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Dreizehntes Kapitel
Ein weises Herz

Böse und gute Geister

Der Trakt zwischen dem alten und dem neuen Schloß hieß nach der Art seines Bodenbelags »der Zementboden«. Er war ein zugiger, großer Estrich mit einer Anzahl von Türen, deren eine nach der Arbeitstube ging, eine gegenüber nach dem Andachtsaal, eine nach der Wendeltreppe und eine nach der anliegenden Schusterei. Auf dem Zementboden standen zwei große Regale mit etwa achtzig Paar Schuhen, vierzig Paar für den Sonntag und vierzig für den Werktag. Die Sonntagschuhe mußten gewichst werden, die für werktags wurden geschmiert. Das war meine Wochenarbeit. Dazu kamen noch die Lehrerschuhe, die ich auf den Zimmern zu holen und wieder dahin abzuliefern hatte. In der guten Jahreszeit arbeitete ich auf dem Zementboden einsam, während der schlechten in der Schusterei. In meine stille Tätigkeit klangen zwei Orgeln: die unsere, auf der die älteste Klasse der Brüder übte, und die katholische, wenn ein Feiertag war. Vom Ansatz zur Wendeltreppe führte eine Tür links nach der katholischen Orgelempore, weiter unten eine nach der Frauenseite im Schiff. Manchmal war mein ganzer Zementboden voll Weihrauch. Ich hörte die Gesänge und Litaneien der Katholiken. Sie waren mir bereits etwas Fremdes, Seltsames geworden; der Hochmut der Anstalt gegenüber katholischem Wesen hatte auch mich endgültig ergriffen.

Der Schuhmacher, mit dem ich es zu tun bekam, hieß Obrist und soll ebenfalls katholisch gewesen sein. Er selber bezeichnete sich jedenfalls gern und mit einem gewissen phantastischen Schwung, der seine Art auszeichnete, als Katholiken; ich glaube aber heute noch nicht daran, halte es auch für ausgeschlossen, daß die durchdringend protestantische Anstalt einen Katholiken für längere Zeit als Hausgenossen aufgenommen haben soll. Obrist war ein ziemlich großer Mann mit lustigem, faltigem Gesicht, das voller Schalkhaftigkeiten steckte, einem braunen geringelten Schnurrbart, für den er viel tat, etwas zurückgewichenem schütterem Haarwuchs, einem Grübchen im Kinn, und im ganzen genommen ein bereits etwas bestandener Junggeselle, der das Kind in sich noch nicht loswerden konnte, während schon das eine oder andere Vorzeichen des reiferen Mannesalters an ihn herantrat. Diesen Vorzeichen sowie allen bedenklichen Gegenständen und Mächten des Lebens, die Anstaltsobrigkeit eingeschlossen, begegnete er mit spöttischer Phantastik, oder an bedeckten Tagen, die auch er kannte, mit gutartig bissiger Raunzigkeit, durch die er sich das Unbequeme vom Hals hielt, ohne es sich zum Feind zu machen.

Jenseits der Anstaltfrömmigkeit, die er bloß als Hausordnung mitmachte, verkehrte er mit einer anschauungsreichen Geisterwelt, worin er, im Gegensatz zu Kunzelmann, sehr vergnügt und wohlbehalten lebte. Nach Gott selber fragte er nicht so viel, daß er auf die Idee kommen konnte, von ihm verlassen zu sein. Dessen Dasein setzte er ein für allemal voraus, und den unendlichen Raum zwischen sich und ihm erfüllte er unverzagt mit lauter Seinesgleichen, denn etwas anderes als eine Art von luftigeren Obristen waren ja seine Gespenster und Geister nicht. Um den Teufel dagegen machte er einen respektvollen Bogen; dazu wollte er sich nicht äußern. Fragte man ihn, ob er an den Teufel glaube, so sagte er regelmäßig mit einer bescheidenen oder beschwichtigenden Handbewegung, er habe nicht gehört, daß dem Teufel an seinem Glauben etwas Besonderes gelegen sei. Er wußte vom Vitzliputzli und sprach den Namen gern und mit einer gewissen verwandtschaftlichen Betonung aus, in der er sich irgendwie unterbrachte. Der Mephistopheles war etwas ganz anderes als der Teufel, so eine Art von heidnischer Naturgewalt, im Gegensatz zu dem christlichen Gewissenswidersacher und Ankläger; an den Mephistopheles schien er sich ebenfalls eng angeschlossen zu haben, da er von ihm lange Jugend und einen fröhlichen späten Tod erwartete. Mephistopheles werde ihn einmal, sagte er, im Hochsommer in einem Sonnenfeuerchen davonführen, so daß er den Tod kaum gewahr werde.

Was ich denn überhaupt glaube, warum er bei seiner Statur und Kunst keine Frau nähme und kein eigenes Geschäft anfange? Frauen und Kundschaft würden ihm in Menge zulaufen, aber die wahre Kunst des Lebens bestehe darin, den Teufel und den Tod zu betrügen. Darauf müsse ein weiser Mann alles anlegen. Die Ehemänner und die Geschäftsinhaber, Hausbesitzer und so weiter stürben alle eines schweren, reuevollen Todes, aber die sich mit keinem Weib und keinem Besitz belastet oder sich beizeiten daraus gemacht hätten, die schwänden aus dem Leben weg wie ein Gerüchlein, aber ein wohlduftendes. Nicht einmal verwesen werde er; dafür habe Mephistopheles ihm zu sorgen versprochen. Wenn man nach einem Jahr etwa sein Grab wieder aufmachen würde, so könnte es sich finden, daß man auf nichts stoße, als auf ein sauberes, leeres Särglein, aus dem der Obrist unter Hinterlassung eines letzten Erdenwindchens sich still hinweggehoben habe. Er möchte aber nicht unter denen sein, die das Windchen zu riechen bekämen, denn es sei darin aller Verdruß, Zorn, Kummer und Verlust gründlich abgesetzt.

Sein zweites Thema waren die Mädchen und die Frauen. Er sagte, sie seien die Räder, auf denen ein kluger Mann durchs Leben kutschiere. Er habe bisher hundertundachtzehn Mädchen gehabt, und keine ungeküßt aus den Händen gelassen. Mädchenküsse gäben hohes Alter und hielten lange gesund. Frauenküsse dagegen zehrten und vergreisten vorzeitig. Vor Frauen habe er sich immer vorgesehen. Manchmal schien es mir, als ob er einmal verheiratet gewesen und diesem für ihn gefährlichen Zustand auf irgendeine subtile Art entronnen sei, ich glaube sogar – und es würde ihm sehr ähnlich sehen –, daß er sich einfach französisch empfohlen hat. Dabei war er eine ausgemacht liebenswürdige Natur, ein Eulenspiegel ohne Schärfe, ein Vagabund ohne Verkommenheit.

