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Sechstes Kapitel
Die Vögte

Ein treues Herz

Erwachsene werden in den Augen von Kindern immer mehr oder weniger zu mythischen Figuren. Kinderaugen haben die Fähigkeit, die man fälschlich dem Pferd nachsagt: alles um sich her zu vergrößern, nur sich selber nicht. Mit die eindrucksvollsten Gestalten, die uns in der Armenanstalt Demutt zu schaffen machten, waren natürlich unsere Vögte. An zwei davon möchte ich hier nicht gern vorbeigehen.

Der erste, Hunziker, war ein braunhäutiger, gutmütiger Mensch, der aus irgendeinem anderen Beruf herkam. Die Bürstenbinderei mußte er von den größeren Jungen erst erlernen. Er hat sich ihrer nie in virtuoser Weise bemächtigt, und die Geschäftsbilanz wird früher, denke ich, besser gewesen sein. Er sah auch nicht so sehr auf das gezupfte Lot als auf das Herz, und man mußte es sehr schlimm treiben, bis man bei ihm an die Wand kam. Gewogen wurde wohl von Zeit zu Zeit, weil es gefordert war, und er erklärte dann stirnrunzelnd, daß die und die zuwenig hätten und stehen müßten, aber angesichts des Tisches tat er ihm immer leid, ja, er hat einen, bei dem er durchhalten wollte, selber von der Wand weggeholt, weil er sich, wie er dem Herrn Vater erklärte, geirrt hätte. Und die, bei denen er fest bleiben mußte, weil die Frau Mutter zum Wiegen dagewesen war, entschädigte er regelmäßig für den ausgefallenen Gang Gemüse. Nur Frechheit konnte er nicht vertragen. »Buben«, sagte er aufrichtig bittend, »tut, was ihr wollt, aber seid nicht unverschämt, das wirft ein zu schlechtes Licht auf alle, das geht mir gegen die Natur.«

Das war derselbe Hunziker, der die Geschichte mit einem langen Bengel hatte, dessen Namen ich nicht mehr weiß. Zu jener Zeit gab es wie eine aussterbende Saurierzeit noch eine Garnitur wirklich beachtenswerter Burschen von großem Format; was nachher kam, brachte es nicht mehr so hoch. Ich sah an ihnen empor, wie an Halbgöttern. Da sie alle draußen beschäftigt waren, kam ich kaum mit ihnen in Berührung, aber ich wußte bald genug von ihrem stolzen, hochfahrenden Wesen und von den Geschichten, die sie anstellten, um jedesmal leichtes Herzspannen zu empfinden, wenn einer von ihnen mir am Horizont auftauchte. Nun hatte dieser lange Strolch mit dem Gärtner Zwistigkeiten gehabt, die der Gärtner im abgekürzten Verfahren mit einigen Maulschellen beilegen wollte. Die Auseinandersetzung spielte sich über einer breiten, hohen Treppe ab, die von außen zum Keller hinunter führte, dem sogenannten Kellerhals. Anstatt daß der Junge jedoch seine Maulschellen empfing, nahm er den Gärtner und warf ihn hochgemut den Kellerhals hinunter. Es war ein Kapitalvergehen, von dem jedermann als Sühne die öffentliche, feierliche Züchtigung im Andachtsaal erwartete.

Etwas anderes geschah. Glaubte man des Jungen auf diesem Weg nicht mehr Herr werden zu können oder ihn durch eine geistige Methode empfindlicher zu treffen: jedenfalls wurde er seiner Würde als Gärtnerjunge verlustig erklärt und zum Arbeitstübler degradiert, und zwar sollte er mit uns Kleinen Schweinehaar zupfen. Das Urteil wurde in einer feierlichen Sonderzusammenkunft im Andachtsaal verkündigt und machte tiefen Eindruck. Oben saß der Herr Vater erzürnt und voll schweren Ernstes. Unten stand im Angesicht der Hausgemeinde aufgebracht und trotzend der struppige Bengel, und was mich am stärksten beschäftigte: er stand da in aller Aufregung mit einem unverkennbaren Zug von Genugtuung und Selbstgenuß. Die Sünde oder das Unrecht konnte also auch genossen werden, man konnte sein Selbstgefühl dabei erhöhen. Allerdings blieb er dabei, im Recht gewesen zu sein. Aber das persönliche Rechthaben, erklärte der Herr Vater eindringlich, spiele bei dem christlichen Aufbau dieser Hausgemeinde, wie der göttlichen Welt überhaupt, keine Rolle. Es komme nur darauf an, daß jeder den ihm zugewiesenen Platz der Unterordnung ohne Widerstreben aushalte, seine Pflichten da erfülle und seine Lasten trage, und sein einziges Recht sei, recht zu gehorchen und recht zu dulden. Nicht nur in Demutt müsse man sich demütigen mit zwei harten ›t‹. Die Großen des Himmelreiches würden am Hinnehmen des unerforschlichen Willens ohne Murren und Zweifeln erkannt. Damit dieser hochfahrende Geist aber wieder lerne, zu sein wie die Kinder, wurde die eben erwähnte Strafe über ihn ausgesprochen.

Es war zur Zeit der frühesten Anfechtung, die mein heiter unbefangenes Heidentum unter der Einwirkung des Evangeliums und besonders des protestantischen Geistes, der in diesem Haus herrschte, erlitt. Von der sittlichen Hierarchie der Menschheit, die in Gott gipfelte, besaß ich bereits einen Begriff, wenn ihre Formen mir vor dem Blick auch immer wieder zwischen Wolken, Bäumen und Bergen und zwischen den Träumen meines jungen, warmen Blutes verschwanden. Nun kam dieser lange Erdenbengel in der Arbeitstube neben mich zu sitzen, und mir wurde die Aufgabe, ihn zu unterrichten und zu beaufsichtigen. Sie bedeutete vielleicht eine Auszeichnung, und manche faßten sie so auf, aber stärker, als die kleine Genugtuung darüber, wurde bald der Zauber, den die Ausstrahlung der heißen, starken Natur auf mich ausübte. Mit Achtung, ja mit brüderlicher Scheu, zugleich gehoben und schüchtern meiner anderen Natur bewußt, zeigte ich ihm, was er zu tun hatte, und da ich wußte, daß ihm aufgegeben war, sechs Lot anstatt der vier, die von den Größeren verlangt wurden, vor sich zu bringen, bei Strafe des Wandstehens und Hungerns, war ich ihm behilflich, wo ich konnte. Das bemerkte er.

»Brauchst nicht zu denken, daß ich jetzt sofort krepieren muß, weil ich da in die Arbeitstube verknurrt bin«, sagte er in der Pause murrend zu mir. »Ich werde mir schon zum Meinen verhelfen. Die können mir doch nichts anhaben.«

Er wollte fortfahren, den starken Mann zu spielen, aber an irgendeinem Nebenklang seiner Stimme hörte ich, wie ihm das Herz hier drin unter uns kleinen Stubenhockern blutete, und leise erwiderte ich: »Ich denke das auch nicht, aber es ist doch besser.«

Er besah mich verwundert.

»Was ist besser?« fragte er halb spöttisch.

»Wenn du deine sechs Lot hast.«

Er schwieg eine Weile, dann fragte er, wie ich heiße. Ich sagte es.

»Aha, der da neulich gebetet hat. So einer bist du. Du bist wohl so ein Musterknabe, daß sie dich über mich gesetzt haben?«

»Ich bin ja gar nicht über dir«, versetzte ich möglichst einfach. »Und ein Musterknabe bin ich auch nicht. Wenn Hunziker nicht so gut wäre, müßte ich noch viel öfter an die Wand stehen.«

Er schwieg und dachte wieder.

»Ich weiß«, nickte er dann finster. »Hier sind wir alle in Verschiß. Nächstes Frühjahr werde ich frei. Du hast dann noch vier Jahre. Das ist alles.«

Mittags hatte er nach meiner Schätzung gut und gern sieben Lot gezupft, aber als nun die Frau Mutter, die doch den Aufseher kannte, zum Wiegen selber kam, war es mir klar, daß ich ebenso im Rückstand geblieben war. Das Wiegen begann.

»Hast du genug?« fragte mich der Strafversetzte, mit dem Kinn nach meinem Haufen deutend. Ich war wohl noch auffällig emsig.

»Ich glaube wohl!« sagte ich kleinlaut.

Er erwiderte nichts, saß eine Weile düster brütend, aber als eben sein Vormann daran war, wandte er sich plötzlich zu mir.

»Wenn du vielleicht glaubst, du kleiner Affe, ich habe Angst vor dem Wandstehen, so irrst du dich«, sagte er mit einem geringschätzigen und zugleich verwundeten Glimmen in den Augen. »Da hast du noch was!«

Mit diesen Worten warf er mir wenigstens ein Lot Haar auf meinen Haufen, und ich war so eingeschüchtert, daß ich mich nicht zu wehren wagte. Wirklich hatte er Untergewicht, während ich sehr gut durchkam. Ich schämte mich furchtbar. Der Bursche war der erste große Gram meines Lebens. Mich würgte jeder Bissen im Hals, solange er an der Wand stand.

