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Fünfzehntes Kapitel
Der Friedenssommer

Die Huldigung

Es war Hochsommer. Das Korn nahm nicht mehr an ihm teil; es lag, soviel davon uns gehörte, von uns gebändigt bereits in der Anstaltscheune. Der lange Ziegelacker, auf dem es gestanden und im Wind geweht hatte, lief kahl, wie eine Narbe durchs Haar, zwischen Kartoffel- und Rübenfeldern zur Straße hinunter; er stürzte einem geradezu entgegen, wenn man dort vorbeikam, als wollte er nach seinen hunderttausend schlanken, freundlichen Kindern fragen, die ihm die Sense gefällt und der Wagen davongeführt hatte. An die Ernte hatten sich die Ferien der Brüder angeschlossen. Für uns gab es keine Ferien; wen einmal die Anstalt besaß, der sah sein Vater- oder Mutterhaus auf viele Jahre nicht wieder. Dafür fiel in die Ferienzeit Jahr für Jahr der Geburtstag des Herrn Johannes, an dem sich die Brüder zu unserer Genugtuung nur durch Briefe beteiligen konnten. Ab und zu wurden einige Wendungen daraus bekannt, wie: »Ich möchte Ihnen heute meine ehrwürdigsten Glückwünsche in die Quere legen!« oder: »Möge es Ihnen noch lange vergönnt sein, die große Freude und die Ehre unseres Unterrichtes zu genießen!«

Der diesjährige Geburtstag hatte eine besondere Bedeutung, da es der letzte war, den er in der Anstalt verleben sollte. Mit dem kommenden Frühjahr wollte er sich zur Ruhe setzen und nach Basel übersiedeln. Eine Veranstaltung von besonders eindrucksvollem Schwung war daher wohl am Platz, und der Rest des Johannesbundes nahm vor allen anderen die Ehre für sich in Anspruch, die Formen dieser Feier zu bestimmen und auch ihren Inhalt beizusteuern. Jede andere Unternehmung wurde von vornherein gesperrt, aber über die Ausübung des Monopols, das wir an uns gerissen hatten, wurden wir lange nicht einig, bis uns die Freunde des Herrn Johannes aus der Verlegenheit rissen. Eines Tages nahm nämlich Herr Ruprecht mit uns Fühlung und überreichte uns eine Festdichtung, die ihm zwei Herren aus dem Reich zugeschickt hatten mit der Bitte, sie an die geeigneten Hände zur Aufführung weiterzugeben. Die Namen der Herren waren einigen von uns wohlbekannt, wenn man diese selber auch nur selten und noch nie zusammen hier gesehen hatte. Die Dichtung fand unseren ungeteilten Beifall; sie gab uns genau die Stellung, die wir uns zu dem Ehrentag wünschten, und auch der Jubilar schien uns darin hinreichend gefeiert. Mit Eifer wurden die Rollen ausgeschrieben und verteilt. Die Nächsten dazu waren wir selber, doch konnten wir auch befähigte Außenstehende nicht entbehren. Ferner brauchten wir eine Anzahl Mädchen, vor allem Marie Claudepierre; darüber gab es bloß eine Stimme. Die Hauptrolle wollte einer der Herren selber sprechen, und das betrachteten wir als unseren größten Clou. Am Abend vor dem Festtag trafen sie miteinander von Säckingen her ein. Herr Johannes hatte sie vom Bahnhof abgeholt, und wer die drei alten Freunde miteinander durch das Tor eintreten sah, der fühlte eine starke Herzbewegung, eine Ahnung von männlichem Wesen, von klarer, ausgereifter Treue und auch von den Beziehungen des alten Mannes außer uns in der weiten, geheimnisreichen Welt draußen.

Der Tag leitete sich ein mit einem hohen, strahlenden Sommermorgen. Er hatte schon dadurch eine gute Empfehlung bei uns, daß er nicht durch das allmorgendliche Geräusper und Gekrächze der Brüder eröffnet wurde; an Stelle ihrer eintönigen Lieder erklang in den Ferien um fünf der helle Ton der Hausglocke. Bevor sie verklungen war, standen wir alle auf den Füßen und zogen uns eilig an. In großer Geschäftigkeit gingen wir daran, die schon am Tag zuvor in den Freistunden gebundenen Girlanden und Kränze im großen Lehrsaal aufzuhängen. Leitern wurden geschleppt, Hängelampen angerempelt und Zylinder zerbrochen, Wachen gegen den Jubilar mit großer Vollmacht ausgestellt, Nägel in die Wände gehämmert, daß der Kalk spritzte und große Löcher entstanden, und als es zur Suppe läutete, war das halbe Schloß demoliert, aber die Inschriften hingen. Einige von uns, die dazu besonderes Geschick besaßen, hatten Sprüche und Glückwünsche gemalt. Bei meinem geringen Talent, andere anzustellen, fiel immer von allem, was ich anordnete, der größte Teil der Ausführung auf mich selber. Von den neun großen Inschriften hatte ich allein fünf gemacht, und sie konnten sich sehen lassen. Die Anfangsbuchstaben prangten als Inkunabeln in Rot und Gold. Die gotische Schrift herrschte durchaus. Antigua hatte ich nie leiden können; ich sehe sie heute noch nicht gern. Auch die Texte hatte ich bestimmt; ich war bei weitem der schriftkundigste Kopf der ganzen Prophetenschule, eine wahre Bibelkonkordanz. Aber am meisten Kunst war von mir an die Inschriften über dem Pult gewandt. In Erinnerung an jene ergreifende Szene zwischen Jesus und Johannes, dem Jünger, am See nach der Auferstehung, die ich schätzte wie wenige andere, lautete sie: »Dieser Jünger stirbt nicht!« Höheres und Leidenschaftlicheres ließ sich über den verehrten Mann nicht mehr äußern; das fühlte ich auch ganz deutlich. Darüber stand für sich allein blau schwimmend der Name »Johannes«, dessen großes J in dem symbolischen Sechseckstern unseres Bundes ruhte. Noch einmal mochte dieses schicksalreiche Zeichen aufleuchten und dann verlöschen. Das große Blatt hatte einen Kranz von Buschnelken, Rittersporn, Eisenhut und Rosen, die mit Ausnahme der letzteren sämtlich aus unseren kleinen Gärten stammten.

Während der Ferien frühstückte der Herr Vater mit den Seinen droben und spät; den Vorsitz über die verminderte Hausgemeinde überließ er dem Bruder. Aber heute war der »Herrentisch« nicht so verwaist wie sonst. Links und rechts von dem alten Mann auf den Ehrenplätzen saßen seine beiden Freunde, tüchtig und furchtlos dreinschauende Männer in seinem Alter. Der eine war aus Pommern hergekommen, wo er als Oberförster die dortigen Wälder an der Wasserkante hütete. Der andere, ein Regierungsingenieur, hatte es aus Mittelfranken nicht so weit gehabt; er stand dem Bahnsystem eines ganzen großen Bezirkes vor, und hatte gegen zwanzigtausend Untergebene unter sich. Sie ehrten ihn beide sehr, wenn sie ihn auch gelegentlich ein bißchen bekriegten, um ihn nicht zu mächtig werden zu lassen. Während des Frühstücks hatten wir den Oberförster, einen wetterfesten Mann von kritischem Blick, sich mannhaft dafür einsetzen hören, daß Herr Johannes vor seiner dauernden Übersiedlung nach Basel vor allen Dingen endlich die immer versprochene Fahrt nach Pommern unternahm, um seine Wälder und Hirsche kennenzulernen, aber der Regierungsingenieur wollte nichts genehmigen, ohne daß Herr Johannes versprach, ein Rundreiseheft von wenigstens fünftausend Kilometern mit ihm in Oberfranken zu verfahren. Das führte einen ordentlichen Streit zwischen den beiden Reichsdeutschen herauf, in welchem Herr Johannes schmunzelnd das Zünglein an der Waage bildete, aber er wog nicht aus, sondern behielt sich noch alles vor, und inzwischen sprachen sie mit wägendem Ernst darüber, sich alle drei pensionieren zu lassen, um den Rest ihrer Tage irgendwo miteinander zu verbringen; über die Ortswahl kamen sie aber wieder in Streit und ließen schließlich auch das dahingestellt sein. Man merkte schon, daß schöne und schwerwiegende Erinnerungen die grauen Häupter und noch mehr die alten, immer noch warm schlagenden Herzen miteinander verbanden, Geschehnisse, die bis dato ihre Leuchtkraft nicht verloren und sie alle irgendwie und irgendwo jung erhalten hatten, obwohl sie inzwischen Respektspersonen geworden waren.

