenen Willen da ist, spielt wohl dabei keine Rolle?« fragte meine Mutter an sich haltend, aber ihre Stimme zitterte leise, und ihre Augen funkelten. Sie kam mir jetzt sehr schön vor, und ich fing an, für sie zu fürchten.

»Haben Sie sich erkundigt, ob er gegen seinen Willen hier ist? Und wissen Sie, ob er alle seine Gefährten, seinen Bildungsgang und seine Lehrer verlassen will, um bei Ihnen einer neuen Verkommenheit entgegen zu gehen?«

»Verkommen scheint er mir hier«, erwiderte sie. »Er ist zwölf und sieht aus wie ein Achtjähriger. Gefährten und Lehrer wird er auch bei uns finden. Und mitgehen wird er je eher je lieber.«

»Das ist gelogen!« fuhr der Herr Vater auf. »Unterstehen Sie sich nicht, das Kind als Deckschild für Ihre gewissenlose Handlungsweise zu mißbrauchen. – Wo haben Sie Ihr zweites Kind?«

»Das geht hier niemanden etwas an; Sie sind nicht mein Beichtvater. – Es ist drüben bei vornehmen Leuten, wenn Sie es hören wollen.«

»Geh hinaus!« sagte der Herr Vater zu mir. Er war blaß vor Zorn, und als ich zögerte, sagte auch sie: »Geh hinaus, Johannesli; wir haben hier zu reden.« Ich gehorchte mit zitterndem Herzen. Meine Mutter stand aufrecht und mit weiten Nüstern da. Sie sah wohl selber voraus, daß ich bei der nun bevorstehenden Auseinandersetzung nicht nur Schönes zu hören bekommen werde, sonst hätte sie sich meiner Entfernung widersetzt. Es wurde nun drinnen ziemlich scharf geredet. Ich stand in der tiefen Fensternische neben der Tür und wartete trübe auf das Ende des Streites. Ab und zu drang ein laut herausgestoßenes zornmütiges Wort des Herrn Vaters zu mir. Meine Mutter sprach nach wie vor ruhig und mit gehaltener Stimme, aber meine Erwartung, daß sie obsiegen würde, war schon sehr klein geworden. Ich fing auch an, ein bißchen an ihrer Macht zu zweifeln. Sie trug eine Jacke, die mir um so älter schien, je öfter ich sie betrachtete. Auch waren ihre Ärmel ein wenig zu kurz, und ihre Schuhe schienen stark ausgetreten. Aus ihrer Haltung und ihrem Ton gewann ich außerdem etwas wie eine verehrende Überzeugung, daß sie an Fehlschläge und Niederlagen gewöhnt sei. Dafür liebte ich sie um so stärker und nahm um so aufrichtiger ihre Partei, da sie ja trotzdem wagte, gegen den Herrn Vater aufzutreten, aber ich hörte auf, mir für mich selber große Hoffnungen zu machen.

Endlich ging die Tür auf, und sie trat mit Tränen der Wut auf den Wangen zu mir heraus. Ähnlich war vor vier Jahren mein Großvater hier herausgekommen. Standhaft hatte er sich seither geweigert, wieder einen Fuß in dies Haus zu setzen. »Ich habe die achtundvierziger Revolution mit durchgemacht und brauche mich nicht in meinem Alter noch zurechtweisen zu lassen!« schrieb er einmal auf meine Frage, warum ich denn niemals Besuch bekäme. Meine Mutter stolperte aber nicht über die Schwelle, wie er getan hatte. Aufrecht und an sich haltend kam sie heraus und nahm mich bei der Hand. »Du kannst mich noch zum Bahnhof begleiten«, sagte sie. »Mittlerweile ist die Zeit vergangen.« Stumm verließ sie mit mir die Anstalt, durchschritt das dunkle Tor, und erst draußen fing sie wieder an zu sprechen.