Aber aus irgendeinem Grund schien er an dem Wandstehen Geschmack gefunden zu haben. Es gefiel ihm, während der ganzen Zeit den Herrn Vater anzustarren, um ihm zu verstehen zu geben, daß er alles kenne, und sich aus nichts etwas mache. Wie man hörte, wurde ihm heimlich von seinen Gartenkameraden zugesteckt. Der Gärtner sollte es wissen, aber ein Auge zudrücken. Hunziker jedoch war in Verzweiflung. Den Jungen jeden Tag zweimal an der Wand stehen zu sehen, war ihm wie eine eigene Bestrafung. Er versuchte es mit Zureden. Er stellte sich hinter ihn, um ihn anzutreiben. Er versprach ihm einen Taler, wenn er morgen sein volles Gewicht bringe. Alles war umsonst; der Bursche wollte mittags an der Wand seinen düsteren Triumph haben und seinen Haß ausströmen. Neben allem Hunger wuchs noch sein Kraftgefühl und äußerte sich in einer unbeschränkten Verachtung der ganzen Anstaltsherrlichkeit. Eine allgemeine Ratlosigkeit diesen rabiaten Menschen betreffend verbreitete sich.

An einem Abend weigerte er sich, den Boden kehren zu helfen, obwohl er an der Reihe war. Hunziker sah ihn mit seinen guten Augen traurig und nachdenkend an, dann nahm er ihm den Besen aus der Hand und half selber kehren. Das war aber nur der Anfang eines zähen Kampfes Mann an Mann, den Hunziker nun mit ihm anfing. Am anderen Morgen nach der Andacht, als wir in der Arbeitstube unsere Plätze einnahmen – der Junge kam lang und mit markierter Gemächlichkeit hinterher –, setzte sich der Aufseher stillschweigend an dessen Platz zwischen uns und begann Haar zu zupfen. Das war uns allen wie ein Schlag vor die Brust. Fragend sahen wir nach dem Burschen. Der stutzte, stand und starrte den Aufseher betroffen an.

»Das ist mein Platz!« reklamierte er dann mit einem etwas rauhen Ton im Hals. »Sie haben hier nichts zu suchen, und foppen lasse ich mich schon gar nicht.«

Hunziker, der heute blaß und geradezu übernächtig aussah, blickte wie verwundert nach ihm auf.

»Was soll hier gefoppt sein?« fragte er ruhig. »Einer muß befehlen, und die anderen müssen gehorchen. Da du nicht mehr gehorchen willst, so mußt du die Aufsicht führen, damit endlich wieder eine Harmonie ist. Das wirft auf die Dauer ein zu schlechtes Licht auf alle und geht mir gegen die Natur.«

Einige Atemzüge lang starrte der Bursche noch schweigend den Aufseher an; dann ging er langsam, halb suchend, halb drohend nach den Fenstern vor. Am dortigen Tisch setzte er sich seitlich auf die Messerbank, einen Fuß noch auf den Boden, und von dort aus begann er seinen Gegenspieler zu beobachten. Hunziker kümmerte sich nicht darum. Uns allen war sehr bange, denn körperlich, wenn es Ernst wurde, konnte Hunziker noch weniger gegen ihn etwas ausrichten als der Gärtner. Vor allem schien es ihm wichtig zu sein, herauszubekommen, ob er hier verspottet werde. Von Zeit zu Zeit überflogen seine mißtrauischen Blicke die Arbeitsbänke, und ich bin sicher, wenn er einen lachen gesehen hätte, so wäre er gefährlich losgebrochen. Aber das fiel keinem ein. Die Bürstenbinder saßen da und warteten bedrückt auf Arbeit. Wir Kleinen waren beschäftigt, und vor lauter Bangigkeit arbeiteten wir so darauflos, daß wir einen Vorsprung schafften und mittags keinem das Gewicht fehlte.

Als so der große Junge sich überzeugen mußte, daß seine Würde hier in keiner Weise benachteiligt werden sollte und man von ihm nur wünschte, daß er die Harmonie nicht länger störe, nahm sein Gesicht einen nachdenklichen und grübelnden Ausdruck an. Unendlich konnte das ja auch nicht weiter getrieben werden; alles mußte einmal seinen Beschluß haben. Dazu sah er hier über das Dach des Kornspeichers hinweg die Wipfel der Lindenallee im Garten herüber winken, und auch die Sehnsucht nach Sonne, Luft und Freiheit mochte ihn plagen. Nach einer halben Stunde ungefähr war er so weit, daß er sich langsam mit einem Seufzer von der Messerbank erhob und quer durch den Raum, über den Verschlag hinwegsteigend, auf den Aufseher zuging.

»Ich werde also gehorchen«, sagte er in seiner kurz angebundenen Art. »Gehen Sie jetzt wieder an Ihren Tisch.«

Hunziker sah ihm sorgenvoll prüfend nach den Augen wie ein Vater.

»Willst du künftig auch deine sechs Lot zupfen?« fragte er. »Daß du es kannst, habe ich am ersten Tag gesehen, wie du dem Schattenhold heraushalfst.«

Noch für die Dauer einer letzten finsteren Musterung über unsere Gesichter hielt der Junge an seinem Stolz fest, dann wurde er müde, und überwunden erklärte er: »Ich werde auch meine sechs Lot zupfen!«

Stirnrunzelnd, doch ruhig nahm er seinen Platz wieder ein und begann zu arbeiten. Mittags hatte er sein volles Strafgewicht. Wir alle liebten und bestaunten ihn; er kümmerte sich nicht darum. Dabei blieb es dann, so ungläubig die Frau Mutter kontrollieren kam und sogar einmal einen halben Vormittag selber die Aufsicht führte. Nach vier Wochen musterhaften Verhaltens, das nur durch unzeitiges Beschreien seitens der Behörde gelegentlich gestört wurde, kam er in den Garten zurück.

Im Herbst, als ich schon nicht mehr an die Geschichte dachte, bekam er mich in einem Winkel beim Holzschopf zu fassen, wo er mir einen prächtigen Apfel einhändigte.

»Friß ihn gleich!« befahl er mir. »Damit die nichts davon sehen.« Pfeifend und die Hände tief in den Hosentaschen schlenderte er weiter, während ich nach seinem Befehl den Apfel auf der Stelle klein machte.

Hunziker überlebte diesen Sieg nicht lange bei uns. Er verließ uns, nachdem er auch mit der Obrigkeit noch einen Streit ausgefochten und verloren hatte. Um uns den toten Verlauf der Zeit in der Arbeitsstube ein wenig zu beleben, begann er während des Haarzupfens und Bürstenbindens vorlesen zu lassen. Acht Tage lang ging das unbeschrien und innerlich freudenvoll. Bedingung war, daß nicht weniger und schlechter gearbeitet wurde, und es scheint, daß wir sie erfüllten. Da kam aber die vorgesetzte Frau über die Einrichtung, und mit dem jovialen Lächeln, das sie in keiner Lebenslage verließ, ordnete sie deren Abstellung an; hier sei keine Lesestube, sondern eine Arbeitstube. Hunziker machte seinerseits geltend, daß der Arbeit ihr Recht werde, aber darüber hörte sie redegeübt hinweg. Da beschloß er, ihr gegenüber schweigsam dasselbe zu tun, wurde zum zweitenmal betroffen, und beim dritten Fall reichte er ruhig, aber bestimmt seinen Abschied ein. Er ließ noch einige Male recht lange und schön vorlesen. Dann ging er mit seinem Handkoffer allein und unserer guten Wünsche sicher nach dem Bahnhof.

Der schwarze Tag

Mit demselben Zug, der ihn uns nach Säckingen entführte, war von Basel her schon sein Nachfolger eingetroffen. Wir hatten uns gerade auf das Glockenzeichen im Hof aufgestellt, als man uns einen muskulösen, untersetzten Menschen zuführte, der Ladurch hieß, und der künftig unsere Bewachung ausüben sollte. Dienernd und beflissen nahm er von der Frau Mutter die letzten Anweisungen entgegen. Keinem von uns war beim Anblick des Gesellen wohl. Er hatte ein rötliches Metzgergesicht mit tiefliegenden, stechenden blauen Augen, eine niedere, breite Stirn, braungelbes Kraushaar, eine starke gerade Nase, einen gekniffenen Mund und das Kinn eines Nußknackers. In den Ohren trug er dünne goldene Ringe. Er führte uns, oder wir führten ihn in die Arbeitstube, und von Stund an lag er als Alpdruck auf unser aller Seelen.

Seine erste Tat, sozusagen die Jungfernrede, war die Verkündigung des dauernden Schweigegebotes auf Befehl und von Herzen. Schon am ersten Abend kam er mit der Waage. Manche von uns hatten darauf nicht gerechnet, und da zudem unsere Aufmerksamkeit mit Recht mehr der Beobachtung des neuen Vorgesetzten galt, um unser Schicksal mit ihm zu erraten, als der Arbeit, so zierten heute sieben von uns die Wand; ich war auch darunter. Da war uns von unserem vermutlichen Schicksal schon allerlei klargeworden, aber die Anstaltsleitung besaß, was ihr bisher noch gefehlt hatte: nicht bloß einen verläßlichen Arbeiter, sondern einen sicheren Aufpasser, einen Vogt, einen rastlosen, allzeit beflissenen Zwischenträger, einen Ankläger von großem Format, und dazu einen rücksichtslosen, prügelsüchtigen Zuchtmeister. Kriechend, speichelleckend nach oben, und tretend nach unten: so enthüllte er mit verblüffender Schnelle und Richtigkeit seine Knechtsnatur, die uns in derselben Eile – es war wie ein Sturz – mit Schreck und Verachtung erfüllte.