Die Morgenandacht wurde während der Ferien nicht droben im Saal durch den Herrn Vater abgehalten, sondern gleich hier im Speiseraum durch den Herrn Johannes. Solange war auch die kanonische Reihenfolge der Texte und Lieder aufgehoben. Herr Johannes gab nach seiner Wahl dies oder jenes Lied an, dessen Ton er von einer kleinen Stimmpfeife nahm, die er in der Westentasche trug. Niemals fehlte im Verlauf seiner schlichten, naturfrommen Andachten der Grundchoral: »Herr des Himmels und der Erden« und der andere, den er ebenso zu lieben schien: »Wach auf, mein Herz, und singe dem Schöpfer aller Dinge!« mit der stimmungsvollen Stelle: »Heut, als die dunklen Schatten mich ganz umgeben hatten.« An die Person Christi wandte sich keines seiner Lieblingslieder, wie er den Betrieb des Christentums hier überhaupt seinem theologischen Bruder überließ. Aber am allernächsten seinem Herzen stand der seelenvolle Trost- und Trotzgesang: »Gott ist getreu!«, der sich bis zu der charaktervollen Selbstversicherung erhebt: »Stürzt ein, ihr Berge! Fallt, ihr Hügel! Mich decket seiner Allmacht Flügel! Gott ist getreu!« Dies Lied wählte er heute. Nachher las er an Stelle eines Bibeltextes aus einem von uns allgemein anerkannten Buch Beispiele aus dem Leben und knappe, sehr klare Betrachtungen, die mir wegen ihres übersichtlichen Aufbaus immer sehr gefallen hatten. Solange seine alte, feste Stimme durch den Saal klang, durchströmte uns ein Gefühl freudiger Zusammengehörigkeit mit ihm, trug und erfüllte uns in gehobenem Ernst ein Zustand der Widmung, der ihm unsere Seelen und Geister bedingungslos zur Verfügung stellte.

Auch hatte unter uns eine allgemeine, ganz ungewohnte Angeregtheit um sich gegriffen. Den Mädchen wandten wir heute kaum einen Blick zu; mit dieser Männersache fühlten wir uns zu sehr in der Überlegenheit. Die Andacht war kaum zu Ende, so gewannen wir mit geheimem Lärm die Ausgänge, um uns nach unseren verschiedenen Arbeitsplätzen zu zerstreuen. Ich war auf neun Uhr zum Herrn Vater befohlen. Er hatte begonnen, eine zusammenfassende Chronik der Anstalt unter seiner Leitung und damit etwas wie eine Lebenserinnerung mir in die Feder zu diktieren. Ich bekam damit Dinge zu erfahren, von denen ich noch wenig Ahnung gehabt hatte, und ein ganz anderer Herr Vater erstand vor meinem inneren Blick. Aber auch von diesem stahl sich unbewußt immer mehr ein freundlich wehmütiges Licht nach den fernen Jahren und den Gegenständen hinüber, die ihn dort beschäftigt hatten. Er war ja auch nicht vergebens ein Cranach. Alle Cranache hatten irgend etwas Dichterisches, Eigenes weg, und es war dann bloß die Frage, ob sie damit glücklich wurden. Wenn er nun von einem neuen Dachstuhl erzählte, und was dabei alles passierte, so wurde das unwillkürlich zu einer spannenden Geschichte. Das mußte wahr sein: als er noch gehen konnte, war immer viel bei ihm los gewesen. Zum Schlafen ließ er den Leuten wenig Zeit. Er selber schlief kaum mehr als fünf Stunden. Auch die Frau Mutter stieg aus seinen Erinnerungen heraus als frisches, junges Blut, besten Andenken er mit viel Liebe und Zartheit bekränzte. Dichterisch erwog ich, wie er wohl glücklich mit ihr gewesen sein mußte, und als ich sie dann wiedersah, war mir ganz wunderlich und ehrfurchtsvoll zwiespältig zumute. Wer war ich kleiner Knirps denn, und was wußte ich von den großen, unausdenklichen Dingen des Lebens? Ab und zu kam auch Herr Johannes als junger Mann in den Geschichten vor, und dann lief ich verzaubert und andächtig herum, begriff überhaupt nichts mehr, und mein Vorstellungsvermögen flog im Wind davon wie ein Gespinst von Marienfäden. Etwas Heiliges und Wunderbares mußte das Leben der Erwachsenen sein! Und das tiefste Mirakel war, wenn sie dann als alte Leute so darauf zurückblickten und, wie der Herr Vater jetzt, ganz still und wehmutsvoll zu lächeln begannen.

In der gleichen Zeit unternahmen die beiden fremden Herren Entdeckungsfahrten durch das Haus und brachen schließlich in die Arbeitstube ein, um dort den armen Teufeln von Bürstenbindern aufzuhelfen, indem sie den Aufseher an die Wand drückten. Zuerst ließen sie sich über die Bürsten unterrichten, fragten sehr genau und ließen sich alles zeigen, so daß das ganze Geschäft stehenblieb, und Etwas anderes wollten sie auch nicht. Dann begann der Regierungsingenieur ihnen das Märchen vom großen und vom kleinen Klaus zu erzählen. Nachher lehrte sie der Oberförster Plattdeutsch. Und schließlich spielten sie beide »Ich denke mir was!« mit ihnen. Vom Borstenzupfen und vollends vom Wiegen war heute keine Rede mehr.

Beim Mittagessen nahmen sie die Ehrenplätze neben dem Herrn Vater selber ein; nur die Jungfer Felicitas saß zwischen diesem und dem Oberförster, weil sie den kranken Mann füttern mußte. Wie mir schien, eröffneten sie als frischfreie weltliche Personen einen kleinen Feldzug gegen die Hierarchie in der Gestalt des Herrn Vaters, den dieser aber wohlgelaunt, wenn auch mit starken Hieben des Geistes, parierte, so daß wohl klar wurde: einer in der Schrift gestählten Persönlichkeit versuchten so ungeschützte irdische Figuren ganz umsonst am Zeug zu flicken. Es wurde dabei ziemlich viel Wein getrunken. Auch der Herr Vater sprach ihm trotz seiner Gicht mehr zu als sonst; jeden Augenblick ließ er sich das Glas zum Mund geben. Seine Augen lächelten, und daneben an den Schläfen erschienen gute, launige Fältchen, besonders wenn er mit Johannes scherzte. Aber die Frau Mutter verfolgte mit immer kritischerem Blick die Leistungen des Oberförsters im Essen und vor allem im Trinken. Endlich meinte sie halblaut, was bei ihr so halblaut war: »Ich dachte, an der Ostsee sei es so ziemlich naß? Sie müßten eigentlich gar keine Feuchtigkeit mehr annehmen.« Er lachte und machte ihr eine spöttische Verbeugung. »Ich spüre bereits die hiesige Trockenheit!« gab er gutmütig zurück. Darüber mußte auch sie lachen. Am Bild des Herrn Johannes änderte sich nichts, bloß daß seine Brillengläser funkelten und daß er öfter schmunzelte als sonst.