Am Sonntag trug er einen hübschen dunkeln Anzug, in dem er gleich nach dem Essen sich unbeschrien nach den katholischen Nachbardörfern oder nach dem schweizerischen Heinfelden davonmachte, wo die Religion zwar gemischt ist, wo ihm aber die Mädchen wählerisch auf beiden Seiten gefielen. Mit den andern Handwerkern der Anstalt ging er nie. Vor Preller besonders nahm er sich aus allen Kräften in acht; ihm gegenüber wurde er stets zum Diplomaten, bekam seine Haltung etwas honorig Abgemessenes, als ob er dessen Amtsvorsteher wäre und ihn gelegentlich einmal eines Wortes würdigte. Stets wußte er, wohin die anderen am Sonntag ihre Unternehmungen zu richten gedachten, um einen erlaubten züchtigen Spaziergang zu machen und vielleicht irgendwo ein Glas Bier zu wagen, wenn sie sehr verwegener Stimmung wurden. Dahin ging er nicht. Dagegen wenn irgendwo in Nollingen oder in Minseln, auch in Schopfheim überm Berg ein Tänzchen geschwungen wurde, da hätte man ihn finden können, aber er wußte sich zu hüten. Die Anklage, mit katholischen Mädchen getanzt zu haben – selbst die evangelischen Walzer und Polkas wären ihm vor der Obrigkeit nicht absolut freudig erinnerlich geworden –, hätte ihm unweigerlich den Hals gebrochen. Katholisches Wesen galt hier ein für allemal als ausgemacht minderwertig, sittlich tieferstehend, und ein Handwerker der Anstalt Demutt hatte sittlich hoch zu stehen, dafür wurde er bezahlt mit zweihundert Mark im Jahr.

Wie man über weltliche Vergnügungen an der höchsten Spitze dachte, kann ein Zug zeigen, den ich hier einfügen will, da ich ihn sonst vielleicht vergesse. Eines Tages wollte uns der Herr Vater die Verwerflichkeit der weltlichen Gesinnung klarmachen, die aus Augenlust, Fleischeslust und hoffärtigem Wesen bestehe. Nachdem er lange umsonst versucht hatte, uns einen greifbaren Begriff von der Sache zu geben, sagte er zusammenfassend und gipfelnd: »Seid nicht wie sie, hütet euch zeitlebens vor ihnen, die da hingehen und singen: Konstanz liegt am Bodensee. Wer's net glaubt, mag selbst hingeh'!«

Gefahrvolle Liebe

Obrist sang also nicht bloß solche anzügliche und im höchsten Maße zweideutige Lieder, sondern er ging tatkräftig nach Pläsier und kam spätabends erfrischt und von einer Fidelität besessen nach Hause, die auch noch für die nächsten Tage reichte. Allmählich machte er mich zum Vertrauten seiner Fahrten, um die niemand außer mir wußte. Ich wurde aber noch Mitwisser von ganz anderen und schwerer wiegenden Dingen.

Seit einer gewissen Zeit hatte dieser Vetter und Freund des Mephistopheles angefangen, stiller zu werden. Eine leise, vorerst noch mit sich selber spielende Traurigkeit machte sich an ihm fühlbar, die den Reiz seiner Persönlichkeit vielleicht noch erhöhte, aber allmählich zeigte er Unruhe, begann zu seufzen, und die Traurigkeit steigerte sich zu einer phantastischen Schwermut, in der er mir manchmal ein bißchen Kopfnot verursachte. Seine Geister- und Gespenstergeschichten wurden dringlicher, handgreiflicher. Er stand selber mit dem oder jenem Dämon in Verbindung und konnte ihn erscheinen lassen, aber ich durfte keine Angst haben. Natürlich hatte ich Angst, und es wurde aus diesem Grund schon kein Versuch gemacht, aber allein die Bereitschaft genügte, um meinen Glauben gewaltig zu steigern. Ich sah mich schon in einen Schein aus der anderen Welt eingewoben, und seine guten und bösen Geister leuchteten mir von Tag zu Tag mehr ein. Als Obrist dazwischen einmal alles als Unsinn erklärte und vierundzwanzig Stunden lang den verwegenen Atheisten spielte, sah ich darin nichts als eine Störung, die ich bedauernd und leise verwundert verwartete.

Richtig empfing er mich am nächsten Morgen nach der Andacht mit der Mitteilung, daß dieser Herr Vater, wenn er auch ein studierter Theologe sei, nichts verstehe. Er aber, Obrist, habe heute nacht mit dem Bitzliputzli eine Unterredung gehabt, die nicht zum Lachen gewesen sei. Dort auf dem unteren Ende des Bettes habe er, Bitzliputzli, gesessen, mit den Beinen geschlenkert und ihm Auskunft gegeben. Durch ein unschuldiges Kind, scheine es, sei etwas zu machen. Wenn er eine Ehe mit einer Frau zum Beispiel durch einen Knaben, der ihm ergeben sei, einleiten könne, so brauche er wegen der Folgen nicht so viel Sorge zu haben. Er sei dann gegen das meiste gefeit, und von dem Besitz müsse er nur jedes Jahr eine Kerze zum Altar stiften, so werde auch der ihn nicht hinunterziehen. In der Folge tat mir Obrist viel Gutes und Liebes an, schenkte mir Bleistifte und kleine Geschichtenbücher, die mir weggenommen wurden, worüber er sich sehr erboste, Zeichenhefte und Farben, und während er immer mehr das Essen aufzugeben schien, bekam ich unvermutet eine gute Zeit. Von seinem Zehnuhr- und Vesperbrot erhielt ich den größten Teil, und auch von seinem Mittagsfleisch hob er mir beinahe jeden Tag ein Stückchen in einem Papier auf. Indessen ich ein bißchen fetter wurde, magerte er sichtlich ab.

Einmal sprach er so traurig vom Leben und vom Tod, von der Verlassenheit, und wie schwer es sei, glücklich zu werden, ohne dafür den Strafen der Dämonen zu verfallen, und ohne andere Menschen in sein Verhängnis hineinzureißen, daß ich selber ganz traurig wurde und ihn zu trösten anfing, so gut ich konnte. Auf einmal fragte er mich, ob ich ihn denn leiden könne und ihm gut sei, und ich bejahte alles aufrichtig. Lange war er darauf still und arbeitete innerlich beschäftigt vor sich hin, während seine Lippen sich in einem angelegentlichen Selbst- oder Zwiegespräch bewegten. Er wurde mir wieder beinahe unheimlich. Plötzlich sah er auf. »Willst du mir einen Brief schreiben?« fragte er, und seine Augen musterten mich so unruhig und besorgt, daß ich auch ja gesagt haben würde, wenn ich es nicht gern getan hätte.

»Also hör' zu«, sagte er und ließ die Arbeit sinken. »Da ist nämlich nun doch so eine Frau, verstehst du. Schön. Reich. Ja, was sagst du dazu? So wird man von den Geistern geführt. Und sie sieht mich gern. Lacht, sobald ich ihr in den Weg komme, übers ganze Gesicht. Hat einen guten Ruf. Eine Ordnung auf dem Hof und im Haus – das sagen alle. Aber ihr erster Mann ist beim Birnenpflücken vom Baum gefallen und hat sich den Hals gebrochen. Das bringe ich nicht aus dem Kopf. Hättest du da Angst? Ich habe. Da walten doch die Dämonen. Wer soll ihn sonst gestürzt haben? Vielleicht lieben sie sie und sind eifersüchtig auf den irdischen Mann. Sie war inzwischen beinahe verlobt mit einem Witwer; der wird nachts auf dem Weg vom Wirtshaus erstochen. Seit Menschengedenken der erste Mord in der Gegend, und der Mörder hatte dabei einen anderen im Auge gehabt; muß sich gerade irren, damit die Witwe wieder ohne Mann bleibt. Seither, es sind drei Jahre, hat sich keiner mehr an sie herangewagt. Vielleicht hat sie auch keinen angenommen, mag sein. Sie selber sagt so, die anderen sagen anders.