Nach dem ersten Zusammenstoß mit einem von uns, der für diesmal noch mit Ohrfeigen von seinen schweren Fleischstücken, die ihm als Hände dienten, geahndet worden war, legte er sich vor unser aller Augen zwei handgerechte Stöcke von ansehnlichem Umfang zurecht; es dauerte auch nur wenige Tage, bis einer derselben, zunächst noch wie spielend – ganz ohne Laune war auch er nicht – zur Anwendung kam. »Na, wie hat's geschmeckt?« erkundigte er sich am anderen Tag lachend bei dem betroffenen Jungen, Kleiber mit Namen. Kleiber, ein kleiner, schwarzer, fester Kerl, maß ihn, ohne zu antworten, mit einem Blick voller Abneigung und richtiger Erkenntnis, und von diesem Tage an war der Haß zwischen beiden besiegelt. In gewöhnlichen Umständen war Ladurch ein Tyrann, in der Feindschaft ein Teufel. An dem Kleiber zog er sich in der Folge einen ganz persönlichen Prügelknaben.

Die Zeitmaschine

Nebenher richtete er sich in seinem Zimmer, das durch eine Tür mit der Arbeitstube verbunden war, nach seinem persönlichen Geschmack ein. Vor allen Dingen schaffte er sich einen Wecker an, so eine Zeitzerkleinerungsmaschine in billigem gepreßtem Blech mit zwei Glocken und einem atemlosen Sekundenzeiger. Acht Tage lang war er damit beschäftigt, sie ganz genau zu regulieren. Dann wandte er einen Teil der Zeit, die sie in geschwätziger Ruhelosigkeit zertickte und zerhackte, dazu an, ihr ein Gehäuse zu machen. Dazu benutzte er dreierlei Stoffe: Holz, Papier und Mull. Aus dünnen Holzbrettern verfertigte er eine poetische Hütte mit Fenstern und einem Dachtürmchen. Die Fenster machte er aus blauem Papier. Mit weißem Papier tapezierte er die Wände innen aus. Dann brachte er vor der offenen Vorderwand zwei kleine Mullgardinen an, wozu er sich den Stoff von der Jungfer Cranach, der jüngeren, gebettelt hatte. Aus Karton verfertigte er zwei Kerzenhalter, die er auf viereckige Brettchen festpechte und mit Goldpapier überzog. Die Lichter, die er hineinsteckte und vor den Uhrtempel stellte, erhöhten noch die Feierlichkeit. Nichts hat mir an dem Menschen einen so tiefen Eindruck gemacht, wie dieser sein Kultus mit der Uhr und mit der Zeit, gemessen an seiner sonstigen Roheit und seinem Stumpfsinn. Was hatte er mit der Zeit zu schaffen, die er doch nur dazu anwandte, geistig dahin zu vegetieren und körperlich seine Muskelmassen hindurch zu wuchten? Nun, er konnte sie anwenden, um uns damit zu plagen und zu ängstigen, und darum kultivierte er sie, baute ihr einen Tempel und machte sich die persönliche Auslage, um ein Götzenbild hinein zu stellen. Jeden Sonnabend putzte er das Gehäuse und rieb das Glas blank.

Nachdem das Werk eine Weile so seinen Tisch geziert hatte, verfiel er darauf, ihm auch noch eine Konsole zu bauen, damit es erhaben in der Ecke seines Zimmers über allen anderen Gegenständen herrschen und drohen konnte. Diese Konsole schmückte er mit einer Goldleiste, und nach einer weiteren Woche entdeckte einer von uns, daß nun der ganze Tempel von einem Mullvorhang verhüllt war, den etwa einen halben Meter darüber eine Messingrosette in der Ecke zusammen faßte. Über der Uhr hielten dann zwei Raffen, eine links und eine rechts, die Vorhänge so weit auseinander, daß gerade das Zifferblatt zu sehen war. Ein anderer brachte in Erfahrung, daß der größere Vorhang das Ergebnis einer neuen Bettelei bei der Jungfer Cranach war, und wir schlossen daraus, daß er sich anmaßte, in diese verliebt zu sein. Das war vielleicht der Zug, wegen dessen wir ihn am eifrigsten verachteten, und wir waren wie schlechte Erzähler zu glücklich darüber, als daß wir uns von seiner Unwahrscheinlichkeit anfechten ließen.

Je mehr diese erkrankte, entartete Zeit uns mit Vorschriften, Schweigegeboten, Strafen und Bedrohungen heimsuchte, je höhnischer, seelenloser uns die Maschine hinter der Mullgardine unsere Gefangenschaft predigte, desto umsichtiger entzog uns Ladurch auch die angeborene Freiheit im Raum: den Trost von Himmel, Horizonten, Ferne und Ausblicken. Eines seiner großen, klarblickenden Verbote betraf das bisherige Aufatmen während der Pausen im Erker; da begriffen auch die letzten von uns, mit was für einem anschlagreichen Feind unserer Kindheit wir es zu tun hatten. Es war nicht mehr erlaubt, in das Schneegestöber über der Rheinbreite zu blinzeln, dem leuchtenden Zug der Frühlingswolken im weiten Himmelblau zu folgen, den Sommer flimmernd und zitternd vor Reife über den Schweizer Bergen still stehen zu fühlen, oder mit den Augen die Farbenherrlichkeit und Milde des Herbstlichtes in uns zu trinken. Haarzupfen, Bürstenbinden, Besenpechen, Finkenmachen, und von seiner Seite nach der Uhr sehen, die Waage holen, zum Wandstehen verurteilen, Ohrfeigen, Prügelszenen, Petzereien und, was ihn uns am tiefsten verächtlich machte: Horchen hinter der zugezogenen Tür seiner Schlafkammer – das waren die Ereignisse unseres gemeinsamen Tages, und andere gab es nicht.

Es war einmal sein Schicksal, anderen den Tag zu verderben. In den kargen Freistunden störte und sprengte er uns jedes Spiel durch seine grobe Körperkraft, die er ungehemmt anwandte; die halbe Zeit und mehr verbrachten wir dazu, den Ball aufzusuchen, den er uns, Gott wußte wohin, verschlagen hatte. Dann zog er die Pfeife aus der Westentasche und gab das Signal zum Abbruch. Zum Glück hatten wir am Sonntag nichts mit ihm zu tun, aber beim Baden im Sommer war es wieder dieselbe Sache. Er war ein rüstiger Schwimmer. Wenn er nun in der Badehose mit seiner behaarten Brust und seinem gewaltigen Muskelapparat ins Wasser schritt, so war keiner unter uns, der ihn nicht voll Furcht und haßvollen Abscheues betrachtete. So lange lag es auf allen wie ein Bann. Hatte eben noch Lachen und Vergnügtheit geherrscht, so wurde es still, und jeder gab seine Unternehmung auf. Oben am Badeplatz warf er sich dann ins Wasser und begann zu schwimmen. Nun waren wir schon aus Ehrgeiz lebhafte Bewunderer jedes guten Schwimmers, ob klein oder groß. Die Söhne des Herrn Vaters schwammen elegant und ausdauernd und überquerten sogar den Rhein. Ladurch aber schwamm wie ein Ochse. Bei jedem Zug tauchte er bis zum Gürtel aus dem Wasser auf, und so war das kein Schwimmen, darüber bestand unter uns Einigkeit, sondern ein Springen, eine tollpatschige Prahlerei mit Muskelkraft. Noch weit im Rhein draußen leuchteten seine goldenen Ohrringe wie drohend herüber, und was uns dabei noch besonders betrübte, das war die absolute Aussichtslosigkeit, daß er bei einer solchen Übung einmal ersaufen könnte. Er kam immer lebend und niederdrückend erfrischt wieder ans Land. Solche Werkzeuge des Schreckens sind gegen Unglücke immun, außer dem Unglück, daß sie das wurden, was sie sind. Ich glaube nicht daran, daß sie auch dies Unglück niemals empfinden. Warum sonst hätte Ladurch immer von Zeit zu Zeit diese Ausbrüche von Despotenlaune gehabt? Sicher nicht aus übermäßigem Wohlbefinden innerhalb seiner rötlichen Haut. Übrigens war er Mitglied des Blauen Kreuzes und trug dessen Abzeichen im Knopfloch, ja man sagte, er sei ein bekehrter Trinker; ein Engel, hieß es, hätte mit ihm gerungen und ihn gerettet.