Endlich waren wir droben im Lehrsaal und erwarteten beinahe lautlos den verehrten Lehrer. Ich stand am Harmonium, um den Ton anzugeben, sobald wir sein bekanntes Räuspern im Gang hörten. Kaum ging die Tür auf, so setzten wir auf mein Zeichen ein: »Das ist der Tag des Herrn!« Es hätte bei dem schwierigen Lied eigentlich einer weitertaktieren müssen. Aber ich wollte das nicht sein; nachdem er selber das Lied mit uns eingeübt hatte, verspürte ich keine Lust, als sein Affe zu agieren. Singend und mächtig voll Scheu brachte ich mich nach meinem Platz in Sicherheit. Doch ging noch alles leidlich, und er hörte uns ernsthaft an, während seine innerlich so hellen Augen musternd durch unsere Reihen gingen. Dann erhob er den altersstillen Blick nach den Kränzen und Inschriften an den Wänden und begann zu lesen. Betrachtend kam er zu dem Spruch über dem Pult. Bei dem blieb er lange stehen. Alles in allem schien es uns, daß wir Eindruck bei ihm machten; darüber erfüllte uns ein mannhafter Stolz, denn er war nicht leicht zu befriedigen. Auch die Mädchen waren nicht zurückgeblieben; sie hatten ihm besonders das Pult bekränzt, das zudem voller Geschenke und Blumen lag. Das Lied sei anständig gewesen, sagte er dann. Und mit der Ausschmückung hätten wir uns viel Mühe gegeben und Kosten gemacht; aber alle Tage sei ja auch nicht letzter Geburtstag. Darauf machte er eine kleine Pause, aber anstatt zum Stundenplan überzugehen, hielt er uns, was bei ihm unerhört war, eine kleine Rede.

»Ein Schuljahr ist schon lang und bringt viele und nicht immer vergnügte Erfahrungen mit sich«, hob er an. »Ihr geht acht Jahre in die Schule. Ich bin schon mehr als fünfzig Jahre darin und muß immer noch lernen. Das Lernen hat kein Ende, aber es ist damit wie mit der Goldwäscherei: es kommt auf den Niederschlag an. – Was ihr vom Schulpensum wirklich kapiert, das kann ich im Examen feststellen. Was ihr später vergeßt oder schlecht anwendet, das entzieht sich in vielen Fällen schon meiner Nachprüfung. Noch kein Lehrer vollends hat am Ende seiner Wirksamkeit alle seine Schüler als erwachsene Menschen, im Kampf des Lebens stehend, um sich versammelt gesehen. Vielleicht erwartet uns in der Ewigkeit ein ähnlicher Überblick; wohl dem, dem er nicht zu weh tut. – Das Ziel des Lernens ist die Weisheit. Davon seid ihr noch weit entfernt. Ich bin ihr um fünfzig Jahre näher. Das bedeutet genau so viel, daß einer der aufgehenden Sonne fünfzig Schritte entgegengegangen ist. Keiner wird die Sonne erreichen; dennoch ist es schön und richtig, ihr entgegenzugehen. – Dann das da, was über dem Pult steht.« Seine grauen Augen suchten mit warmem Ausdruck mich. »Ich nehme an, der das Bild gemalt hat, spricht im Namen von allen, denn da ist er am besten untergebracht mit so einer verfänglichen Sache. Und ich für mein Teil berge mich bescheiden unter allen anderen Johannessen und Hansen, deren Teil nun einmal die Sterblichkeit ist. Meine Aussicht, nicht zu sterben, ist höchstens im Andenken von Menschen, die jetzt noch jung sind, und die sich damit abgeben wollen, mich nicht ganz zu vergessen. – Aber es gehört zur Weisheit, sich auf dergleichen nicht einzurichten«, fügte er lächelnd hinzu. »Flüchtig sind die Erscheinungen der Erde. – Und was ich euch fragen wollte: sollen wir jetzt Grammatik treiben, oder sollen wir Gedichte aufsagen und nachher Tiergeschichten lesen?«

Man war stürmisch für das letztere. Er fragte nach freiwilligen Leistungen. Ich meldete mich mit Goethes Sänger, überrannte dessen Widerstände mit niederschmetterndem Schwung und brachte ihn jagdgerecht zur Strecke.

Herr Johannes hörte stillvergnügt zu.

»Meint ihr, Schattenhold würde in Wirklichkeit auf die goldene Kette verzichten?« fragte er darauf die anderen. »Oder was denkt ihr, daß er tun würde?«

Einige lachten. Andere schrien: »Nein, der würde danach langen, aber tüchtig!« Er blickte erwägend drein.

»Man weiß nie sicher voraus, was mit ihm passieren wird«, zweifelte er. »Mag sein, ihr Schlinghälse würdet danach langen. Aber er sieht eigentlich nicht aus, als ob ein reicher Mann in ihm steckte. Nun, Gott wird ihm immer geben, was für ihn gut ist.«

Nach mir sprach Marie Claudepierre den Postillion von Lenau: »Lieblich war die Maiennacht.«, Auch sie kam nach eingänglicher Unruhe, geneckt und gezupft von ihren Freundinnen, und mit roten Wangen »zu einer guten Landung«, wie wir sagten; aber in der ersten Strophe war ihr ein Hoppas unterlaufen. Es heißt da: »Silberwölklein flogen ob der holden Frühlingspracht freudig hingezogen.« Sie jedoch sagte: »Hin und her gezogen.« Als sie fertig war, fand Herr Johannes alles brav und schön, wollte aber die erste Strophe noch einmal Horen. Wieder behauptete sie, daß die Wölklein hin und her gezogen seien.

»Ja, da ist aber ein Widerspruch zwischen euch«, machte er dann aufmerksam. »Der Dichter läßt die Wolken freudig hinziehen. Warum läßt du sie wieder herziehen?« Das wußte sie nicht zu sagen. Sie sah ihm entgegen mit einer halben Bestürzung, weil sie das Gedicht verdorben hatte, aber zugleich mit einem fernen mutwilligen Aufblitzen in den Augen, das sich auf ein Abenteuer rüstete. So war sie immer. »Nun, wir wollen sehen, ob wir das herausbringen«, sagte Herr Johannes. »Was zieht hin und her? Was fällt dir dabei ein?«

»Schafherden«, erklärte sie unverweilt.

»Gab es bei dir zu Hause Schafherden?«

»Ja. Sie zogen morgens bei unserem Haus vorbei, und abends kamen sie wieder«, teilte sie unter aufleuchtenden Blicken mit.

»Die Wolken haben dich also an die Schafherden deiner Heimat erinnert«, stellte er fest. »Aber es steckt noch mehr dahinter. Du hast auch bei den Wolken etwas dagegen, daß sie bloß hinziehen.«

Sie dachte einen Moment nach.

»Dann kommen sie nicht wieder«, sagte sie zögernd.

»Wem kommen sie nicht wieder?«

»Mir –!«

Er sah sie einen Moment freundlich an, so daß sie sich mit einer tiefen Röte überzog, aber zugleich ging ein lautloses Lachen über ihr Gesicht; sie hatte ihn verstanden.

»Sie ist nicht dafür, viel fahren zu lassen, was sie einmal hat«, erklärte er gegen uns. »Aber laß gut sein«, wandte er sich noch einmal an sie. »Mit kleinen Unterschieden geht es uns allen so. Du mußt nur nicht gar zu streng darauf halten.«

Einige Wochen später – ich glaube, es war an ihrem letzten Sonntag – sagte sie abends im Speisesaal dasselbe Gedicht, das sie besonders zu schätzen schien, noch einmal auf, offenbar mit dem Willen, sich nun zu verbessern. Wie heute fing sie mit frischem Gefühl an: »Lieblich war die Maiennacht. Silberwölklein flogen ob der holden Frühlingspracht«, stutzte einen Moment und ergänzte die Strophe überzeugt: »Freudig her gezogen.«

Die meisten von uns hatten jenes Zwischenspiel schon vergessen oder es überhaupt nicht richtig verstanden. Ich sah nach Herrn Johannes. Er schmunzelte still in seinen kurzen Bart, und die Brille funkelte.