Was ist wahr im Leben? Siehst immer auf Dinge wie durch einen Schleier, auf dem fremde Gestalten gemalt sind. Immer bist du in Gefahr, daß du verwechselst, und dann verfällst du den Dämonen. Die Dämonen, verstehst du, das sind die Geister, die fortwährend beinahe erscheinen können, und die fühlst du darum am meisten. Die guten Geister sind ganz lustig und zart, und du kannst sie nur ahnen. Sieh mal, ich habe nun ein sehr feines Gefühl. Fahre ich mit den Fingerspitzen über die Scheiben, so fühle ich jede Unebenheit. Aber die Unebenheiten in der Zukunft, die spüre ich auch nicht. Denkst du, der Herr Vater spürt sie? Der fühlt noch weniger, obwohl er weiße, feine Fingerchen hat. Es gibt keinen Weg, als mit der Unschuld in die Zukunft zu gehen.

Vom Vitzliputzli wollte ich gern noch mehr hören, aber der erscheint jetzt nicht. Ganz verlassen ist man, sobald man etwas vorhat. Aber er hat ja gesagt, mit einem Knaben, der mir ergeben ist, kann ich etwas machen. Darum eben sollst du mir den Brief schreiben. Das gibt einen guten Eingang, über den die Dämonen keine Gewalt haben.«

Die Werbung

Um nicht von der Frau Mutter gestört zu werden, mußte ich den Brief in seiner Schlafkammer schreiben; kam sie dazu, so konnte er sagen, daß ich sein Zimmer in Ordnung gebracht habe. Ein Briefbogen mit einer schönen roten Rose oben in der Ecke lag schon da.

»Aber du mußt alles selbst schreiben. Ich kann dir bloß sagen, was drin stehen soll. – Meinst du, man soll schreiben: ›Sehr geehrte Frau Rütlin‹? Rütlin heißt sie nämlich. Agnes zum Vornamen. Oder: ›Liebe Frau Rütlin‹? Schreib zuerst da oben das Datum.«

Ich schrieb das Datum.

»Also wenn du meinst: ›Geehrte Agnes!‹ Oder auch: ›Liebe Frau Rütlin!‹ Oder: ›Liebe Agnes!‹ Ich sage nämlich schon du zu ihr, aber von der Heirat ist noch keine Rede gewesen, und das ist so ein dunkler Punkt. Ich bin ganz verzweifelt. Schreib nur, was dir am besten vorkommt. Bist ja klug und ein guter Kopf.«

Ich schrieb: »Liebe Agnes!«, da er doch schon du zu ihr sagte.

»Also jetzt mußt du ungefähr so schreiben: Ich liebe die Agnes schon lange, denke Tag und Nacht an sie, magere ab ihretwegen. – Von den Geistern und Dämonen schreibst du ihr nichts; das wird sie vielleicht erschrecken. – Ich kann jetzt nicht mehr länger so weitermachen. Mein Seelenheil steht auf dem Spiel. Das kannst du ihr gut und gern sagen, ist auch buchstäblich wahr. Kniefällig bitte ich sie daher, die Meine zu werden, um mein zeitliches und ewiges Glück zu begründen. Wir werden uns katholisch trauen lassen. Darunter schreibst du: ›Ein unschuldiges Kind hat diesen Brief geschrieben, zum Zeichen meiner Ehrerbietung und Treue!‹ Das ist sehr wichtig. Du darfst es nicht vergessen. Mit diesen Worten: ›Ehrerbietung und Treue!‹ Sie hält auf sich und ist streng mit den Männern, verstehst du. Wer sie hat, hat einen Schatz. Und: ›Um ihr Glück zu bringen!‹ schreibst du noch. Schließen mußt du: ›In herzlicher baldiger Erwartung Ihres Geneigten Ihr‹ – Den Namen schreib' ich dann selber.«

Ich wußte bald nicht mehr, was ich hinschreiben sollte und was er in seiner Angst und Liebesnot nur sonst so heraussprudelte. Er war ja so unruhig und sprunghaft geworden. Doch kam ich mit dem Brief richtig zustande, und er lobte alles sehr. Er wurde ganz aufgeregt vor Freude und Hoffnung, küßte mich auf beide Wangen, nannte mich seinen guten Geist und schenkte mir einen Taler. Mit meiner Hand schrieb er seinen Namen darunter, um nichts zu verunreinigen durch seine »sündige Persönlichkeit«. Den Tag durfte ich nichts mehr arbeiten, mußte ein Buch nehmen und lesen, aber er störte mich immer wieder durch seine Beschreibungen – sie war schlank wie eine Zwanzigjährige, aufrecht, stolz, schnell, freundlich und gütig – und durch Äußerungen seiner Furcht und seiner Zweifel. »Es wird doch alles wieder anders kommen!« seufzte er schließlich. »Lies jetzt, Johannes.« Von da an störte er mich nicht mehr; ich konnte eine ganze Indianergeschichte vom Anfang bis zum Schluß hintereinander lesen.

Obrist hatte recht; es kam ganz anders. Erst besann sie sich mit ihrer Antwort, und dann verschob sie ihn aufs Warten, konnte sich noch nicht entschließen, schätzte und liebte ihn aufrichtig, aber zum Heiraten war sie noch nicht reif. Noch standen die Schatten der Dahingegangenen zu dicht an ihrem Weg; sie würde nicht wagen, an ihnen vorbei zur Kirchentür zu gehen. Ich begriff nun, daß in den beiden Menschen Gleichklänge lagen, Schüchternheiten, Zartheiten, die sie füreinander vielleicht sehr geeignet machten, in denen sich jedes beim anderen sicher aufgehoben fühlen konnte, aber er hatte durch seinen Entschluß einen Vorsprung vor ihr, den sie zuerst einholen mußte. Über ihre Antwort war er etwas niedergeschlagen und enttäuscht, da er eigentlich nach den angewandten Mitteln auf eine Zusage gehofft hatte.

»Aber wenn nicht du geschrieben hättest, Johannes, sondern ich mit meiner Hand, an der das Unheil hängt, so hätte sie womöglich kurz abgeschrieben und mir die Freundschaft gekündigt, mich nie mehr vor ihre Augen kommen lassen. Es ist schon viel, daß sie sich das gefallen läßt.«