Die Samstagabende waren bei Hunziker stille, freundliche Stunden gewesen, wie sie sich als innerliche Vorbereitung auf den Sonntag schicken. Ladurch machte sie zu Sammelpunkten des ganzen Wochenzornes. Wir Arbeitstübler hatten das Kommando, den Hof zu kehren. Zu diesem Ende wurden wir in mehrere Gruppen abgeteilt, von denen jede einen Teil des großen Schloßplatzes zu säubern hatte. Die dazu gegebene Zeit war nicht zu knapp bemessen, aber dieser Mensch hatte ja den Zeitteufel im Leib. Es war nicht erlaubt, auch einmal auszuatmen, etwa in den Himmel zu gucken, herabgefallene Kastanienblätter zu rispeln, ein bißchen dem Mühlbächlein zuzusehen, das hier vorbei eilte, und vor allem durfte keine Minute des Nachmittags ohne seinen unnachgiebigen und jugendfeindlichen Druck verlaufen. Er arbeitete wie immer mit großartiger Entfaltung seiner Kraft und Liebedienerei unter den Fenstern des Herrn Vaters, und wehe der Gruppe, die später fertig war als die seine; sie konnte schon vorher wissen, wo man sie abends bei Tisch finden würde. Dem Kehren des Hofes schloß sich bei schlechtem Wetter und im Winter das Waschen im Badezimmer an. Nun waren wir alle verhockt und von Stubenlust verzärtelt, dagegen das Badezimmer enthielt eine verrufene Kälte, der Boden war aus Zement, und das Wasser meistens eisig. Wir hatten also keinen großen Trieb zur Körperreinigung. Er aber waltete zwischen unseren spärlichen nackten Leibern wie ein Metzger unter der Schafherde, schimpfte, schlug, zerrte, verurteilte, stieß die kleinen Schlotternden rücksichtslos ins kalte Wasser, kurz, kaum eine Unternehmung war so gefürchtet wie diese Sonntagswäsche. Einmal tat ich einen großen Ausspruch, der von mir, einem eher stillen und beschaulichen Kind, Aufsehen machte: »Er hat heute wieder den Teufel im Wanst!« Es fanden sich gleich zwei Spulwürmer – auch er hatte seine Kreaturen –, die mir die Petzung ankündigten. Daß sie Wort gehalten haben, schloß ich aus einem Vorfall, der mich im Lauf der nächsten Woche betraf.

Wie so oft in dieser Zeit, hatte ich auch wieder einmal mittags an der Wand zu stehen. Der Herr Vater sagte damals von mir, ich müsse nicht Johannes, sondern Jonas heißen. Jonas ist der Faulpelz unter den Propheten. Ich aber war keineswegs faul, höchstens verträumt, phantastisch, beschaulich, und dies Monstrum von einem Aufseher gab mir ja auch ständigen Stoff zu romantischen oder rachsüchtigen Vorstellungen, abgesehen davon, daß die Klosterklausur, die er über uns verhängte, ohnehin mein Innenleben vorzeitig zur Entfaltung reizte. Irgendwie will das Leben zu seiner Wirkung kommen. Diesmal wurde nun meine Strafe ganz wesentlich verschärft. Ich bekam nicht nur kalte Suppe und weniger Gemüse, sondern überhaupt nichts, und wurde von Ladurch auf das Geheiß der Frau Mutter nach der Arbeitstube zurückgeführt, um während der Freistunde der anderen das fehlende Gewicht Schweinehaar nachzuzupfen. Ladurch aber ging, da er einen von uns einmal allein hatte, darüber noch weit hinaus. Er befahl mir, die Hose herunterzulassen und über den Stuhl zu liegen. Ich gehorchte, doch ließ ich schamhaft das Hemd über meiner Blöße. Er riß es mir herauf, ich tat es wieder herunter, und inzwischen ging es überhaupt in Fetzen. Ihn rührte keine Schamhaftigkeit oder stimmte ihn zur Milde. Wieviel Schläge ich schließlich bekommen habe, weiß ich nicht, aber da er besonnen und langsam unter voller Kraftaufwendung schlug, so dauerte die Prügelei eine Ewigkeit; ich dachte, ich sollte dabei sterben. Vollkommen zerschlagen und vernichtet sank ich nachher auf eine Bank und begann besinnungslos zu arbeiten. Das Weinen kam erst nachher. Da das Sitzen weh tat, warf ich mich vor der Bank – er hatte sich befriedigt nach dem Eßsaal zurück verfügt – auf die Knie nieder und weinte mich einsam und von allen Menschen, sogar von Gott verlassen in meinen Ärmel hinein aus. Nachher stahl ich ihm so viel von dem schon gewogenen Schweinehaar, als ich ungefähr gearbeitet haben konnte, und erwartete still, doch voll Verachtung und flackernd vor Wünschen, die auf seinen Untergang zielten, den Mann zurück. »Siehst du, du kannst, wenn du willst!« stellte er angesichts meines Ergebnisses fest. »Deinen Trotz und Hochmut werden wir dir schon austreiben!« Hellseherisch fiel mir meine schwarze Tante ein, die ungefähr dieselben Worte gegen mich gebraucht hatte, aber um einen Triumph über diese Dummköpfe zu genießen, war ich zu sehr verprügelt und tat mir mein Hinterer zu weh.

Die Lauftrommel

Einmal verhalfen ihm einige von uns zu einem Eichhörnchen. Das setzte er in den Erker, schleppte ihm eine Tanne hinein, baute ihm einen Stall, und nicht genug mit der Maschine in seinem Zimmer, machte er ihm auch noch eine Lauftrommel. Man kennt die ebenso sinnvolle als niederträchtige Einrichtung. Zwei Holzscheiben werden in dreißig bis vierzig Zentimetern Abstand voneinander durch engstehende Drähte zu einem Käfig verbunden und an den Seiten so in Achsen gehängt, daß eine Öffnung mit dem Stall in Verbindung steht. Das Tierchen, in der Hoffnung, einen Ausweg aus dem Gefängnis zu finden, geht in die Trommel hinein, und da sie sich unter seinem Gewicht zu drehen anfängt, beginnt es zu rennen, ohne vorwärts zu kommen, bis es blödsinnig liegenbleibt oder halb rasend in den Stall zurück stürzt. Die Eichhörnchenbesitzer erklären, die Trommel sei zur Gesundheit des Tierchens nötig; wahrscheinlich ist seine Gefangenschaft überhaupt zu seinem Glück unerläßlich. Mit der Herstellung dieser Baulichkeiten verbrachte Ladurch nun ebensoviel Arbeitszeit, die er der Anstalt schuldete, wie früher für den Uhrentempel, von unserer übelwollenden Aufmerksamkeit beehrt; uns tat das Tierchen leid, und zudem gönnten wir es ihm nicht.

Künftig raunte nun links von uns sein verrückter Sekundenzeiger hinter den Mullgardinen und über den Altarkerzen um seine Achse, und raste hier die verruchte Trommel, von dem Tierchen getrieben, herum, daß man selber schwindlig wurde und sich zwischen zwei Maschinen wähnte, die einen nächstens zerrieben. Zwischen allem stieg er als großer Besitzer herum, kujonierte die Jungen, trieb das Tierchen in seiner Trommel an und ging nach seiner Kammer, um nach der Zeit zu sehen, und mit der Waage zu erscheinen. Einmal, als er wieder das Eichhörnchen herumjagte, tat Kleiber knirschend die Bemerkung: »Jetzt drangsaliert er das Tier wieder!« Dies hören und sich auf Kleiber stürzen war eins. Er schleppte ihn am Kragen in den Winkel, wo die schon genannten Stöcke standen; einen davon zerschlug er völlig auf ihm, und den anderen ließ er erst sinken, als er müde wurde.

Dieser Willkürherrschaft haben wir uns immerhin nicht ganz passiv unterzogen. Abgesehen von dem großen Geheimbund, der sicher zum Teil die Antwort auf diese Sklaverei war, unternahmen wir auch zwei von dem Bund ganz unabhängige Revolten gegen den Aufseher. Von der ersten war ich der erwählte Wortführer. Mit noch zwei Jungen trat ich in der Sprechzeit nach dem Kaffee vor den Herrn Vater und trug verabredetermaßen unsere Beschwerden gegen ihn vor, sprach von seinen Prügeleien, seinen Ungerechtigkeiten und Willkürlichkeiten, kurz, was gegen seine Existenz einzuwenden war, und sofern es sich von der Sprachgewalt eines Zwölfjährigen fassen ließ, brachte ich zu Gehör. Der Herr Vater sagte zu, die Sachen zu untersuchen. Nach drei Tagen wurden wir zu ihm gerufen. Links von ihm standen wir, die Ankläger, rechts stand der Verklagte, aber schon der erste Augenschein lehrte uns, daß die Rollen vertauscht waren; wir hatten auf der ganzen Linie den kürzeren gezogen, und der Zweck der heutigen Übung war lediglich eine trockene Ermahnung zur Demut, zum Fleiß und zu einem wohlgefälligen Betragen. Wir sollten ja nicht denken, daß man an uns so viele Tugenden und Verdienste entdecken könne, um angesehene und pflichtgetreue Persönlichkeiten in ihrem Ruf durch uns erschüttern zu lassen. Eine Gegenüberstellung der Aussagen fand nicht statt. Sehr mit kühlem Wasser begossen zogen wir ab.