Nachher führten wir noch mit verteilten Rollen den Taucher auf. Marie war die Königstochter, ich war der Taucher. Das Erzählende sprach der Chor. Zum König bestimmte Herr Johannes nach kurzem Suchen Kleiber. Es war nach langer Zeit das erstemal, daß er eine Auszeichnung erfuhr, und er erschrak beinahe. Inzwischen begann er gefaßt: »Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp, zu tauchen in diesen Schlund?« und setzte der Chor ein: »Der König spricht es und wirft von der Höh' der Klippe, die schroff und steil hinaushängt in die unendliche See, den Becher in der Charybde Geheul.« Endlich nach der wiederholten Aufforderung des Königs trat ich vor, sanft und keck, wie es der Chor beschrieb, warf die Jacke ab, sah in den Schlund und stürzte mich stumm hinein, nachdem ich mich mit einem Blick nach oben Gott befohlen hatte. »Hochherziger Jüngling, fahre wohl!« hörte ich über mir, während ich drunten mit den Wassern kämpfte und endlich das Felsenriff des Pultes in meiner höchsten Not behend erfaßte. Aber wie die Wasser brüllend dem finsteren Schoß wieder entstürzten, erhob ich mich schwanenweiß aus den Fluten. Und ein Arm und ein glänzender Nacken ward bloß. Und ich ruderte mit Kraft und mit emsigem Fleiß. Ja, ich war's, und hoch in meiner Linken schwang ich den Becher mit emsigen Winken. Und mich umringte die jubelnde Schar, während ich zu des Königs Füßen sank, um meinen Bericht zu beginnen. Aber zuerst empfing ich aus der Hand der Prinzessin den Kelch mit funkelndem Wein, den ich feurig hinunterstürzte. »Lang lebe der König!« brach ich dann aus. »Es freue sich, wer da atmet im rosichten Licht.« Und: »Der Mensch versuche die Götter nicht!« Aber auf Kleibers Stirn bohrte sich bereits die begehrliche Falte ein. Kaum hatte der Chor gemeldet, daß der König sich über die reichlichen Ergebnisse einer kaum minutenlangen Tiefseeexpedition schier verwunderte, als er auch schon mit Sirenenlocken die Aufforderung vom Anfang zu wiederholen begann. Umsonst warf sich ihm die Tochter mit weichem Gefühl in den Arm. »Laßt, Vater, genug sein das grausame Spiel!« Er erhöhte nur das Angebot durch die Dreingabe der reizenden Person selber. Da ergriff's mir die Seele mit Himmelsgewalt. Und es blitzte mir aus den Augen kühn. Und ich sah tatsächlich erröten die schöne Gestalt, und irgend etwas zuckte ihr mit holdseligem Übermut um die Lippen. So trieb's mich, den köstlichen Preis zu erwerben, und stürzt' mich hinunter auf Leben und Sterben. »Wohl hört man die Brandung, wohl kehrt sie zurück«, sprach langsam und feierlich der Chor. »Sie verkündigt der donnernde Schall.« Ich tat noch ein paar hilflose Bewegungen inmitten der wütenden Elemente und sank hingeschmettert zur Tiefe ab. Da bückte sich's hinunter mit liebendem Blick. Marie war vor Einbildungskraft ein wenig bleich geworden, und in ihren Augen glänzte lebendig warme Feuchtigkeit; nachher wischte sie sich heimlich eine Träne ab. Mir wurde auf einen Moment das Herz groß und weit, und ich atmete hoch auf, während der Chor dumpf und lügnerisch zu Ende sprach:

»Es kommen, es kommen die Wasser all.
Sie rauschen auf, sie rauschen nieder –
Den Jüngling bringt keines wieder.«

Gelogen war es, weil ich wiederkehrte, denn nach dem letzten Wort des Chores stand ich auf, suchte meine Jacke und ging zu meinem Platz zurück, während ich sie im Gehen anzog.

Den Schluß des schönen Nachmittags machten Tiergeschichten und Jagdberichte von Brehm, die wir nur an Festtagen zu hören bekamen. Ihnen schloß sich etwas an, was ebenfalls nur an Festtagen zu uns kam und das wir Schokoladenkaffee nannten, zum spottenden Verdruß des Herrn Johannes, der uns ganz umsonst immer wieder den Unsinn der Doppelbezeichnung klarzumachen suchte. Wir blieben auch dabei, Salzsaline zu sagen. Irgendwo hört jede Macht auf Erden auf.

Aber im Hof war bereits ein neuer Festakt vorbereitet. Eilig schleppten wir noch Stühle und Bänke unter die Kastanien hinaus, wo nun die feierliche Aufführung vonstatten gehen sollte. Im Hintergrund war zwischen zwei Stämmen ein großes Tuch ausgespannt; hinter diesem sammelten sich die Akteure. Wir waren kaum alle am richtigen Platz und mit unseren Attributen versehen, so kam mit dem Herrn Johannes und dem Regierungsingenieur plaudernd der Herr Vater angefahren. Er hatte das schwarze Käppchen auf dem Kopf, der jetzt einen so zarten, hinfälligen Eindruck machte. Seine weißen Finger bewegten sich angeregt durcheinander. Lächelnd wandte er das weiße Gesicht mit dem angegrauten Bart bald diesem, bald dem anderen Begleiter zu. Als er seinen Ehrenplatz eingenommen hatte, überflog er mit einem zufriedenen Ausdruck, wie er an ihm selten war, die Versammlung. Das Klingelzeichen erklang dreimal. Nachdem es ganz still geworden war, begann eine große Stimme in den Kastanien den Prolog. Herr Bunziker verfügte über einen guten Baß, aber mit dem Oberförster konnte er sich nicht messen, denn der hatte den seinen am Meeresstrand geübt; das war noch anders, als Herr Ruprecht mit seinem Englischen Horn am Rhein drunten. Dabei hatte er sich so gut untergebracht, daß es ganz unmöglich war, seinen Standort zwischen den mächtigen Schattenmassen und den Sonnenblitzen aufzufinden. Der Wind wühlte im schweren Laub. Der Brunnen plätscherte. In der Sonne draußen gackerte eines der Anstaltshühner, wodurch sich der Hahn des Müllers über dem Bach drüben angeregt fühlte zu krähen, obwohl er sich als Katholik gegenüber einer streng protestantischen Henne kaum irgendeine Hoffnung machen konnte. Sogar das Vieh in unseren Ställen hörte man brüllen, so still war es jetzt bei uns. Um den Unsichtbaren lärmten einige Vögel herum. Auf dem Turm klapperte der Storch. So schien mit dem Oberförster der ganze Chor der hiesigen Natur das Wort zu führen. Es fehlte nur noch, daß der Himmel aufging und die Stimme des Ewigen selber verkündigte: »Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!« Der Mann aus den Wäldern hatte jetzt das Bedürfnis zu feiern und zu bekennen. Es gibt solche Naturen, die bei scheinbarer Steilheit und Rauheit von Zeit zu Zeit einen großartigen Gefühlsdurchbruch haben und sich dann durch nichts aufhalten lassen. Oft kommt dergleichen auch vor dem Ende sonst spröder und scheuer Männer vor, welches sich in einem solchen Schwanengesang unruhig ankündigt. Sechs Wochen später deckte ihn bereits die Erde. Aber jetzt lebte er noch und hörte nicht auf, in homerischem Ausmaß zu rühmen und für seinen Johannes feierlich zu prahlen, bis er der wahre Geist, Vater, Schöpfer und Erhalter dieses Platzes und des weiteren Großherzogtums Baden war. Herr Johannes saß indessen ergeben in seinem Ehrenstuhl und hörte sich alles an, als ob es einen anderen längstvergangenen Mann beträfe. Der Herr Vater nickte ein paarmal still, und das wehmütige Licht, das ich in der letzten Zeit so oft an ihm bemerkte, ging wieder in seinen halbblinden Augen auf.

Plötzlich war aber der Prophet im Laub fertiggeworden, und eine zwischen den Ästen vorher versteckte Wanderkapelle intonierte einen Ländler, wie er auf keiner Kirchweih echter gespielt wird. Mit unserem Posaunenchor war das ja doch nichts. So hatten die Freunde mit List und Bestechung eine Geige, eine Klarinette, ein Horn und sogar einen dicken Baß hinaufbugsiert, und jetzt war es, als ob sich alle belichteten Blätter windlings in Töne und die alten, bemoosten Äste in Melodien auflösten. Die Überraschung war außerordentlich. Trillernd schwangen sich die Jauchzer der Klarinette und Freudenrufe der Kinder durch das Laubdach zum Himmel hinauf. Die Lockungen der Geige schlangen sich wie Eichhörnchen und Blutspechte durchs Gezweig. Goldenen ausgeworfenen Speeren gleich schossen die vergnügten Hilfeschreie des Hornes in die Weite, während das Brummen des Basses als ein urkräftiges, entschlossenes Behagen freudig dunkel über uns niederhagelte. Das Horn blies alles zu tief, die Es-Klarinette zu hoch, die Geige war immer einen halben Takt voraus, und dem Baß schwindelte auf seiner ungewohnten Höhe, er kam nicht mit. Kurz, es war ein beglückender Tumult; man konnte sich nicht satt hören. Durch das ausgespannte Tuch sahen wir, daß alle Gesichter lachten und alle Hälse sich reckten. Auch der Herr Vater war vergnügt. Nur die Frau Mutter machte noch ein kritisches Gesicht, obwohl auch sie im Grunde lachen mußte.