Er wurde jetzt noch stiller und besinnlicher, gab das Herumtanzen in den Dörfern ganz auf, wandte sich ausschließlich seiner Agnes zu, blieb aber gleichzeitig auch immer öfter den Hausandachten fern mit der Angabe, dass er keine Zeit dazu habe, die Arbeit dränge. Tatsächlich waren Konfirmandenschuhe zu machen, vierundzwanzig Paar auf einmal, und man ließ ihn zufrieden. Während der Andachten war ich vielfach durch das Bewußtsein seines Fehlens im Saal abgezogen. Ich fühlte ihn nebenan in dem Zimmer, in welchem Bernhard von Weimar die Belagerung Heinfeldens geleitet hatte, horchte auf seine einsamen Arbeitsgeräusche und dachte unzulängliche, aber ehrlich verwunderte und andächtige Gedanken über das Leben der Menschen dort draußen, woher dieser einfache starke Strom von Schicksal und freiem Frauenermessen zu mir her drang. Zu denken gab mir ferner seine stille Um- oder Rückwandlung zum Katholiken, die auch wieder ihre merkwürdigen Noten hatte. Die katholische Kirche nebenan haßte und verspottete er, machte sich lustig über das »Geplärr« der Kirsauer und Ratmatter, denen sie gehörte, und über ihren »dummen Aberglauben«. Aber in Minseln war alles schön, gut, rührend, großartig. Heimlich war er zweimal dort in der Messe gewesen, um mit Agnes im gleichen Raum zu sein, und das war so gut, als wäre er mit ihr im Himmel gewesen, obwohl er sich vor ihr verborgen hatte, um sie nicht zu verstimmen. Viel verkehrte er in diesen Tagen der Schicksalsfurcht, die er ohne Agnes leben musste, mit den Heiligen, von denen er Bilder bei sich trug. Auch das waren Menschen, die vom Sturm der Gefühle ergriffen, bei den Dämonen ins Geschrei gekommen und vom Feuer des Daseins versengt worden waren. Ob ihr Ziel Gott und Christus, das seine aber Agnes Rütlin hieß, das verschlug ihm wenig; die Hauptsache war ihm die Herznot und die Unentrinnbarkeit, und darin fühlte er sich mit ihnen verwandt, abgesehen davon, daß er die Bilderchen von ihr hatte und sie darum ohnehin als Wegmarken seines Glücks oder Unglücks betrachtete.

Zwei Sonntage gingen aber vorbei, an denen er sie überhaupt nicht gesehen hatte, und am dritten Montag fand ich ihn traurig und verzagt. Sich ihr wieder brieflich zu nähern, wagte er nicht. Er fing von neuem an zu grübeln, zweifelte ernstlich an sich und schmiedete Pläne, wie er mich mit ihr zusammenbringen könnte. »Du hast einen seelenvollen Kinderblick«, sagte er. »Der bannt die Dämonen, und der Vitzliputzli kann dann weiterhelfen.« Außerdem wünschte er, mir Agnes zeigen zu können, damit ich seine Beschreibungen bestätigt finden und ihm recht geben sollte. Es kam nie dazu. Auch zum Photographen war sie nicht zu bewegen gewesen. Ich sah sie aber innerlich als eine edle Frauengestalt, von Dunkelheiten umgeben und darin kämpfend, und fing an zu beten, daß Gott der Agnes Rütlin aus ihren einschüchternden Lebensverstrickungen heraushelfen wolle. Nebenher begann ich von ihr zu träumen, süße, werte Träume von unbestimmbarem, doch beglückendem Gehalt, von denen auch im Lauf des Tages eine erhebende und kräftige Wirkung auf mich überging. Es war, wie wenn ich einen Glockenton aus jener Welt erstmalig von fern vernommen hätte, und dieser sonore, getragene Klang tat mir in der sonstigen niederen Begebnislosigkeit meiner Gegenwart wohl und half mir weiter wie die Stimme einer Mutter oder älteren Schwester.

Noch mehr Dämonen

In diesen Tagen wurde auf dem Kirchhof der Gemeinde ein Mädchen begraben, das an der Geburt eines unehelichen Kindes gestorben war; das Kind begrub man mit ihr. Wir erfuhren davon nichts, aber Obrist hörte von der Sache in Minseln, und erzählte sie mir. Mir fiel gleich der Ton auf, in dem er das tat. Ihm hing etwas Besonderes an der Geschichte, ein Schauer, ein Wahrzeichen. Er war ergriffen, von Mitleid und Kummer erfüllt, und infolgedessen ging auch ich herum, als wäre alles anders gekommen, wenn ich zur rechten Zeit hätte eingreifen können.

Einige Tage später, als ich nach der Nachmittagsfreistunde bei ihm eintrat, fand ich ihn untätig, kopfhängend, und so in sich versunken, sozusagen in sich selber eingestürzt, daß er meinen Eintritt kaum zu beachten schien. Er hatte die Faust zwischen den Zähnen, sah ganz ratlos und verwaist aus, und als ich ihn noch einmal ansah, bemerkte ich, daß er Tränen in den Augen hatte. Ich wagte nichts zu sagen und machte mich still an meine Arbeit.

Nachher nahm auch er die seine wieder auf. Etwa eine Stunde arbeiteten wir stumm vor uns hin. Immer dringender kam in mir das Gefühl auf, als sei noch ein Drittes hier in der Stube, eine fremde, namenlose Macht, die mit einem von uns anzubinden im Sinn habe. Um sechs Uhr steckte ich ihm die Lampe an. Es regnete draußen, und der Wind ging stark. Ich dachte an das arme Mädchen in der Erde und an die unbehütete kleine Seele des Kindes, die jetzt vielleicht da draußen in der Kälte herumflatterte, denn Obrist hatte gesagt, solche Seelen könnten nicht heimfinden. Als ich wieder zu meinem Platz beim Ofen zurückkehren wollte, rief er mich an.

»Sieh mal hinter den Ofen!« sagte er ruhig und mit der gewissen Stimme eines Mannes, der mehr sieht als andere. »Kannst du etwas unterscheiden?«

Es war einer jener gewaltigen runden Öfen mit einem Eisenmantel und innen gemauert, die, einmal ordentlich eingeheizt, durch die ganze Nacht warm halten. Aber etwas Besonderes bemerkte ich nicht hinter ihm, dagegen wurde mir jetzt etwas eigenartig zu Mute, hatte doch ich selber an die Anwesenheit eines unsichtbaren Unbekannten in der Stube gedacht.

»Da sitzt Vitzliputzli mit dem kleinen Kind im Arm«, sagte Obrist ganz einfach. »Er will mit mir sprechen, aber ich will jetzt nicht. – Komm, setz' dich hierher; ich werde dir etwas erzählen. Mag er alles hören; er hat mir zu schlecht mitgespielt und mich zu lange zappeln lassen. Ich bin ein Christ, das soll er nicht vergessen, und wenn ich will, so kann ich ihn büßen machen, keiner wird ihn freisprechen.«

Ich gehorchte, aber er war so beunruhigt und erzürnt trotz der Gehaltenheit, die er über das Erscheinen des Vitzliputzli bewies, daß er noch eine ganze Weile brauchte, bis er sprechen konnte.

Während er dies dann tat, sah ich fast mit Augen, wie ein geheimnisvoller Ring, der schon längere Zeit um uns lag, sich nun vollends schloß. Drinnen saßen wir, Agnes, Obrist und ich, umgeben vom gedrängten Kampf der Geister, von bewegter Dunkelheit und von zum Teil feierlichen, zum Teil hinfälligen Stimmen. Außen um uns herum lag ein Kreis von Feuer und zürnender Helligkeit des Verhängnisses. Zuerst erinnerte er mich noch einmal an das tote Mädchen und das Kind, das vordem in seiner Mutter sicher gewohnt habe, und das zu seinem Verderb von den Dämonen herausgelockt worden sei, und dann ging er zu seinem Anteil daran über.