Die älteste Klasse, die von den Beziehungen zwischen den Geschlechtern schon einen Schein hatte, versuchte ihm von einer anderen Seite beizukommen. Es war da ein junges Mädchen von etwa siebzehn Jahren in der Anstalt beschäftigt, die Schwester eines Glarners, der sich unter uns befand, ein rankes und auch ziemlich hübsches Ding. Die hatte die Hauswäsche unter sich. Wenn die Trockenseile über den weiten Platz vor dem Haus gezogen werden sollten, so brauchte man einen starken Mann, und dazu war Ladurch der nächste. Längst war beobachtet worden, daß dem Aufseher das junge Mädchen nicht schlecht gefiel; ihr Bruder, der Glarner, stand ihm bereits ihretwegen nach dem Leben. Beim Spannen der Wäscheleine machte er so seine Scherzchen mit ihr. Sie mit dem Sack voll Klammern wollte über den Platz, auf dem in schlaffem Zustand das Seil lag; Ladurch hielt es an der anderen Seite. Sobald sie es nun überschreiten wollte, zog er es schnell an. Dies geschah auch, als sie bereits einen Fuß drüben hatte, wobei, um die Wahrheit zu sagen, ihre Röcke mit hoch gingen und, wie behauptet wurde, etwas länger oben blieben, als zu dem Scherz unbedingt nötig war. Über dies Seil hofften die älteren Jungen ihn beim Herrn Vater sicher stolpern zu machen, zumal die Frau Mutter in solchen Dingen sehr wenig Spaß verstand. Diesmal war ein »Gärtner« der Wortführer, ein ruhiger, wegen seiner Tüchtigkeit und Vernunft angesehener Junge. Acht Tage gingen wir in großen Erwartungen herum. Man hatte wahrgenommen, daß Ladurch beim Herrn Vater erscheinen mußte, wollte auch wissen, daß er mit rotem Kopf von der Unterredung zurückgekommen sei, aber sonst regte sich nichts, und am Ende waren die Ankläger selber darüber im unklaren, ob sie nun eigentlich einen Erfolg zu feiern hätten oder nicht.

Anders ging eine Beschwerde aus, von der ich wieder der Wortführer war, die sich aber nicht um Ladurch drehte. Ich setze die Geschichte hierher, um sie nicht zu vergessen. Bereits sagte ich, daß alle unsere Wege und Unternehmungen ein leises, unaufdringliches, aber auch unvertreibbares Hungergefühl begleitete. Infolgedessen paßten wir sehr den Mädchen auf, die ihre Händchen zum Teil in der Küche hatten. Nun förderten neue sorgfältige, mit wahrhaft wissenschaftlicher Objektivität angestellte Beobachtungen das zweifelfreie Resultat ans Licht, daß die Suppenschüsseln der jungen Weiber mehr gute Brocken enthielten als die unseren. Außerdem stellten unsere Mathematiker unter Anwendung verschiedener komplizierter Methoden, zum Beispiel der Differentialgleichung, die Tatsache fest, daß die Mädchenschüsseln, auf den Kopf berechnet, einen bedeutend größeren Anteil abwarfen. Kurz und gut, die aus solchen teils mathematischen, teils naturwissenschaftlichen Ergebnissen niedergeschlagene Erkenntnis war jedenfalls die, daß wir zuwenig zu essen hatten, und die Erwägung der daraus drohenden Nachteile verdichtete sich zu einem neuen feierlichen Beschwerdegang. Eine zu Zweifeln angelegte Natur, die ich in bürgerlichen Dingen bin, veranlaßte mich aber zu der Vorsicht, weniger die Übervorteilung durch die kleinen Weiber in den Vordergrund der Klage zu rücken als die nach unserer Ansicht ungenügende Vereinnahmung an Kalorien überhaupt. Der Herr Vater hörte wieder aufmerksam zu. Nach etwa acht Tagen sodann, als wir in den Eßsaal kamen, bemerkten unsere Augen an der langen Wand hinter unserem Tisch ein gewaltiges Tableau in Kohlenzeichnung, das die Wüste Sinai voll gebleichter Knochen und Schädel darstellte, und darüber in großer Schrift den Spruch: »Murret auch nicht, gleichwie jene murreten und verschlang sie die Wüste!« Mit dem Essen blieb es beim alten.

Das Pamphlet

Eines Tages ging bei uns ein Vers um, der unser Daseinsgefühl mit jener visionären Treffsicherheit ausdrückte, die einige Gedichte der Weltliteratur berühmt gemacht hat. Er lautete kurz und prägnant:

»Ladurch mit dem Besenstiel
Haut die Buben allzuviel.
Allzuviel ist ungesund.
Ladurch ist ein Lumpenhund.«

Eine Zeitlang getrösteten wir uns mit diesem Trotzgesang in der Stille. Niemand wußte, woher er stammte, wer sein Verfasser war. Es genügte, daß Ladurch ein Lumpenhund war und daß man die gereimte Bestätigung davon besaß, und das Geheimnis über den Ursprung des Verses erhöhte noch seine Autorität. Plötzlich ging eine zweite Strophe um:

»Ladurch prügelt immerzu,
Dadurch gibt es keine Ruh.
Keine Ruh bei Tag und Nacht,
Bis das Eichhorn umgebracht.«

Auch dieser Vers fand großen Beifall, obwohl der Verfasser diesmal nicht verborgen blieb; er hing mit meiner Person eng zusammen. Viele meinten nun, ich hätte auch die erste Strophe verfaßt, aber darin irrten sie; ihre Herkunft ist mir so unbekannt wie ihnen. Was das Eichhorn in der meinen zu bedeuten hatte, wußte ich selber nicht; ich wurde auch nie gefragt. Es war eben eines jener Wahrzeichen, durch die sich die Vorstellungskraft von Zeitläufen und Schicksalsgenossen ohne weitere Worte verständigt. Dazu kam, daß damals der Bund schon existierte und sich der Sache bemächtigte. Einmal aus der Hand gegeben, hat man ja keine Gewalt mehr über solche geflügelten Machtmittel. Die Strophe wurde eine Zeitlang geradezu zum Inhalt, zum Signal der Aufsässigkeit, zumal ich sie noch mit einer Melodie versah, die man pfeifen konnte: sie tönte bald aus allen Winkeln.

Nicht lange aber dauerte es, so wurde ich gewarnt, daß ich verpetzt sei. Man nannte mir sogar den Angeber, und in der Nacht darauf wurde er, einer alten Übung getreu, verprügelt, doch ohne meine Mitwirkung. Auch wer sonst einen Span mit ihm hatte, nahm den guten Anlaß wahr. Am folgenden Morgen rief mich Ladurch auf sein Zimmer; der Petzer hatte wohl wieder gearbeitet. Mir war wenig wohl. Jemand gab mir noch schnell den gutmeinenden Rat auf den Weg mit, die Gesäßmuskeln nur recht steif zu machen, dann pralle der Stock ab und tue es nicht so weh. Darauf trat ich in das viel besprochene Gemach, Ladurch schloß die Tür hinter sich. Der Wecker tickte eilfertig und feil. Mit rechtschaffenem Blödsinn glinzten mich die Sterne der Musselinvorhänge an. Auf der tannenen Kommode standen die beiden Leuchter und Photos von Ladurchs Eltern; ich sah die zum erstenmal.

»Sage mal, Schattenhold, es geht da ein Gedicht über mich um«, hob er an. »Du weißt schon. Hast du es gemacht?«

Die Angst saß mir am Hals, aber ich dachte: Nun ist alles gleich. Mich sehr zusammennehmend, schlug ich mich nach vorwärts durch und gab das Gedicht zu. Einen Augenblick war es still, dann geschah etwas Merkwürdiges: Ladurch wurde grau im Gesicht, und seine Züge fielen tief ein. Vor Betroffenheit wandte ich die Blicke von ihm ab, und plötzlich sah ich auf der Kommode ein drittes Bild, das eine junge Frauensperson darstellte. Davon hatte von uns keiner etwas gewußt; es war mir eine hohe Überraschung in aller Furcht. Unwillkürlich suchten meine Augen sein Gesicht wieder. Nun begann er zu sprechen.