Während der letzten Takte trat Marie Claudepierre als Blumenfee hinter einem Baumstamm hervor. Ihr Kostüm bestand in einem Kränzchen von Rosen und Nelken auf dem dunklen Kopf; Kostümierungen hatte die Frau Mutter nicht zugegeben. Vor sich trug sie an einem breiten blauen Band ein Körbchen voll Blumen. Auch jeden Fuß schmückte eine Spange von Blumen; so war ihre Hingehörigkeit zu einem schöneren, höheren Reich genügend gekennzeichnet. Ein allgemeines »Ah!« begrüßte sie, das sie ein wenig schüchtern machte. Doch freimütig und mit den ziervollen Bewegungen, die ihr die Natur verliehen hatte, näherte sie sich dem Jubilar und begann ihm zu erklären, daß die bunten Geschöpfe dieser Gegend sie zu ihm abgeordnet hätten, um ihm den Dank von dreißig blühenden Generationen abzustatten. Sie begrüßte ihn als Pfleger der Schönheit, als Hüter der zarten Geister und als Freund der Düfte und Farben, der liebenswürdigsten von allen Engelchen, die Gott geschaffen habe. Dann trat sie vollends auf ihn zu und warf mit schüchterner Gebärde alle Blumen über sein graues Haupt, die sie im Körbchen trug. Unwillkürlich erhob er die Hand zur Abwehr. Er war sichtlich ergriffen. Das Mädchen sah mit seinen Rosen im Haar und dem scheuen und doch zugleich mutigen Lächeln auch selber so bezaubert aus, daß niemand an ein Pflegekind der Armenanstalt Demutt dachte. Auf einmal stand Herr Johannes auf, nahm ihren Kopf zwischen seine alten Hände und küßte sie auf die weiße Stirn. So etwas war hier noch nie dagewesen. Es wurde ganz still. Niemand wagte sich zu regen. Wie schwebend auf den unsicher gewordenen Füßen ging sie ab und verschwand still hinter dem Baumstamm, woher sie gekommen war. Die Kapelle spielte dazu: »Sah ein Knab ein Röslein stehn.«

Knaben mit großen grünen Zweigen, die sie fast völlig verdeckten, kamen hinter den Tüchern hervor. Sie vertraten das Reich der Bäume, verdankten doch hier beinahe alle Obstbäume ihm ihre Existenz, ja durch sein Beispiel war die Obstkultur in der Gegend überhaupt erst in Aufnahme gekommen. Er hatte das Kälken der Stämme gegen das Ungeziefer hier als erster eingeführt, auch den Teerring, auch die Vitriolspritze. Der Mann, der heute als abgeklärter Weiser unter uns umging, war in seinen jungen Jahren ein zielbewußter Revolutionär und unermüdlicher Neuerer gewesen. »Freiheit, die ich meine«, spielten die Musikanten, während die Bäume abtraten und dafür die Gemüse hinter dem Tuch hervorwimmelten, Mädchen mit Bodenfrüchten behangen, so viel sie tragen konnten, und auch sie hatten genug zu rühmen und zu danken. Die Kapelle spielte: »Leise zieht durch mein Gemüt«. Es paßte nicht, aber es klang schön und nachdenklich, und durch den oder jenen alten Kopf mochte wirklich ein halb verschollenes liebliches Geläut aus jungen Tagen klingen.

Aber was jetzt geschah, hatte sicher niemand vermutet. Unter den Klängen eines einleitenden Reitermarsches erschien Kleiber so kurz und fest, wie er war, und in hoher Entschlossenheit auf Fritz, dem Anstaltspferd, im Kreis der Kastanien und der verblüfften Zuschauer und Hörer, kühn und ruhig zügelte er das brave alte Tier bis dicht vor den Ehrensitz des Jubilars. Fritz war mit Kränzen behangen. An langen Bindfäden führte Kleiber einige Hühner und Enten hinter sich her, die ein großes Geschrei vollführten. Um seine nackten Schultern schlang sich ein Pantherfell. Ein Kranz von Weinlaub wand sich um seinen nüchternen Kopf. In der rechten Hand trug er einen Tyrsosstab, den er angestrengt auf den Schenkel stützte. Der Schenkel war bis weit hinauf eigentlich auch nackt. Seine Lenden verhüllte genau genommen bloß eine sehr weite, rot und weiß gestreifte Badehose. Zwei geflügelte Genien in Anstaltskleidern – man hatte ihnen nur die Flügel der zur Feier des Tages für den Herrentisch geschlachteten Hühner auf die Schultern geheftet – führten das Pferd. Es ist daher begreiflich und entbehrt nicht einer gewissen Berechtigung, daß der Aufzug vor der Behörde sozusagen Aufsehen erregte. Der Herr Vater sah zwar aus, als hätte er ein geheimes Lachen zu verbeißen; jedenfalls machte er nicht im mindesten einen beleidigten Eindruck. Aber die Frau sagte in einem Ton, den sie für gedämpft hielt: »Mein Gott, ist man denn verrückt?« Dieser »man« waren natürlich die Freunde. »So schickt man doch keinen Jungen vor die Leute!« Noch mehr Ungehörigkeiten ereigneten sich. Während Kleiber eben mit dem düsteren Pathos, das ihm zur Verfügung stand, das Wort zitierte: »Das Auge des Herrn macht das Vieh fett!« erlag Fritz, der schon so viel erlebt hatte, infolge der Angeregtheit, in welche ihn immerhin diese gänzlich ungewohnte Veranstaltung versetzte, einer Nötigung, bei welcher ihm, um mich so auszudrücken, etwas Menschliches passierte. Sofort kamen die angebundenen Hühner herbeigelaufen, um die Ergebnisse zu untersuchen. Die Enten zauderten noch und warteten ab. Mit immer kritischeren Blicken hatte die Frau Mutter alles beobachtet. »Nette Bescherung!« bemerkte sie halb ärgerlich, halb lachend. Doch mit unverbrüchlichem Ernst vollbrachte Kleiber seinen Auftritt. »Du Wächter Gottes, blase mächtig und schrecke auf was niederträchtig!« deklamierte er wie von der Walze gekurbelt, während er dem Jubilar ein Hifthorn an grünem Band mit Silber beschlagen als besonderes Geschenk der Jungenschaft überreichte. »Erwecke, was von Gutem glimmt, und alles sei auf deinen Ton gestimmt.« Schmunzelnd nahm Herr Johannes das Horn entgegen. So etwas habe ihm tatsächlich immer gefehlt, gab er zu. Und genau genommen scheine es sich um dasselbe Horn zu handeln, das er sich als junger Mensch abgestoßen habe. So komme doch alles wieder zu Ehren und zur Verwendung, was er als rechenschaftschuldiger Verwalter nur gutheißen könne.

Den Beschluß machte ich in meiner eigenen Figur zu Fuß. Ich hatte gipfelnd und abschließend im Namen der menschlichen Hausgenossen zu sprechen. »Mächtig wirkst du im geheimen. Kraft und Würde lebst du vor. Sieh noch deine Saaten keimen, und dann wandle aus dem Tor!« Mit großem Geschrei beschloß ich die Huldigung, so daß mir alle Adern anschwollen. Der Wind hatte sich nämlich während der Aufführung fortwährend gesteigert. Vor dem Schloß hin schwebte eine hohe Staubwolke nach der anderen auf und dem oberen Tor zu. Die Kronen der Kastanien brausten jetzt so tief, daß manchmal ein leises Donnern hindurchzugehen schien. Der Strahl des Brunnens zersprühte zu einem wehenden Pferdeschweif, der seine Niederschläge weit neben dem Trog auf das Pflaster absetzte. Hinter mir knatterte das Tuch, und auf einmal riß es sich los und flog hoch durch die Luft davon. Alle Akteure samt Fritz, dem Pferd und den Hühnern und Enten waren nun ebenfalls zu Zuschauern geworden.