»Sieh mal, in der gleichen Zeit ist da so ein Müllerkerl in Minseln, der sich an meine Agnes macht, ein Bursch – größer als ich, stolz, breit, reich, na, also ein – Ausbund. Und wer bin ich? Das heißt, wenn ich will –! Aber ich will nicht so, verstehst du. Hoffart gegen Hoffart – das tut nie gut. Weiß aber jetzt, was dort für ein Kampf vor sich gegangen ist die letzte Zeit. Die Dämonen sind wieder an der Arbeit gewesen. Dein Brief – vielleicht konnte er gar nicht eindringen, verstehst du. Möglicherweise muß man mit ganz anderen Mitteln vorgehen. Das wird sich finden. Also der Müllerbursch – ums Haus geschlichen ist er ihr nicht, nein; breit und stolz hineingetrappt. ›Will dich haben!‹ Gibt solche üppigen Semester. ›Bin der und der! Also her mit der Sache!‹ Und eine Frau, mußt du wissen, ist auch nicht von Eisen oder Holz. Sie vor allem hat lang keinen rechten Kerl mehr gesehen. Hat ja wie im Kloster gelebt. – Die beiden Sonntage, die ich sie nicht traf, da war sie nicht mit ihm, gewiß, das war sie nicht!« Über seine vergrämten Züge ging ein stilles Leuchten der Freude. »Ganz in der Heimlichkeit hat sie sich schon frühmorgens aufgemacht, um in Schopfheim und dann in Adelshausen Bekannte zu besuchen. Der Kerl hatte nämlich geschworen, mir die Knochen im Leib zu zerschlagen, wenn sie mir noch ein Wort und einen Blick gönnt. ›Also gut, vergnüg' dich allein!‹ –

Mir, als ich an ihre verschlossene Tür kam, fiel schon so ein langer Schlagtot auf, der mir Augen machte, als ob er mich fressen wollte. Dachte mir aber weiß Gott nichts dabei, hatte ja bloß die Agnes im Kopf. Ging ins Wirtshaus, ließ mir ein Bier geben, saß und grübelte. Zwei-, dreimal kommt der blonde Dickkopf mit dem schiefen Hut am Fenster vorbei. Dann stapft er breit durch die Tür und setzt sich in den Winkel gegenüber, fängt an, mich anzustarren, bis es mir zu dumm wird und ich ihm den Rücken zudrehe. Hab' wahrhaftigen Gott nichts gemerkt. Bin dran vorbeigekommen wie der Reiter überm Bodensee. Siehst du, das ist Frauengüte. Wäre sie dageblieben, so zierte ich vielleicht auch den Rasen. Oder er zierte ihn, denn wenn der Zorn über mich kommt, dann kenne ich mich nicht mehr, und niemand kennt mich.

So auch am zweiten Sonntag. Da setzt er sich sogar an den Tisch nebenan, fängt an, Reden zu führen, mich wie aus Versehen anzustoßen, aber – wie eine Fliege, verstehst du, so empfand ich ihn. Störte mich, veränderte wieder meinen Platz. Wäre ich nicht so versunken gewesen in sie, so hätte es grobe Händel gegeben, und wir wären – entweiht gewesen, alle. – Das ist die rechte Frau, das mußt du dir merken, in der man wohnen kann wie in einer Kirche, wo einen nichts Gemeines berühren darf, wo man alles um sich her vergißt. – Ging nach Hause, wie von Gott behütet. Zwei-, dreimal knackt und kracht es im Gebüsch neben dem Weg, als ob ein großes Tier mitgeht. Hätte ich ihn angerufen – na, es war Nacht, und kein Mensch weit und breit. Und es ist noch kein Stern vom Himmel gefallen, um einem Unschuldigen zu helfen. Aber ich ging – an ihrer Hand, verstehst du.

Aber daß sie bei allem so schweigt, das ist das Schwere. Das ist das tiefe Geheimnis. Das heißt – noch ein tieferes Geheimnis gibt es da: das droben auf dem Kirchhof. Ja – das hat der blonde, stolze Müller auf dem Gewissen, der meine Agnes – belagert. – Zu denken: einer hat so ein Mädchen und ein Kinderseelchen ins Grab gebracht, muß sie beide verantworten vor dem himmlischen Richter – und geht hoch aufgerichtet, kühn und unbändig umher, als ob nichts wäre. – Dabei die Agnes schweigt. Ich habe für ganz sicher erfahren, daß sie alles weiß. Und schweigt weiter. – Sieh mal, gestern nacht, da ließ mir das keine Ruhe, ging noch um neun nach Minseln. Es regnete. Nun, warum soll's nicht regnen. Als ich ins Dorf kam – alles dunkel und still, aber vom Feldweg aus sehe ich, daß sie noch Licht hat. Bis an ihren Zaun kann ich heran, näher nicht. Könnte drüber steigen, warum nicht, hab' aber nicht den Mut, in ihr – Schweigen zu treten. Verstehst du; sie sitzt da, flicht sich die Zöpfe auf, ist ganz ernst, ein bißchen abgemagert, scheint mir, und auch blasser als sonst. Hat so langsame, traurige Bewegungen. Ich halte mich an ihrem Gartenzaun fest und – die Augen fangen mir an zu laufen. Also heule wie ein Schloßhund. Und dann bläst sie das Licht aus, und ich gehe wieder nach Hause. Nach ein Uhr war ich zurück. Stand noch lange droben am Kreuz. Es blitzte über der Basler Ebene. – Und dann stand ich vor dem Kirchhof. Saß eine Nachtigall drin und sang Rache. – Konnte er nicht das Mädchen nehmen und mir die Agnes lassen? Alles muß er haben, der Gewalttäter!«

Trübe verstummte er, und für heute blieb er wortkarg, in sich gekehrt. Ich wagte nicht, ihn durch Fragen zu stören, hätte auch, genau besehen, nicht gewußt, was hier für mich zu fragen oder zu bemerken gewesen wäre. Bald läutete es zum Abendessen, zur Hausandacht und zum Tagesbeschluß. Draußen ging noch immer der Regen nieder. Nachts wachte ich einmal auf und hörte eine Nachtigall in den Kastanien schlagen. War es dieselbe, die auf dem Friedhof Rache gesungen hatte? Und was wurde es mit dem Vitzliputzli, der mit dem Kinderseelchen auf dem Arm auf ihn wartete? Sicher besprach sich Obrist nun mit ihm, nachdem er ihn zur Rede gestellt hatte. Ich kam mir sehr einsichtsreich und weise vor, als ich dachte, daß die Dinge jetzt auf die Entscheidung zutrieben. Dabei schien mir alles unübersichtlicher und dunkler als je, und ich bewunderte Obrist, daß er nicht den Mut verlor und weiterkämpfte. Das einzige, was ich richtig begriff, war so viel: die ersten beiden Männer der Frau Rütlin waren fraglos auf gewaltsame Weise um ihr Leben gekommen. Der dritte aber hatte seinerseits jene beiden unschuldigen Wesen ins Grab gebracht und reckte die gottlose Hand nun nach ihr selber aus. Diesen Sachverhalt fand ich unter allen Umständen schreckend, und auch ich war jetzt fest davon überzeugt, daß die Dämonen die Hand im Spiel hatten. Vielleicht war es aber Frau Rütlin, die geprüft werden sollte, und Obrist war zu ihrer Erlösung ausersehen. Diese Auffassung gefiel mir sehr, und darüber erfreut verfiel ich wieder in Schlaf.