»Weißt du, daß ich dich jetzt nehmen und krumm und lahm schlagen könnte?« fragte er mich langsam und mit einem unerwartet trauernden Ausdruck. Ich gab es zu. »Aber es gibt zum Glück auf der Welt noch bessere Geschöpfe als euch verdorbene, arbeitscheue Subjekte«, fuhr er fort. »Meinst du, ich habe nicht schon lange den Hochmut bemerkt, mit dem du mich betrachtest? Und jetzt machst du Spottgedichte über mich. Denke nicht, daß du mich nicht schwer getroffen hast. Ich habe meine Pflicht gegen euch ehrlich erfüllt und kann vor Gott bestehen. Nur von ihm und vom Herrn Vater lasse ich mich richten. Dich lasse ich dahingestellt sein. Nie mehr werde ich dich strafen; das soll deine Strafe sein. Für mich wirst du von jetzt ab einfach nicht existieren. Geh, treibe deinen Hochmut noch höher. Du wirst doch kommen und um Wiederaufnahme bei mir bitten. Und dann werden wir noch einmal anders über diese Sache reden. Du kannst es allen sagen: Ich habe auf der Welt einen Menschen gefunden, der mich nicht haßt und verachtet. Das ist der Lohn für treue Pflichterfüllung. Und dann sage ihnen noch eins: Von wem ich noch einmal höre, daß er das Lied gesungen oder gepfiffen hat – und ich werde es erfahren! –, der bekommt es mit mir zu tun. Für die Prügel mögen sie sich bei dir bedanken. Das ist mein neuestes Verfahren. Jetzt geh wieder. Du singe und pfeife, was du willst. Brauchst dich auch mit dem Zupfen nicht zu beeilen; dir wiege ich nicht wieder, bis du mich darum anflehst.«

Er wandte mir den breiten Rücken, und ganz bestürzt stolperte ich aus seinem Zimmer. Verwundert sahen mich meine Kameraden zurückkommen. Sie hatten nicht gehört, daß ich geprügelt worden war, und ihre Verwunderung nahm noch zu, als ich mich weigerte, über das Geschehene Mitteilung zu machen. Ich fühlte mich zu niedergeschlagen, und das neue Verhältnis erschien mir zu ungeheuerlich, als daß ich das alles in Worte fassen konnte. Ich sagte schließlich, um doch etwas zu sagen: »Er schlägt jeden krumm und lahm, von dem er erfährt, daß er das Lied gesungen oder gepfiffen hat!«

Von heute an behandelte er mich als Luft. Mittags beim Wiegen sah er meine Leistung nicht. War ich beim Aufstellen des Zuges noch nicht fertig, so ging er mit ihm davon, als ob ich ein Tisch oder Stuhl wäre. Kam ich ihm irgendwo in den Weg, so blickte er mit leerem oder finsterem Ausdruck an mit vorbei; ich war nicht da. Hätte ich es mir einfallen lassen, zu schwatzen, so würde er es nicht gehört haben, oder er hätte allgemein grob Ruhe geboten, während jeder andere persönlich an die Wand gekommen wäre. Stumm, unter täglich wachsendem Druck, verrichtete ich meine Arbeit. Wenn er jetzt plötzlich bei mir gewogen hätte, so wäre meine Schale stark heruntergegangen. Nie mehr war ich unter den Aufgerufenen, wenn zu irgendeiner besonderen Arbeit von uns ein Kommando ausgesondert wurde. Trat ich morgens in die Arbeitstube, so war mir, als legte sich eine Kralle um meinen Hals. Dachte ich während der Schule an Ladurch, so bekam ich einen bitteren Geschmack in den Mund.

Es erregte Aufsehen, daß ich nicht mehr wegen Faulheit an der Wand stand, und der Herr Vater sprach mich darüber an. Ich schwieg, und Ladurch schwieg ebenfalls. Von Zeit zu Zeit wurde einer meiner Kameraden fürchterlich geschlagen, weil er mein Lied gesungen oder gepfiffen hatte. Bei der nächsten Gelegenheit sangen oder pfiffen es dafür vier oder sechs. Dann ging er mit blutgeränderten Augenlidern herum, und jeden Moment dachte ich, er würde nun plötzlich aus der Rolle und über mich herfallen, aber er übersah mich weiter. Inzwischen hatten auch die anderen erkannt, um welches Spiel es sich da handelte. Ich erlangte für eine Weile eine trübe Popularität. Man nahm Partei für mich und reizte den Mann erst recht. Doppelt geängstigt und geschreckt führte ich ein trauriges Leben voller Mustergültigkeit, war überall unter den ersten, um nicht zurückgelassen zu werden, unter den Besten, um nicht zu verkommen, unter den Reinlichsten, um meine Selbstachtung vor mir zu retten, und gegen mein jetziges freiwilliges Gefangenenleben war mein voriges erzwungenes mit allen geheimen Demonstrationen der Widersetzlichkeit eine Idylle, nach welcher ich mich schmerzlich zu sehnen begann. Schon sah ich von weitem den Tag kommen, an welchem ich mich unterwerfen würde, um wieder leben zu können.

Auch ein Despot ist verwundbar

An einem Sonntag bekam er den Besuch seiner Braut, die er dem Herrn Vater zuführen und vorstellen wollte. Man hörte nachher, daß er mit ihr vor ihm gekniet habe, um seinen Segen zu erhalten. Sie durfte am Herrentisch speisen. Mit Stolz und Bewunderung sah sie nach ihm hin, wenn er Essen austeilend an unserem Tisch herunter ging. Sie war nicht uneben, ziemlich groß, blond, frisch, ein bißchen zu lasch für meinen Geschmack, doch sicher ein tüchtiger und verläßlicher Mensch, aber wir betrachteten sie als verächtlich, weil sie sich einen Ladurch zum Schatz genommen hatte. Es wurde an unserem Tisch viel gewispert und gekichert, und sie bemerkte es; sie sah jedesmal ganz traurig und verwirrt vor sich nieder. Auch daran beteiligte ich mich nicht. Vielfach wurde ich nachher angegangen, noch einen Vers über sie zu machen; ich lehnte es ab. Man hatte immer noch nicht begriffen, daß mir hier nur noch Unterwerfung oder eine Katastrophe bevorstand, deren Folgen nicht abzusehen waren.

Nach dem Essen ging er mit seiner Braut im Schloßhof spazieren, um sie und sein Glück, seinen guten Geschmack und seinen kühnen Griff bewundern zu lassen. Mit unserem Spiel war heute nicht viel los. Einige von uns waren aus Rand und Band, schrien: »Ach, süße Emma!«, schlugen, wenn er in unsere Nähe kam, ein anzügliches Gelächter auf, das herausfordernd über den ganzen Schloßhof gellte, und riefen dann mit verstelltem Ernst ganz geschäftsmäßig: »Haurieder gibt den Ball!« Einer trieb es so weit, daß er offen brüllte: »Das ist einmal eine schöne Jungfer!« Der Blick, mit dem Ladurch hersah, gefiel mir wenig; er war aufgestört und ratlos, beinahe der Blick eines eingetriebenen großen Tieres. Seine Braut sah verängstigt aus und wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte, plötzlich – man hatte gerade zum Sammeln gepfiffen – ertönte laut und durchdringend von künstlich hochgeschraubten Stimmen im Diskant gesungen der Schluß meines Liedes:

»Keine Ruh bei Tag und Nacht,
Bis das Eichhorn umgebracht!«

Ich hatte mich schon nach dem Portal gewandt, als mir aus dem Rondell Ladurch mit seiner Braut entgegen kam. Ich erkannte sofort, daß er gehört hatte. Die Augen lagen ihm tief eingesunken in den Höhlen. Er sah grau und verfallen aus. Mit einem heißen Blick aus schmerzend zusammengekniffenen Lidern streifte er meine Figur, wandte aber sogleich die Augen von mir ab, und auch die Schritte, die er einen Moment unwillkürlich eingehalten hatte, setzte er wieder fort. »Das ist der schlimme Geist der Jungen, der mir alles angerichtet hat«, hörte ich ihn darauf in leidvoll knurrendem Ton zu ihr sagen. »Nächstens werde ich etwas mit ihm machen, ich weiß noch nicht, was!« Dann kamen die anderen, die gesungen hatten. Es waren Gärtnerburschen darunter, die ihn wenig fürchteten, Bundesmitglieder, die den Krieg gegen ihn aus der Ferne mehr zur Unterhaltung und zur Übung führten. »Wir haben aber heute ein schönes Wetter, Herr Ladurch!« sagte einer laut und mit frecher Höflichkeit zu ihm. Er antwortete nicht. Nachher erhob sich wieder das meckernde Gelächter, das für diesen Tag frisch erfunden worden war. Mir war, als donnerte und grollte hinter mir ein Abgrund, in den ich nächstens rückwärts hineingerissen werden würde.

Nun kamen diese seltsamen Vorfälle, für die ich noch heute keine sichere Erklärung habe, zumal die daran Beteiligten sich streng ausschwiegen. Ich verzeichne sie nur. Am Montagmorgen warteten wir umsonst auf Ladurch, damit er die Suppe ausschöpfte; der Schneider Werder trat an seine Stelle. Als wir dann unter dessen Führung zur Arbeitstube gingen, fanden wir diese zwar offen, aber Ladurch war nicht da, und seine Tür, als Werder daran klopfte, um ihn zu rufen, erwies sich als abgeschlossen; das Schlüsselloch war verstopft. Werder wusste nicht, was er mit uns machen sollte, stellte einen der ältesten an, die übrigen zu beschäftigen, und ging, um der Frau Mutter Meldung zu erstatten. Die erschien nach einer halben Stunde, stellte fest, was Werder schon festgestellt hatte, und bekräftigte durch ihre Autorität seine Anweisungen. Nachdem sie uns noch mit der Waage gewarnt hatte, ging sie.