»Ist da in der Nähe eine Wirtschaft«, fragte sie, »wo man noch ein bißchen sitzen kann?«

»Gleich beim Bahnhof ist eine«, teilte ich mit. »Aber da dürfen wir nicht hin. Es ist uns streng verboten.«

»Auch mit euern Verwandten?«

»Sonst kommen wir ja nicht hin.«

»Ja, ja, eure Verwandten, Mütter und so weiter, sind alles schlechte Leute. Nur in der Anstalt ist man gut. Laß sie aber verbieten. Wir gehen hin. Mir hat der Zorn Durst gemacht. Und du mußt deinen Eierkuchen noch essen. Ich werde dir Kaffee dazu geben lassen. Oder hast du Angst?«

Angst war kein Ausdruck für das, was ich empfand. Mich bewegte Ehrfurcht, Glück, Mitgefühl, auch Furcht, gewiß, aber irgendeine unbestimmte, unfaßbare Furcht um sie, denn ich war ein Schattenhold, und sie eine Kanderer; darin drückte sich alles aus. Wo war meine Schwester geblieben? Und was hatte es auf sich mit einem dritten Kind, von welchem ich den Herrn Vater drinnen schreien gehört hatte? Aus ihrem ganzen Ton hörte ich heraus, daß dieser immer kämpfende Mann auch sie bereits in der Gewalt hatte, so daß sie nicht einmal versuchte, nachträglich mir gegenüber sich durch hingestreute Bemerkungen einen Sieg zu konstruieren, oder wenigstens ihren Rückzug zu decken. Sie fraß wortlos an ihrem Grimm, während sie mit mir ganz nebensächliche und gleichgültige Dinge sprach. Als wir in der Gartenwirtschaft über dem Bahnhof saßen und sie den Eierkuchen auspackte, sah ich, daß der Korb im übrigen leer war; auch hierin hatte also der Herr Vater über sie gesiegt.

In meiner Verlegenheit fing ich an, sie nach Amerika zu fragen, wie es dort gewesen sei, und ob sie auch Amerikanisch könne. Wie denn Löffel dort heiße? »Schiß«, sagte sie wie aus der Pistole geschossen. »Und Gabel heißt: Verfluchtes protestantisches Lumpenpack!« Darauf war ich eine Welle still, und auch sie saß unbeweglich, so unruhig der Zorn auch an ihr nagte, wie ich am Kommen und Gehen ihrer Farbe sehen konnte.

Endlich wurde mein Kindesgefühl in mir übermächtig. Leise glitt ich von meinem Stuhl weg, und voll hohen Zagens näherte ich mich ihr, bis ich ihr die Wangen streicheln konnte, über die wieder hurtig und mit gewisser Heftigkeit die Tränen herabsprangen. Sie ließ es sich gefallen, aber als ich nun, wie ich es bei anderen Jungen gesehen hatte, ihr auf den Schoß sitzen wollte, stand sie hastig auf und sagte: »Der Zug muß gleich da sein!« Sie rief nach ihrer Zeche, bezahlte und nahm ihren Henkelkorb. »Komm!« sagte sie in einem plötzlich so entschlossenen, zornig federnden Ton, daß mein Herz einen Sprung tat. »Jetzt nimmt sie dich kurzerhand mit!« fuhr es mir durch den Kopf. Ganz benommen und verwirrt stolperte ich neben ihr her nach dem Bahnhof. Vor dem Schalter stand sie einen Moment finster wühlend, ehe sie verlangte. Mir taten die Haare weh vor Spannung. »Wyhlen dritte einfach!« sagte sie dann wie müde geworden. Gleich darauf fuhr der Zug vor. Sie stieg ein, winkte mir aus dem Wagenfenster mit einem freundlichen, aber schon gedankenabwesenden Lächeln zu und fuhr davon. Vereinsamt und verlassen wie nie trottete ich den Bahnhofsweg hinunter. Als ich aus dem Torgang in den Anstaltshof trat, fand ich die Mauern der Anstalt höher und steinerner, die Ecken härter, die Fenster kahler, die Bäume grau und den Himmel darüber zum Staunen leer.


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