Die Musik spielte mit äußerstem Fortissimo die schweizerische Nationalhymne, die alles stehend mitsang. Eine Welle war es still. »Der Herr sei mit dir, Johannes!« rief mit großer Kraft die Stimme von oben, während wir uns abgespielt zu unseresgleichen gesellten. Zwei waren nach dem Tuch gelaufen, und der Knecht führte das Getier davon. Der Wagen des Herrn Vaters wurde nach der Anstalt zu herumgedreht und setzte sich in Bewegung. Unter den Klängen des Chorals: »Ich bete an die Macht der Liebe!« ordneten wir uns dahinter zum Zug und schlossen uns an. Je weiter wir von den Kastanien wegkamen, desto mehr entschwanden uns die Töne der Geige und des Basses im Wind. Schließlich hörten wir bloss noch das Horn und die Klarinette, die sich mit dem unglücklichen Lied nach verschiedenen Richtungen davonzumachen schienen. Unter seinen Jammerlauten betraten wir das Haus und zogen hochgestimmt in den Speisesaal ein, denn inzwischen war es Zeit zum Abendessen geworden. Es gab Kartoffelsalat mit warmen Würsten. Warme Würste waren bei den meisten von uns der zweithöchste denkbare Begriff der Glückseligkeit, wobei der erste Platz stillschweigend Gott eingeräumt sei; aber ich argwöhne heute, dass welche unter uns lebten, bei denen sie den ersten Platz einnahmen. Man bekam sie ebenfalls nicht anders zu sehen als an sehr steilen Festtagen. Übrigens waren sie ein Geschenk unseres Metzgers Tröhndle in Säckingen, der es sich nicht entgehen ließ, auf diese Weise den weitverehrten Mann seinerseits zu feiern. Der Herr Vater hielt nun auch eine Lobrede auf seinen Bruder, die aber ein wenig traurig klang, da er sich vor dem Abschied und dem nachherigen Alleinsein fürchtete. Doch ließ er ihm viel Ehre widerfahren und bestätigte, dass er tatsächlich die wirkende Seele dieser Gottesinsel sei. Man hatte ein Harmonium hereingeschleppt. Zu dessen Klängen sang Herr Ruprecht mit seiner etwas brüchigen Stimme: »Du unerschöpfter Quell des Lebens«, ein Lied, dessen Melodie ich viel später in Mozarts Zauberflöte als Osirisgesang wieder begegnete. Herr Bunziker und Jungfer Rosalie brachten miteinander einen Satz aus einer Haydnviolinsonate zu Gehör; den Klavierpart spielte sie ebenfalls auf dem Harmonium. Herr Ruprecht und Herr Bunziker hatten vorher lange darum gestritten, ob ein Harmonium oder ein Klavier hergebracht werden sollte. Herr Bunziker wollte wegen des Haydn ein Klavier, denn in seinen Noten war Klavier vorgeschrieben, aber Herr Ruprecht sagte, das Harmonium klinge feierlicher zu seiner Stimme, und behielt die Oberhand. Zum Schluß sang ein ausgewählter Chor, zu dem ich auch gehörte, unter Herrn Bunzikers Leitung das Händelsche: »Seht, er kömmt mit Sieg gekrönt.« Es war bald dunkel, als wir fertig waren und uns zum Schlußgebet erhoben. Aber anstatt zu den Betten gingen wir noch einmal in den Hof; es war noch ein Feuerwerk versprochen.

Die Dämmerung brach schon herein. Singend warteten wir erst die Mädchen, die noch Geschirr wuschen, und dann die Nacht ab. Noch nie waren wir so spät draußen gewesen. Still brach neben der südlichen Ecke des Schlosses über dem Rhein der erste Strahl des Mondes hervor. Langsam übergoß sich hier alles mit einem blaßgoldenen Zauber, die massigen Kronen der Kastanien, der Nußbaum, die Trauerweide, die seit einem Jahr kränkelte, die Gebäude. Eine andere Welt schien heraufgestiegen zu sein. Selbst das blecherne Gespuck und Gejaule des Schusters, der sich mit seiner Posaune wichtig machte, da er wußte, daß ihn die Hausgemeinde hörte, hatte etwas phantastisch Märchenhaftes. Schweigend sahen wir zu, wie die Mondscheibe langsam vollends hinter dem Mauerrand hervorrückte, bis sie voll und reif in dem Raum zwischen dem alten Schloß und dem katholischen Pfarrhaus schwebte, wo sich nun eine sehr starke Helligkeit zusammendrängte. Den Schweizer Wald drüben sahen wir hinter einem schimmernden Schleier oder einem duftig glühenden Dunst, der eben im Begriff war, sich in klares Licht aufzulösen.

Plötzlich fuhr eine Rakete zischend in die frühe Nacht auf. Sie zog einen schön entfalteten Feuerstrudel hinter sich her, blieb droben einen Moment leuchtend stehen, und schon schien es, als wollte sie sich unter die Sterne gesellen, als sie unerwartet erlosch, im Mondschein wie in einem See ertrank. Ein verspäteter kleiner Knall gab noch Nachricht von ihrem Ende.

Nun war die Gestalt des Jubilars, der besonnen am Feuerwerkstand die Pulverteufel verwaltete, ständig von Glutscheinen überlaufen wie von spielenden Zauberkatzen. Schon wurde alles grün bei uns, während die folgende Rakete im Zenit lautlos in einen Kranz von smaragdfarbenen Sternen auseinanderging, die sanft glühend langsam niederträuften. Ein Bündel Feuerschlangen fuhr schluchzend auf und krachte in der Höhe mit einem wütenden Gekläff auseinander, nach allen Seiten um sich beißend und speiend. Schwärmer, Donnerschläge, Sonnenräder und Vulkane wechselten mit den Raketen ab. Bald leuchteten Bäume und Dächer magisch rot auf, bald schienen die Büsche der Anlagen vor dem Schloß lauter freundliche Geistergestalten. Die Spätlinden wurden zu schwebenden Liebeswolken, in denen die stillen Gewitter der Blüten stark duftend noch einmal und jetzt überirdisch erblühten. Selbst die harten, steilen Mauern der Anstalt schwebten erlöst auf, zerflossen vor dem Dunkel des Osthimmels zu freudigem Gold, während die Fenster zu lauter amethystblauen Augen der Sehnsucht wurden. In freundlicher Majestät, von unseren leichten Kometen umschweift, stieg der Mond seine einsame Bahn höher. Hoch und feierlich blinkten die fernen Sterne auf uns herab. Immer wieder schimmerten wie treue Gespenster die Linien des Rebhügels hier und des Schweizer Waldes drüben träumend auf. Von wenigen Lichtern und huschenden Scheinen kaum getroffen, trieb der Fluß in der Tiefe dunkel dahin.

Mit einem letzten Lied zogen wir dem Haus zu.

»Kühl sinket der Abend. Der Sterne Heer
Erglimmet am dämmernden Himmel.
Es beiert die Glocke ins Lager herüber.
Es wirbelt die Trommel. Es schallt die Trompete.
Zur Ruh, Kameraden, zur Ruh!«

Ich weiß nicht, ob heute noch viele diesen prachtvollen eidgenössischen Frühgesang der Neuzeit von David Heß kennen. Da, als wir am Haus hinaufblickten, bemerkten wir, daß die Fenster des Andachtsaales hell wurden. Unwillkürlich dämpfte sich unser Gesang und verstummte schließlich ganz. Wir hielten den Schritt an. Viele befiel ein Gefühl von etwas ganz Außerordentlichem, das noch auf uns wartete, manche verspürten einen leichten abergläubischen Schauer. Geisterhaft erklangen in unsere Stille hinein die ersten Harmonien und Figuren jenes Präludiums in Es-moll, das ich von Herrn Johannes so gut kannte, stiegen auf, wallten und webten, brachen befreit mächtig hervor und erfüllten den ganzen nächtlichen Kreis mit dem schlicht gewaltigen Bekenntnis jenes anderen Johannes mit dem Zunamen Sebastian Bach, der seine Offenbarung in Tönen empfing. Wie sich jetzt herausstellte, fehlte der Regierungsingenieur bei uns. Stumm hörten wir zu. Allmählich versank die tönende Entfaltung wieder in der Lautlosigkeit, wie sie daraus aufgetaucht war.