Bis jetzt hatte die ganze Aufmerksamkeit der verschlossenen Tür gegolten. Plötzlich entdeckte einer von uns, dass das Eichhörnchen tot im Erker auf den Steinfliesen lag. Etwas Blut von seiner Schnauze deutete auf einen unglücklichen Sturz oder aus einen Schlag, dem es erlegen war. Eben war das allgemein zur Kenntnis genommen worden, als ein anderer ein Stöhnen aus Ladurchs Zimmer gehört haben wollte, nachher sollte es mehr ein Husten gewesen sein, aber dass sich Ladurch in dem Zimmer befinde, davon zeigte er sich steif und fest überzeugt. Doch blieb es bis zum Mittag vollständig still, sogar eine Totenstille herrschte nach meinem Gefühl in dem anstoßenden Raum. Vielen von uns war diese Vorstellung, dass Ladurch da drüben sitze und keinen Laut von sich gebe, unheimlich, und die kleineren begannen sich zu fürchten. Niemand wagte zu sprechen, und vor Angst hatte mittags jeder sein volles Gewicht. Alle waren froh, dem ganzen Schauplatz den Rücken kehren zu können. Das verendete Tierchen lag verlassen und nur von einigen Fliegen umschwärmt in der Sonne auf den Steinfliesen.

Für den Nachmittag hofften wir auf eine veränderte Szene, sei es, daß Ladurch wieder da war, oder daß man uns einen Bruder zur Aufsicht zugewiesen hatte. Aber in allem wurden wir enttäuscht. Unter der Führung unseres Ältesten zogen wir so verwaist wie nie den langen Weg nach der Arbeitstube, steckten früh und ängstlich die Lampen an, und mit stillem Grausen machten wir uns klar, dass nicht nur die Lauftrommel im Erker zum Stehen gekommen war, sondern dass nunmehr auch der Wecker nicht mehr tickte. Die meisten fühlten sich von dieser Tatsache schwer eingeschüchtert; der Wecker hatte nachgerade ein Stück ihres Lebens gebildet. Was aber das Verwirrende war: in der Vieruhrpause hatte es sich herumgesprochen, daß Kleiber mit dem Tod des Eichhörnchens in irgendeinem geheimnisvollen Zusammenhang stehe. Die Nachricht kam aus den Kreisen des Bundes, dem er auch angehörte. Er selber sah gespannt und unruhig aus und schwieg finster. In Verbindung damit gewann diese doppelte Stille von beiden Seiten, vom Erker und von der Schlafstube, eine so beängstigende und drohende Bedeutung, daß die Kleineren von uns, die sich vor dem toten Tierchen zu fürchten anfingen, das Heulen kriegten. Aufgeregt und wütend hießen die anderen sie die Schnorre halten, kurz, je höher uns das Grauen über die Köpfe wuchs, desto mehr nahm der heimliche Tumult bei uns überhand. Der aufsichtführende Älteste teilte Backpfeifen und Püffe aus. Andere lehnten sich dagegen auf und nahmen die Kleineren in Schutz. Gegen den Feierabend hin war der Lärm so groß, daß plötzlich die Tür vom Schlafzimmer aufging und Ladurch in Hose und Hemd darin erschien, übernächtig, verstört, mit ganz roten Augen, bleich und gespenstisch. Er sagte nichts, blinzelte nur, die Lider zusammenkneifend, über unsere Köpfe hin, und nachdem er eine Weile stumm an den Enden seines rötlichen Schnurrbartes genagt hatte, zog er sich zurück als eine leibhafte Drohung, die für den Rest des Abends genügte, uns im Bann zu halten. Nachher kam die Frau Mutter, um das Wiegen zu beaufsichtigen; man hatte zu dem Zweck eine Waage aus der Küche geholt. Jemand sagte ihr, daß Ladurch in seinem Zimmer sei. Sie wollte es zuerst nicht glauben. Als es ihr einige bestätigten, ging sie an seine Tür und klopfte. Sie rief auch noch, aber es regte sich wieder nichts, und sie war eher geneigt, an einen frechen Verulkungsversuch zu glauben. Das Aufräumen und Kehren ging den Abend sehr schnell. Nachher fanden wir, daß man eine Lampe hatte brennen lassen, aber keiner brachte den Mut auf, umzukehren und sie zu löschen.

Am anderen Morgen erschien Ladurch zur Morgensuppe mit einem tief veränderten Ausdruck. Seine Augen hatten einen abgekämpften, seltsam versunkenen Blick. Etwas wie eine erschütterte Stille, eine furchterregende Gelassenheit lagerte um seine Person. Die Entschlußkraft zwar schien er wieder zu besitzen, wenigstens bestanden mittags vier von uns die Wand. Aber an den Fenstern des Erkers sah er diesen Vormittag mit trauernd weggewandter Unruhe vorbei, und seine goldenen Ohrringe bewegten sich unausgesetzt. Plötzlich fiel mir ein: »Keine Ruh bei Tag und Nacht, bis das Eichhorn umgebracht!« Mir war, als ob ein Blitz vor meinen Augen niederführe, der mir den wahren Schuldigen zeigte: mich selber. Hatte nicht in meinem Vers die Untat bereits geschlafen, die hier ausgebrochen war? Mit wahrem Schreck erkannte ich, wie das vergiftete Geschoß, das ich damit ausgesendet hatte, auf mich, den Urheber, zurückkam. »Jetzt mußt du dich unterwerfen!« sagte eine Stimme zu mir, und nur Ladurchs unheimliches Aussehen hielt mich davon ab, sofort zu ihm zu gehen und ihm meine Ergebung anzuzeigen. Neben meiner Angst hatte ich auch Mitleid mit ihm, und ich fürchtete mindestens so viel für ihn, wie ich mich vor ihm fürchtete.

Ich verschob aus Ratlosigkeit die Unterwerfung auf den Nachmittag. Am Nachmittag lag aber die Leiche des Eichhörnchens auf dem Tisch der Finkenmacher. Ladurch ließ heute die Finkenmacher Haar zupfen. Aber dem toten Tierchen brannte einsam und schauerlich die Lampe; der leere Verschlag lag dämmerig wie eine Leichenkammer. Ladurch ging denkend und ruhelos zwischen den Tischen hin und her. Alles zusammen gestaltete sich zu einer ungeheuerlichen und niederzwingenden Anklage. Der Abend sank. Grau blickte die Dämmerung durch die Spitzbogenfenster herein. Die Dunkelheit drückte von außen an die Scheiben. Unstet, mit arbeitender Stirn, wanderte Ladurch den Mittelgang auf und ab. »Schattenhold und Kleiber!« rief er endlich auf. Wir erhoben uns fragend. Zwei-, dreimal ging er noch hin und her, als ob er zwischen unsichtbaren Geistern kämpfte, um das richtige Wort für uns zu finden. »Stellt euch in den Verschlag links und rechts neben den Tisch!« befahl er darauf. Zögernd gehorchten wir. Da standen wir dann wieder lange zu beiden Seiten des toten Tieres als Leichenwache oder als trübe glimmende Totenkerzen und warteten, was weiter mit uns geschehen würde. Er hatte jetzt sein unglückliches, verwaistes Laufen aufgegeben und sich an das eine der beiden Fenster gestellt, wo er, Gott wußte wie lange, in die Nacht hinaus starrte. Langsam wandte er sich uns dann zu. Seine Augenränder glühten heute nicht mehr. Blaß, beinahe kummervoll betrachtete er uns von oben bis unten.

»Also das sollte doch keiner denken!« sagte er endlich langsam, wie von schwerer Sorge bedrückt und fühlbar erschüttert. »Da meint ein jeder, er hat es einfach mit zwei Knaben zu tun. ›Seid wie die Kinder.‹ Darüber werde ich künftig meine eigenen Gedanken haben. Heute fürchte ich, daß ich ihnen nicht der richtige Stellvertreter Gottes war, diesen Waisen. – Der da –« Er wies auf mich, ohne mich unmittelbar anzusehen. »Der da – nun, Gott wird ihn geheißen haben. Mit einem Gedicht hat er meine Seele geschlagen mit vergifteten Ruten. – Und der andere –!« Verwundet und schmerzlich grübelnd wandte er Kleiber die Augen zu. »Ihn kann ich vollends nicht anders verstehen als durch Gott. – Wer das Tierchen getötet hat, der hat mir das Leben abgesprochen. Der Betreffende wird wissen, was ich sage, Geständnisse und dergleichen gehören jetzt nicht her, wo höhere Mächte im Spiel sind. – So habe ich also an euch gehandelt, daß mir Gott die schwarzen Engel erscheinen läßt, um mich zu warnen. – Aber vielleicht sind sie weiß, und nur ich sehe schwarz. Vielleicht sind sie einfach Boten Gottes, diese beiden. Denn je länger wir leben, um so mehr Sünden begehen wir, und ich lebe mehr als doppelt so lang, an ihnen gemessen. Meine Sünden sind hundertmal größer. Wie komme ich also dazu, sie richten zu wollen? – Trotzdem –: ›Ärgernis muß ja sein‹, sagt die Schrift, ›aber wehe dem, durch den es kommt.‹ Daran muß ich immer denken. Auch ihr schwebt in Gefahr und wißt es nicht. Das wollte ich euch noch sagen, denn – ich liebe euch. Durch euch habe ich Christus gesehen und bin zur Umkehr gelangt. Nie werde ich es euch vergessen, und auch Gott wird es euch gutschreiben. Aber wer ihr wirklich seid –: Er allein wird es wissen!«