Stärkere Mittel

Darüber ging wieder ein Sonntag hin. Obrist hatte sich für den ganzen Tag Urlaub genommen; ich sah ihn nicht, wußte auch nicht, wohin er gegangen war. Daß er in Minseln sei, schien mir ausgeschlossen, aber sonst konnte ich mir nichts denken. Am Montag nach der Morgenandacht – diese Stunde war bei uns immer besonders trostlos und grau – fand ich ihn nicht fröhlich, aber gesammelter und von einer neuen Spannung aufgenommen. Er empfing mich mit einem raschen, zärtlich prüfenden Blick, als wollte er sich überzeugen, daß ich ihm noch zugetan sei, verbrachte aber die erste Stunde in einer milden Schweigsamkeit. Erst in der Zehnuhrpause löste er sich daraus. Er ging in seine Kammer und brachte ein Kästchen zurück. Als er es aufmachte, lag ein goldenes Kreuz zum Umhängen darin, das er, wie ich nicht zweifelte, für Agnes gekauft hatte. Ich tat einen Ausruf der Freude, ohne eigentlich zu wissen, warum, aber das Zeichen eröffnete doch wieder eine Aussicht, deutete auf Hoffnung.

»Ich bin nämlich nicht so sehr arm«, sagte er mit der stets innerlich belebten, aber seltsam ungleichen, vielfältigen Stimme, die er hatte; es schien, als wäre sie nicht recht an ihren Ort gebunden. »Nur schüchtern bin ich, verstehst du. Darum mache ich so viele Späße und verstelle mich. Man muß alles aufwenden, um nicht in die Hände der Dämonen zu fallen.«

Er fragte mich, ob mir das Kreuz gefalle, was ich nur bejahen konnte; sogar einen tiefen Eindruck machte es mir.

»Erst wollte ich ein Herz nehmen«, nickte er. »Aber danach kann das Unglück greifen. Eine Frau ist vor den Dämonen nicht sicher, wenn sie ein Herz so offen trägt. Das ist Eitelkeit, und an Eitelkeit hängt sich immer zuerst der Fluch der Vergänglichkeit. Das Kreuz aber ist ein heiliges Zeichen und feit; da habt ihr nämlich unrecht mit eurem Judenstern. Vor dem Kreuz fürchten sich alle Dämonen. Wer weiß, ob der Müllerbursch nicht auch einfach ein Dämon ist. Niemand kennt sich hier aus. Man muß sich an die festen Zeichen halten, die der Erlöser gegeben hat. Aber« – seine Miene wurde wieder ein wenig zweifelnd und unruhig – »es muß wieder durch deine Hand gehen –!«

Das versprach ich ihm gern und rasch, er jedoch schüttelte den Kopf, ohne etwas dazu zu äußern. Langsam trug er den Schmuck oder Talisman nach der Kammer zurück, und als er sich wieder gesetzt hatte, blieb er noch eine ganze Zeitlang still.

»Wir wollen da nicht viel Worte machen«, sagte er dann sehr ernst. »Wenn du mich nicht ganz besonders liebhast, so kann aus der Sache nichts werden. – Sei mal still; rede jetzt nichts.« Seine Stimme senkte sich beinahe zum Flüstern. »Du mußt die nächste Nacht an meiner Hand nach dem Kirchhof hinaufgehen und dort das Kreuz auf das Grab des armen Mädchens legen«, murmelte er blaß, »ein Vaterunser zur Erlösung des Seelchens sprechen und das Kreuz zurücknehmen. Ich werde wachen, daß dir die Dämonen nichts tun. – Auch Vitzliputzli wird da sein. Das ist im Grund ein guter Geist. Der Mephistopheles hat ihn auf mein Geheiß ein bißchen gequält. Jetzt ist er sehr willig. Und gegen den Mephistopheles, wenn er schlechte Laune hat, schützt uns das Kreuz. – Heute nacht um zwölf komme ich an dein Bett. Willst du aufstehen, dann tu es, zieh dich ohne ein Wort an und komm mit. Willst du nicht, so segne dich Gott. Mich findest du am andern Morgen nicht mehr hier. Nachtragen wird dir keiner was, denn du bist unschuldig, und was du tust oder läßt, ist von Gott eingegeben. – Jetzt kein Wort mehr. Denke heute nur noch an Agnes; ich tue es auch.« –

Gleich darauf war gemischter Chorgesang, dann wurde ich von einem Bruder zum Orgeltreten aufgefordert, nachher war Katechismusstunde, welcher sich das Mittagessen anschloß. Aber man kann ja denken ohne Gedanken, mit dem Gefühl, mit den Sinnen, die einen neuen Inhalt haben, während die Gedanken ihre Pflichtwege gehen und Alltagsarbeit verrichten. Ich sang seit einiger Zeit zweite Stimme, und war eben dabei, der führende Sänger zu werden. Aber wenn ich sang: »Du bereitest vor mir einen Tisch gegen meine Feinde!« so schluchzte unter meiner Stimme das Schicksal der Suchenden und Sehnsüchtigen, mit denen ich verbunden war. Beim Orgeltreten fand ich, daß ich ebensoviel Furcht hatte, als Liebe zu Obrist und Verehrung für Agnes. Anderseits empfand ich starke Lust, die Nachtigall Rache singen zu hören. Beim Katechisieren der Brüder wieder fühlte ich das ernste, bedeutungsvolle Schweigen einer fernen schönen Frau, zu welcher ich mit dem Kreuz den Weg durch Nacht und Grauen bahnen sollte, und ich nahm wieder ein Augenmaß von meiner Wichtigkeit. Aber dachte ich das alles weg, so war ich niemand, irgendein strafversetzter Schuhputzer. Seltsam und wunderbar wurde das immer, sobald man mit Menschen zu tun bekam.

Nach der Nachmittagsfreistunde fand ich die Schusterei leer. Obrist war, wie man mir sagte, nach Säckingen gefahren, um Leder zu kaufen. Ich wunderte mich darüber, denn mir hatte er davon nichts gesagt. Den Abend verbrachte ich allein auf dem Zementboden, obwohl es kalt war und peinlich zog, allein ich wagte mich nicht in die Schusterei wegen des Vitzliputzli und der andern Geister. Aber auch der große Zementboden hatte seine Schrecknisse. Die Winkel, wohin mein Licht nicht reichte, lagen dunkel und brauten fühlbar Ungemeines. Mit blauer Kälte drang durch das eine Fenster hinten das Licht des Abends herein. Immer wieder regnete es. Die Wendeltreppe herauf zog von Zeit zu Zeit ein Seufzen, daß es mir eisig den Rücken hinunter lief. Dahinter wußte ich die leere, große katholische Kirche mit dem einsamen blutigen Lichtchen vor dem Altar. Da hatte das arme verführte Mädchen gekniet und auf die Heiligen gehofft. Endlos zogen sich die beiden Stunden bis zum Abendessen. Wenigstens war ich von da an nicht mehr allein und wurde auch nichts mehr von mir verlangt. Mechanisch sang, betete und stieg ich mit den anderen die Treppe hinauf.