Noch eine ganze Weile wagte sich niemand bei uns zu regen. Durch das Schweigen unter den Sternen hin klang ohne Stimme vernehmbar das Wort des noch ferneren Johannes, der am Herzen des Herrn lag: »Kindlein, liebet euch untereinander!«

Das jüngste Flimmertierchen des Glücks

Eines Morgens wachte ich auf und liebte. Ich hatte in der Nacht irgendwelche unbestimmbare und geheimnisvolle Vorgänge mit mir geträumt, die mir noch das Blut schäumen machten, wenn ich daran dachte. In allem war Marie Claudepierre gewesen. Über unsäglich lachende Hügel war ich mit ihr geschwebt. Einmal war sie das Müllermädchen, und wir küßten uns. Und dann hielt ich sie in den Armen, während wir durch unendliche Räume angstvoll fielen und fielen. Zum erstenmal begriff ich jetzt ahnungsweise, was ein Mädchen war, und daß auf ihrer Seite ein Reich von Entdeckungen, Freuden und Wundern wartete, von denen ich noch wenig Begriff hatte. Eine still beseligende Entzündung des Gemütes befiel mich, ein geheimnisvolles Leuchten meiner Innenräume, eine beschwingtere Bewegung des ganzen aufgewachten Menschen. Der geriet nun verschwiegen in ein suchendes Blühen, dessen Ziel nichts anderes war als ein neues Wunderbares, für das ich inzwischen reif geworden schien. Flüchtige Vorgefühle von Mannestum, Kraft und Sieghaftigkeit, huschende Schauer aus der Region des Weiblichen beunruhigten mich, erfüllten mich mit still erregenden Fragen, streiften mir das Herz mit ängstlichen Glückszuständen, die mich mitten in der Nacht weckten und mich lange mit streifendem Geist schlaflos liegen ließen, um zum Ende eine bestimmtere Erwartung zurückzulassen, die mich mit Maries Augen anblickte, mit ihrer Stimme sprach, sich mit ihren Gliedern regte und ihre seltene und edle Art hatte, sich zu geben, zu kommen und zu gehen, ihr Lächeln und ihren Ernst.

Als jüngstes Flimmertierchen des Glücks, Milliarden vor mir, Milliarden hinter mir, schwärmte ich liebend und dichtend aus, um zum Mittelpunkt der Schöpfung vorzudringen, der für mich vorläufig Marie hieß. Große Dichtungen wurden entworfen und in kurzer Zeit ausgeführt, in denen die Vögel sprachen, in denen die Blumen verehrend von ihr flüsterten und dufteten, und worin die Raubtiere weite, beschwerliche, ja selbst gefahrvolle Reisen unternahmen, um sie zu sehen, um sie hinter Büschen verborgen zu belauern und dann weniger böse und schwermütig nach Hause zu traben. Nebel umfingen sie schimmernd und wünschereich. Wolkenschatten flogen absichtsvoll über sie hin, beglückt, wenn es ihnen gelang, sie flüchtig zu streicheln. In Ghaselen und Sonetten verglich ich ihre Augen mit allem, was in der sichtbaren Welt leuchtete und blitzte, ihren Mund mit sämtlichen geheimnisvollen Vertiefungen vom Blumenkelch bis zum Vulkankrater, ihre Hände mit Vögeln, das Wechselspiel ihrer Füße beim Gehen mit dem Wandel von Sonne und Mond. Die meisten dieser Wortgebilde wurden auch komponiert. Aber da ich nicht so sehr ein lyrisches als ein episches Talent war, begannen unvermerkt die Wesen, die in ihre Nähe kamen, zu handeln und zu leiden. Sie traten in Beziehung zu ihr, bildeten endlich einen Hof um sie, dessen Königin sie wurde, und verloren so ihre Freiheit. Mit dem schwärmerischen Schweifen war es vorbei. Ich fabelte nicht, daß Marie jetzt nur immer eine milde und zarte Herrschaft führte; nicht einmal eine gerechte Herrschaft war mein Bedürfnis. Im Gegenteil, manchmal ließ sie ihren Launen und ihrem Übermut die Zügel schießen und war sogar ein bißchen grausam, tötete und vernichtete nach Gefallen, aber sie besaß die Gabe, Erlittenes wundersam zu vergüten, hatte die Kraft, aus dem Tod, ja aus der vollendeten Vernichtung wieder aufzuerwecken, so daß die gemarterten Geschöpfe nachher schöner und glücklicher wieder dastanden als Erlöste und als Wesen höheren Grades.

Schließlich schoß die ganze innere Bewegung bei mir opernhaft ins Kraut. Die Sachen wurden dramatisiert und in feste Handlungen gebracht, und damit nicht genug, begannen die Personen noch einander anzusingen. Die Arbeit ging ins Gigantische. Hinten war noch alles unfertig und wußte niemand, wie es ihm zum Schluß ergehen werde, während vorne schon die Posaunen einfielen und die Trommeln wirbelten. Doch von der Mitte an begann ich unruhig vorauszusehen, daß die Geschichte für Marie übel auslaufen mußte, wenn so weiter verfahren wurde, denn es gab auch eine höhere Gerechtigkeit, die sich nicht ungestraft an der Nase zupfen ließ. Es mußte irgendwo also eine Umkehr einsetzen, und die Umkehr mußte einen Grund haben. Also baute ich umsichtig neue Motive ein, machte ein Vorspiel, das darauf hinwies, und legte das Ganze so an, daß Marie allerdings zum Schluß siegen sollte, aber nicht durch Willkür und Übermut, sondern durch ihr gutes Wollen, durch kluges Denken, durch edlen Mut und durch einiges Glück, das ihr dabei hold war. Darin sprach sich meine damalige Philosophie aus. Das Glück konnte Gott heißen, der ihr half. Irgend etwas Wunderbares konnte erscheinen, auf das sie unbewußt schon lange zugesteuert war, das ihr ahnend vorgeschwebt hatte, während sie in der Irre ging und selber zu leiden begann, indessen sie andere immer weniger leiden machte. Ich bemerke dabei, daß ich damals mehr Menschenkenntnis und moralisches Genie entwickelte als in manchen späteren Perioden. Aber schon die ersten Betrachter des Lebens haben es gewußt, daß wir manchmal durch Dunkelheiten und Verwirrungen geführt werden, und kam ich nicht soeben aus einer solchen her?