Zwischen Ratlosigkeit und Staunen betrachtete er uns wieder. Aber genau die gleichen Empfindungen waren es, aus denen heraus wir ihn anstarrten, als er jetzt wieder eine Stille eintreten ließ. Was hatte dieser schreckliche Mensch durchgemacht, damit eine solche Wandlung an ihm vorgehen konnte? War er dem Tierchen, das er doch geplagt und geängstigt hatte, wirklich so gut gewesen, um durch seinen Untergang so aus der Fassung gebracht zu werden? Niemals bisher hatte er in dieser Weise zu uns gesprochen. Augenblickslang kam ich mir angesichts seiner seelischen Entfaltung so furchtbar roh und eitel vor, daß ich auf der Stelle zu vergehen wünschte, aber dann bäumte sich mein Selbsterhaltungstrieb wieder auf, und ich erinnerte mich, wie wir an seiner Roheit und Eitelkeit bisher gelitten hatten. Ich war ergriffen, aber ich konnte ihm nicht glauben, und die Verachtung, die ich für ihn fühlte – die aus Haß und Furcht geborene –, vermochte ich auch nicht aufzugeben; ich halte sie noch heute für gerechtfertigt. Schauder und verstärkter Hochmut – das waren die hauptsächlichsten Gefühle, die er in mir erregte. Vielleicht hatte er sich mit dem Herrn Vater besprochen, und seine Worte waren nur der Nachklang dessen, was ihm jener gesagt hatte. Aber vielleicht arbeitete auch die Liebe so in ihm, hatte seine Braut ihn zur Rede gestellt, und war er davon so ergriffen und gerührt. Ungläubig und widerstrebend sah ich der weiteren Entwicklung dieser Szene entgegen.

»Diesem da«, nahm er, auf mich deutend, wieder das Wort, »habe ich neulich gesagt, daß er nicht mehr für mich existiert, bis er sich gebeugt hat. Schweres Unrecht habe ich damit an ihm begangen, denn für mich müßten immer alle Kinder existieren, die mir anvertraut sind. Ich habe mich damit als Mietling erwiesen. Er hat sich nicht gebeugt, aber Gott hat mich gebeugt. Sieh mich an und verzeihe mir, damit dir auch verziehen wird. – Ihr werdet mich nicht mehr lange haben, aber wir wollen in Freundschaft scheiden. Gib mir die Hand.« Er sah mich so hilflos und doch zugleich auch drohend – immer noch drohend! – an aus seinen kleinen, stechenden Augen, daß ich ihm bestürzt willfahrte. Wie sollte ich mir ein solches Übel aufladen, und mich auch jetzt noch verweigern? »Auch du!« wandte er sich dann an Kleiber, nachdem er einen Moment unruhig suchend in meinen Blicken geforscht und sich dann wie betroffen schnell abgekehrt hatte: »Auch du verzeihe mir.« Wie ich reichte ihm Kleiber die Hand. »Ich danke euch, daß ihr mich zum Christen gemacht habt. – Der Herr Vater und auch meine Braut – beide haben mir gesagt, daß ich nicht länger hier bleiben kann. Auch ihnen danke ich. Ich habe schon eine andere Stelle am Blindenheim in Basel. Lauter Gutes erfahre ich Sünder und Ungerechter. Aber Gott wird mir künftig helfen.«

Er gab nun auch allen anderen die Hand; es war eine feierliche und sehr seltsame Stunde. Einige hatten Lust, zu lachen, aber sie wagten es nicht. Den meisten war eher unheimlich zumute, und sie wußten nicht, was sie machen sollten vor Verlegenheit. Zu irgendeiner Art von Übermut sah keiner einen Grund. Es wurde nachher sehr eifrig gearbeitet; auch wenn er heute gewogen hätte, was er zum erstenmal seit drei Jahren unterließ, würde keiner an die Wand gekommen sein. Die Ankündigung seines Rückzuges war zwar ein ungeheures Ereignis, aber er hatte es mit soviel Dämpfungen versehen, daß wir bei weitem nicht darauf verfielen, es als Sieg feiern zu wollen. Abgesehen von dem eindrucksvollen Abstand, den er zwischen seinen Selbstverleugnungsakt und unsere fortdauernde ungebesserte Ungerechtigkeit legte, bewies er auch sonst, was er an diesem Platz von der Kunst gelernt hatte, mit unseresgleichen zu verfahren, und auf die Dauer machte das doch einigen Eindruck, wenn es auch keine Liebe oder Bewunderung erweckte. Man hörte nach und nach, daß er sich mit der übrigen Hausgemeinde ebenfalls ausgesprochen und frisch eingerichtet hatte, und sah, daß er überall sehr ernst genommen wurde. Auch uns gegenüber hielt die neue Stimmung durchaus vor. Er mußte tatsächlich einen schweren Schreck erlebt haben. Möglicherweise hatte diesmal wirklich Christus selber mit ihm gerungen, wie man munkelte. Zwar die Realisten unter uns – mir war noch eher schwül zumute – wollten lieber glauben, daß ihm seine Liebste so die Leviten gelesen habe. Als sie noch einmal zu Besuch kam, betrachtete man sie mit anderen Blicken, und es ging alles von unserer Seite sehr ehrenhaft und respektvoll zu; selbst die Gartenjungen wohnten dem Ereignis diesmal mit einer Art von mildem Ernst bei, der sie gut kleidete. Auch mir schien sie jetzt nicht mehr so lasch.

So gingen wir noch einen Monat lang vorsichtig und mit viel Achtung umeinander herum, denn immerhin hatten wir uns jetzt kennengelernt. Zudem gab es neuerlich eine Partei unter uns, die mit jedem Tag größer wurde, und die ihn allen Ernstes für eine Art von Heiligen zu halten anfing, den man bisher bloß verkannt hatte. Nachdem Kleiber und ich eine kurze Zeitlang beinahe als Helden gefeiert worden waren, fielen wir nun von Tag zu Tag im Ansehen, und am Ende des Monats galten wir wenigstens bei jenen als ausgemachte Verbrecher. Wenn die anderen dabei auch nicht mit taten, so waren sie doch froh, daß sie uns, da wir jedenfalls stark angezweifelt und bekämpft wurden, Anerkennung abziehen konnten, und schließlich sah es aus, als sollten wir, die wir doch der Anstoß zur neuen Zeit geworden waren, allein die Rechnung dafür zahlen. Bereits wurde eifrig darüber disputiert, ob Ladurch uns überhaupt Unrecht getan haben konnte, da er uns doch um Verzeihung gebeten hatte, und Ladurchs Parteigänger stellten die These auf, daß es so oder so eine Gemeinheit von uns gewesen sei. Leidenschaftliche Erörterungen erregte die Schuldfrage, auf welche die Frommen den Kleiber festlegen wollten, während seine Freunde die Anschauung aufbrachten, daß der Täter entweder überhaupt ganz woanders gesucht werden müsse, oder daß sich das Tier von selber, vielleicht auch bei einer Hetzjagd, die Ladurch mit ihm anstellte, zu Tode gestürzt habe. Jedenfalls konnte Kleiber bei einer Untersuchung durch die Obrigkeit – die Frau Mutter vermochte sich doch nicht ganz zurückzuhalten – sein Alibi lückenlos nachweisen, aber das wollte noch nichts sagen, da er zum Bund gehörte. Was mit dem Tierchen wirklich geschehen war, erfuhr man selbst in der Folge nie bündig. Eines Nachmittags fanden wir dann ohne besonderen Abschied die Bürstenbinderei von Ladurch geräumt und einen anderen Mann auf seinem Posten, und damit wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit überhaupt neuen Dingen zu.

Das letzte, was wir von Ladurch hörten, war, daß er sich vom Herrn Vater einsegnen lassen und noch einen Spruch auf die Reise erbeten hatte. Der Herr Vater ließ ihn in die Losbüchse der Brüdergemeinde greifen, und er zog das Wort aus den Sprüchen Salomonis: »Jedermanns Gänge kommen vom Herrn. Welcher Mensch versteht aber seinen Weg?« Getröstet und bestätigt verließ er damit die Anstalt, um seinen neuen Wirkungskreis anzutreten. Ich sah ihn später in Basel im Sommer unter der brennenden Sonne oder im Winter bei Regen und Schnee seine Karre mit den Erzeugnissen des Blindenheims durch die Straßen schleppen, um sie von Haus zu Haus zum Kauf anzubieten. Nachdem er sich unter der schweigenden Beobachtung der Kreise, die er nun als seine Obrigkeit betrachtete, einige Jahre in dieser Weise unterwegs und auch bei den Blinden als geduldiger, treuer Knecht bewährt hatte, übertrug man ihm die Hausvaterschaft in einer kleinen schweizerischen Besserungsanstalt für Knaben, von wo man nur Gutes und Bedenkenswertes von ihm hört. Die wahre Seele des dortigen Platzes soll allerdings seine Frau sein, und sie soll ihn sogar ziemlich schmal an der Kinnkette führen.


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