Als wir alle im Bett lagen und der Bruder nach dem Löschen des Lichtes sich entfernt hatte, konnte ich mich endlich rein und unbeeinflußt den Gedanken an die Mitternacht hingeben. Vor dem Zubettgehen hatte ich noch einen Blick aus dem Fenster nach dem Kirchhof getan, dessen hohes, dunkles Kreuz ich in einer ziehenden Mondhelle unterscheiden konnte. Vergebens wartete ich heute auf die Nachtigall. Ais der Bruder nach zehn wiederkam und sich schlafen legte, war ich noch wach. Ich wußte nun nicht mehr, ob ich mich fürchtete. Trotzdem war ich ganz Furcht, wenn auch in einem anderen Sinn; ich war sozusagen vollkommen in eine übergewaltige heilige Lebensfurcht aufgenommen, von welcher aus ich nun klarer den schmerzlich-starken Wunsch erkannte, dem toten Seelchen die Hand zu reichen. An meine Wichtigkeit dachte ich jetzt nicht mehr. Plötzlich begann nun doch die Nachtigall zu schlagen, und zwar gleich so heftig und leidenschaftlich, daß ich erschrak. Trotzdem fand mich Obrist in tiefem Schlaf, als er leise kam, um mich zu wecken. Beinahe hätte ich aufgeschrien, so gespannt waren meine Nerven, doch erhob ich mich schnell und leise, nahm beinahe besinnungslos meine Sachen, um mich draußen anzuziehen, und ohne daß ein Wort gewechselt wurde, in tiefer Selbstverständlichkeit verließ ich an seiner Hand auf dem Weg durch den Andachtsaal und über die Wendeltreppe das Haus.

Die Auslösung

Es hatte eben wieder geregnet. Die Bäume tropften in der Finsternis. Sonst war es ganz still. Eine heilige Weite und Höhe schien über allem Leben zu liegen. Wir zwei kamen mir ganz klein und unbeachtet vor, aber dann zitterte unwillkürlich mein Herz und schwoll gewaltsam auf, und das erinnerte mich an die geheimen Mächte, zu denen wir in Beziehung standen, und hinter ihnen lauerten vielleicht gewaltige überirdische Verbände, von denen der Vitzliputzli und der Mephistopheles nur unbedeutende Vorposten waren. Größer als sie, schien mit allerdings, war immer noch das begrabene Mädchen mit dem kleinen unbeheimateten Seelchen und dem unfaßbaren ziellosen Unglück. Größer war sicher auch der Müllerbursch. Und mindestens so stark war das Schweigen der Agnes Rütlin.

Obrists Hand war heiß und unruhig, aber nachher, als er sah, daß ich wacker ausschritt, kühlte sich sein inneres Fieber; ich fühlte, wie er still und geduldig wurde. Das Kreuz hatte er mir gleich vor der Anstalt um den Hals gehängt. Das leuchtete nun streng und doch voll ernster Liebe und Erwartung durch die regenschwere Dunkelheit, die immer einmal ein schwacher Schimmer von dem dahinter verborgenen Vollmond geisterhaft durchflog. Im Wald droben rief ein Käuzchen. Hinter der Bahnlinie erhob sich hoch und schwarz das Kruzifix des Kirchhofs. Das Herz klopfte mir rasch auf, und ein Stoßgebet entfuhr mir. Bittend drückte Obrist meine Hand in der seinen. Seltsam war mir, wie in langen Abständen der Rhein aufseufzte. Und dann ging von Zeit zu Zeit ein in der Nässe halbersticktes geheimnisvolles Dröhnen oder eine unterirdisch donnernde Stille durch die Wälder.

Ich hielt mich nun immer näher zu meinem Begleiter. Mir war, als ob Geister kühl über meine Stirn strichen und andere drohend und beunruhigend mich ihre Anwesenheit fühlen ließen. Auch Vitzliputzli fühlte ich um uns, aber seitdem ich wußte, daß er vom Mephistopheles auf Befehl gequält wurde, betrachtete ich ihn mehr als unseresgleichen, als einen guten, treuen Kumpan, der uns aber auch nicht weit helfen konnte. Als wir uns dem Kirchhof näherten, stellte ich mit Bedauern fest, daß die Nachtigall nicht sang, obwohl es mir unsagbar schaurig gewesen wäre, wenn sie es getan hätte. Auch Obrist schien flüchtig aufzuhorchen, aber dann ließ er gedankenschwer den Kopf wieder hängen. Die Kirchhofspforte war nicht verschlossen. Obrist öffnete sie vollends, und langsam, von Feierlichkeit und den Mysterien des Gewesenen empfangen, traten wir ein.

Auch die Stille hat ihre Grade, und sie ist der Vertiefung fähig. Hier trat sie mir entgegen als eine Macht, die heilig, unwiderstehlich mit Gefangenschaft schlug, fürstlich residierend im Namen des Todes, dessen Kaiserreich alle anderen Kaiserreiche überragt, in sich schließt, überdauert, dessen dunkel glänzende Kathedrale das Weltall ist, als dessen Priester die Jahrhunderte zelebrieren, dessen Portale die Jahrtausende sind, und auf dessen Säulen die Götter zu Bildern erstarren. Der einzige Lebende, den er um sich duldet, ist der Engel der Stille, der die Friedhöfe hütet, der unsterblich ist, und der Vergangenheit schafft, wo er zwischen die Atmenden tritt. Mir ging das Herz stark, aber ich hatte keine Angst, während ich neben Obrist wie träumend zwischen den dunklen Gräberreihen mit den alten Steinen und Kreuzen hindurchschritt. Bloß vor dem hohen schwarzen Kruzifix in der Mitte fürchtete ich mich etwas, aber als wir uns ihm näherten, flößte mir sein altes rissiges Holz Vertrauen ein, und ich berührte es leicht beim Vorbeigehen. Hinter ihm begannen die neueren Gräber, und jetzt wurde ich doch sehr beklommen. Ein gepflegtes altes Grab ist Poesie, ein neues ist allemal Erdenweh, und mehr oder weniger ungeläutert umschweben es noch alle Bosheiten, Laster und Mühen, denen der stille Einwohner einst ausgesetzt war, oder die er selber erregte. Doch waren auch diese Gräber alle wenigstens angepflanzt; ganz zuletzt aber kamen wir zu einem nackten Grabhügel, auf dem nichts lag als ein dünner Blechkranz, und das war das Grab des unglücklichen Mädchens mit dem toten Kind im Arm. Sogleich war wieder alle Angst wie weggeblasen. Ich wurde ganz ruhig und weit, und alles in mir war Anschauung. Aber ich verstand nicht das mindeste von dem, was ich anschaute, und das war mein Glück. Ich glaubte eine Leichenstätte bei Nacht zu sehen, währenddessen sah ich unter der Führung meines guten Engels einen poesievollen Roman, und der stumme Jammer unter dem Rasen beglückte mich mit der warmen Sehnsucht, Geschehenes ungeschehen zu machen, als ein kleiner Christus in dies Grab hinabsteigen und alles zu einem schöneren Dasein wieder auferwecken zu können.

Ich nahm das Kreuz vom Hals und wunderte mich dabei, daß meine Hand zitterte; ich hatte mich nicht für aufgeregt gehalten. Gleich darauf zitterte der ganze Mensch, da mich fror und mein Leib sich in sein Bett zurücksehnte. Schlotternd legte ich das Kreuz auf den Grabhügel nieder. Meine Zähne schlugen nun so heftig aufeinander, daß ich eine ganze Zeitlang unfähig war, zu sprechen. Obrist stand mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen da und wartete geduldig auf das Vaterunser. Schon wollte ich verzagen und die Sache aufgeben, und verwirrt sah ich zu ihm auf. Er war bleich. Über sein gutes, treues Gesicht liefen Tränen herab. Meinen Blick erwiderte er nicht, trotzdem ging mir seine Erscheinung so zu Herzen, daß ich mich zusammenriß. Vor Betroffenheit sprach ich das seelenerlösende Vaterunser schnell hintereinander mit lauter, klarer Stimme. Ich hatte das Gefühl, daß der Engel der Stille mir selber dabei zuhörte. Mein Herz war jetzt nur ein kleines, halb eingefrorenes Klümpchen Vergänglichkeitsvorgefühl, und als ich fertig war, überkam mich eine solche Bestürzung, daß ich mich nicht mehr zu regen wagte. Aber nun sah mich Obrist an, und an seinem freundlichen, dankbaren Lächeln, das mich ermunterte, nun auch noch das letzte zu tun, gewann ich neuen Mut und meine Lebenswärme zurück. Ich nahm das goldene Kreuz vom Grabhügel auf und hing es mir wieder um. Obrist faßte meine Hand, und nach einem letzten Blick auf die Ruhestatt der verunglückten Erdenpilgerin wandten wir uns, um den Friedhof zu verlassen.