Aber die Hilfe wurde mir diesmal von Marie selber. Nachdem das Fest des Herrn Johannes mit vollem Ansehen unter der Mitwirkung der Mädchenschaft vonstatten gegangen war, kam die Zeit heran, daß wir unser Wort dem Herrn Vater gegenüber auch einlösten. Und da uns diesmal nicht Freunde des Jubilanten ein Festspiel fix und fertig einschickten, mußten wir es selber machen. Dazu schien mir meine angefangene Oper als Grundlage gerade recht. Marie hatte es durch eine liebenswürdige Schiebung dahin gebracht, daß sie den Monat im Andachtsaal bekam; jeden Ersten wechselte das Mädchen, das dort reinzumachen hatte. Nun fehlte es uns nicht an Gelegenheit, den Plan gründlich zu besprechen. Ich hatte mein Quartier in der Schusterei, brauchte nichts zu tun, als zur Verfügung des Herrn Vaters zu sein, und den Weg zu und von ihm nahm ich durch den Andachtsaal, der nur durch den Zementboden von der Schusterei getrennt war. Ich tat jetzt nicht, als ob ich schon eine Monumentaloper mit ihr als Mittelpunkt und Heldin angefangen hätte, sondern begann ganz unschuldig ein paar Ideen hervorzudrucksen, sprach von einer Fee, die sie darstellen sollte, und einem Prinzen, der ich sein wollte, und deutete im ganzen an, daß vielleicht der Prinz die Fee befreien und dafür aber die Fee den Prinzen erlösen werde. Das alles leuchtete ihr sofort ein. Sie konnte nicht bald genug den Entwurf bekommen, und schon fing sie an, ihren Part zu dichten, während ich den meinen und die Rollen der übrigen Personen ausarbeiten sollte. Ich wandte ein, daß das dann aber nicht aufeinander passen werde; allein sie erklärte, wenn sie es mache, werde es auch passen, oder ob ich sie für einen Dummkopf halte? So weit wir miteinander kamen, so weit paßte zum Schluß auch tatsächlich alles. Während sie immer frisch auf ihren Ruhm losdichtete und vorbrachte, was ihr einfiel und ihr für sie kleidsam erschien, verfaßte ich dasselbe Stück wenigstens dreimal. Ich hatte eine Arbeit wie Herkules im Augiasstall, nur daß ich nicht Maries dichterischen Mist hinausschaffte, sondern meine schönen Rinder. Schon nach vier Tagen hatte ich etwas ganz anderes unter den Händen, als ursprünglich von mir in großer Weisheit planvoll angelegt war. Meine Philosophie samt der Moral fiel ruhmlos unter den Tisch. Ich hatte es ja nicht bloß mit Marie als Mitdichterin zu tun, wie ich bald merkte, nein, die ganze Mädchenschaft dichtete mit. Die Jungfer Rosalie dichtete mit. Herr Bunziker, den diese als höchste Autorität im Dichten unweigerlich zugezogen verlangte, dichtete ebenfalls mit. Ich hielt aus, weil ich liebte, und meinen privaten Plan mit der Dichtung für später brauchte ich deswegen auch nicht aufzugeben, aber ich wunderte mich doch, daß so viele kluge, ja erlauchte Personen so wenig Ahnung von höheren Absichten bewiesen.

Auch in der Musik wurde mir fleißig hineingepfuscht. Schließlich hatte Herr Bunziker alle Lieder der Fee selber komponiert; die meinen hatte man stillschweigend beseitigt. Ich behielt bloß noch die Vertonung meiner Rolle, das Gewitter und die Erscheinung der Unterwelt, beschloß aber, durch meine Prinzenlieder glänzende Rache zu nehmen. Auf die Erscheinung der Unterwelt vollends bereitete ich mich vor wie auf meine Ausrufung zum Kaiser von Indien. Allein eines Tages erschien Herr Ruprecht bei mir und machte mir klar, daß man unbedingt alles daran setzen müsse, um Herrn Bunziker zu überstrahlen, was mir an und für sich ganz in der Ordnung schien. Er verlangte meine Sachen zu sehen und zu hören, und ich sang und erklärte ihm alles. Da sagte er mit sachverständiger Miene, es sei ja sehr gut gemeint und auch in seiner Weise schön, aber ein Singspiel sei das nicht, das müsse ganz anders vertont werden. Ich solle bloß ihn machen lassen; er habe schon Ideen, und die Mädchenpartei werde diesmal nicht triumphieren. Er nahm meine ganze Schreiberei mit, und nach drei Tagen brachte er mir die Prinzenlieder neu komponiert, fing auch sofort an, sie mit mir zu üben, und mit einem Bauch voll Ärger schrie ich sie ihm vom Blatt weg. Nachher wurde ich traurig, weil alles so militärisch klang, gab niedergeschlagen zu, daß die Lieder sehr schön seien, und bedankte mich auch noch.

Aber an diesem Tag brachte mir Marie als Schmerzensgeld ihren schwarz lackierten japanischen Federkasten, und jetzt war alles wieder gut. Mochten sie schließlich machen, was sie wollten; ich hatte ihnen doch die Idee dazu gegeben. So war es mir auch beinahe gleichgültig, als mir Herr Ruprecht am nächsten Tag noch sagen ließ, ich solle mich nicht wegen der Unterwelt und des Gewitters anstrengen; diese beiden Stellen werde der Posaunenchor blasen. Die Hauptsache war, daß ich mit Marie durch den Urwald irren und in einer Höhle schlafen durfte, daß nichts im Weg stand, am Schluß des Stückes den Erlösungskuß mit ihr zu tauschen und sie dann an der Hand auf mein Schloß zu führen. Diesmal wollten wir ganz bestimmt mit Kostümen spielen; da es sich um eine Ehrung ihres Gatten handelte, würde die Frau Mutter schon nichts dagegen haben. Ich stellte sie mir vor im weißen, wallenden Schleiergewand, einen Silberreifen um die Stirn, mit weißen Schuhen und einer Kette um den Hals, und mit schlanken, schimmernden Armen, wie ich Feen immer abgebildet gesehen hatte. Auch meine Sinnlichkeit finde ich in jener ersten Zeit des Erwachens genialer, feiner und kühner, als sie später unter den zudeckenden und vergröbernden Einflüssen des Lebens mit Erwachsenen wurde. Ich glaube aber, daß dies eine allgemein männliche Erfahrung ist. Die genialischen Aufblitze unserer frühesten Natur- und Geistesregungen arbeiten wir im günstigsten Fall im Verlauf einer langen Periode des Kampfes und der Reinigung wieder aus der Verschüttung der Konvention und aus den gesellschaftlichen Fesseln heraus, um vielleicht im fünften Jahrzehnt wieder da anzukommen, von wo wir im zweiten ausgingen.

Von all diesen Vorbereitungen mußte der Herr Vater doch wohl einigen Wind bekommen haben. Er tat nicht so, aber eine milde und zunehmend heitere Stimmung zeigte uns alles in allem einen befreiten Mann. Die disziplinarischen Fälle unter uns wurden selten oder hörten ganz auf. Die Memorierstunden, obwohl man keine neue Leidenschaft dafür faßte, brachten bessere Ergebnisse, und da er sie nicht mehr mit der früheren Schärfe und Zornmütigkeit betrieb, so wurden sie sogar beliebter. Aber der Glanz, den unsere Festrüstungen vorauswarfen, beleuchtete nicht so sehr meine Figur als die meiner Partnerin Marie Claudepierre. Sie heimste die Vorschußlorbeeren ein. Auf sie häufte sich die Zufriedenheit der Behörde. Sogar bei der Frau Mutter fand sie neuerlich Gnade, während man mit mir noch wenig im Sinn hatte. Wenn nicht ich beim Herrn Vater war, um zu schreiben, oder die Brüderschar, um zu lernen, so hatte er sicher Marie um sich, die ihm Französisch las, aus Diderot, aus Pascal, sogar aus Voltaire. Sie war der kleine David, der diesen düsteren Saul erheiterte. Er ließ sich auch von ihr Französisch vorsingen und hielt lange Gespräche mit ihr in ihrer Heimatsprache, und die Frau Mutter fand genug Ursache, diese Freundschaft nicht zu stören. Er blühte sozusagen neu auf, aber wie eine Lilie, weiß und geisterhaft, mit jenseitig beunruhigendem Duft.

Zwar auch mir wandte er in der letzten Zeit eine neue Aufmerksamkeit zu, doch mehr eine erzieherische. Besonders gab er mir Lyrik zu lesen, Uhland, Lenau, Goethe, Schiller, Chamisso, und daraus schloß ich, daß meine Dichterei bei ihm vielleicht besprochen wurde. Dann schenkte er mir Noten, die ich aus seinem Schrank hervorsuchen mußte, eine Sammlung von Adagios und Andantes, die leichten Klavierstücke von Beethoven und die ersten Studien von Händel. Dazwischen erteilte er mir Belehrungen über den richtigen Gebrauch der deutschen Sprache, und er war es, der mich zuerst auf ihre Hoheit und Heiligkeit hinwies. Er sprach sich erzürnt und geringschätzig über diejenigen aus, die vorgeben, die Sprache, und besonders die deutsche, sei zum Ausdruck irgendeines Gedankens oder Gefühls unzureichend. Entweder hätten diese Leute keine klare Empfindung oder es fehlte ihnen an der richtigen Sprachbegabung. Zu allem Tun und Wirken in der Welt gehöre zuerst ein starkes Grundgefühl, und dann das richtige Denken, um sich darüber klarzuwerden, was zu seiner Verwirklichung nötig sei. Noch manches sagte er mir, aber in meinen anderweitigen Inanspruchgenommenheiten ging das meiste zu einem Ohr hinein und zum anderen hinaus.


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