Ein blasser Mondschein flog wieder durch die feuchte Welt, beleuchtete hier die Kreuze und die Blechkränze, und ließ droben einige Wolkenumrisse aufschimmern. Ich hatte nicht gedacht, daß die Nacht diese große Verlassenheit des Lebens sei; weil ich nachts immer schlief, so glaubte ich in der Nacht alles wohlgeborgen. Welche Furcht mußten vielleicht die Tiere draußen ausstehen, bis es wieder licht wurde! Wir waren etwa zehn Schritte vom Kirchhof, als plötzlich die Nachtigall zu schlagen begann. Unwillkürlich blieben wir beide stehen. Sie sang wirklich Rache mit einer leidenschaftlichen, beinahe übergewaltigen Stimme, und so lange wir den Bahnhofweg hinuntergingen, hörten wir sie noch; sie beherrschte die ganze Gegend. Aber im Anstaltshof hörten wir sie nicht mehr. Hier war es vollkommen still und mitternächtig. Nur der Rhein rauschte und seufzte.

»Das erlöste Kinderseelchen ist jetzt bei dir«, hörte ich Obrist leise erklären, »Da bleibt es, weil du es erlöst hast, indem du ein guter Mensch bist. Denn wenn du auch Fehler gemacht hast, und noch viele machen wirst, wirst du doch immer ein warmes Herz haben. – Auf unserem ganzen Lebensweg sammeln wir nämlich vertriebene und verwaiste fremde Seelen in uns auf. Mit denen treten wir vor den himmlischen Richterstuhl. Mußt so denken, Johannes: von heut an hast du angefangen, Vater zu werden. Wirst jetzt immer mehr deinen eigenen Weg geführt. Nur vor den Dämonen mußt du dich vorsehen!«

Er führte mich in meinen Schlafsaal zurück und wartete, bis ich wieder im Bett lag. Dann küßte er mich auf den Mund, daß ich lange nachher in einer stillen Verwirrung lag; bald war es mir, Agnes hätte mich geküßt, und bald, die geheimnisvolle jüngste Tote auf dem Friedhof droben. Aber dann nahm die Natur ihr Recht, und ich schlief bis zum nächsten Morgen selber wie ein Toter. Ich überhörte sogar den Gesang der Brüder und mußte besonders geweckt werden. Erst das klare, kalte Wasser im Brunnen brachte mich ganz wieder zu mir, und da war ich geneigt, alles, was ich in der Nacht erlebt hatte, für einen Traum zu halten. Es war mir auch nicht möglich, jene Welt und diese als dieselbe zu erkennen, eher hätte ich glauben können, daß mit dem Eintritt der Dämmerung die Welten unmerklich vertauscht werden. Aber doch hatte ich mir aus aller Angst dieser Nacht wieder etwas Lebensraum für meine gefangene Seele geraubt, und die nächsten Monate trug ich ein wenig leichter an der Zeit mit ihren Regeln und Bedrohungen.

Sieg über Müllerburschen und Dämonen

Obrist jedoch nahm sich am nächsten Sonntag – es war Ostern – einen derben Knotenstock, ein Herz und das geweihte goldene Kreuz, fand gegen seine Erwartung keinen Feind mehr vor – der plötzlich ausgewandert war –, dagegen eine weiche und zugängliche Frau, der es gefiel, ihn heute zu ihrem Verlobten zu machen. Aber sie tat es immer noch nicht ohne Furcht und Zittern. Das Kreuz nahm sie mit einer gewissen Inbrünstigkeit an sich. »Das soll uns vor dem Bösen beschützen!« sagte sie. Ihren Liebhaber ließ sie, wie ich aus manchem merkte, nicht darben, aber jede Art von Plänen und Zukunftsrechnungen lehnte sie heute und auch für die nächsten Monate streng ab, so daß Obrist noch einmal unruhig und beinahe verzagt wurde. Er begann wieder von den Dämonen zu sprechen, und war bereits vor einem neuen Verhängnis auf der Hut. Aber eines Sonntags – die Welt blühte wieder, und die Vögel hatten schon die erste Brut heraus – schlüpfte auch der erste Vogel der neuen Zukunft aus dem Osterei ihrer Brautschaft. Die Brautleute hatten sich dahin geeinigt, sich wohl hier aufbieten und trauen zu lassen, gleichzeitig aber wollte Agnes ihren Besitz verkaufen und mit ihrem Mann nach Argentinien ziehen. Diese Welt lag ihr zu schwer auf der Seele, und die Wege waren ihr zu verworren. Zu viel Tote ruhten unerlöst und drohend in der Erde, und die Luft war voll von Gefahren. Wenn ein Mensch auf der Welt das verstehen konnte, so war es Obrist.

Es kam alles ohne weitere Störungen so, wie sie es sich dachten. Obrist kündigte hier seine Stellung. Vier Wochen später fuhr er als junger Gatte in einem neuen Anzug, den nicht der Anstaltschneider gemacht hatte, denn den hielt er für einen Pfuscher, mit der gewesenen Agnes Rütlin nach Bremen, um nach Argentinien überzuschiffen. Zum Abschied hatte er mir einen prachtvoll illustrierten und gebundenen Gulliver und dazu noch Onkel Toms Hütte geschenkt. Den Onkel Tom konnte ich behalten; den Gulliver tauschte man mir gegen einen Bismarck aus, den ich nie las. Ich bekam eine Postkarte mit Ansicht von Bremen und dann einen Brief aus Argentinien zum großen Aufsehen und Neid der übrigen Bubenschaft. In einem späteren Brief stellte er mir vollends in Aussicht, mich nach meiner Konfirmation nachkommen zu lassen. Er wollte mir die Reise und alles bezahlen. Seine Agnes wünschte mich kennenzulernen. Dazu hatte er ein Schuhgeschäft angefangen, das sich günstig anließ, parlierte schon ein wenig Spanisch, und in zwei Jahren, so sah er voraus, konnte er einen gescheiten und anstelligen Jungen wie mich gut gebrauchen. Wochenlang dachte ich an nichts anderes. Im Hof spielte ich die große Person mit meinen Aussichten; es war ja lange her, seitdem ich meinen letzten Glanz hatte spielen lassen können. Natürlich schrieb ich ganz in zustimmendem Sinn. Obrist antwortete noch einmal, aber dann traten bei mir und um mich vollkommen neue und unerwartete Dinge ein, über denen ich ihn und die Agnes Rütlin und Argentinien vergaß. Als ich nicht mehr von mir hören ließ, stellte auch er die Korrespondenz ein.

Viel später, als ich wieder in einer Verfassung angekommen war, in welcher man sich an seine fernen Freunde erinnert, nahm ich den Faden noch einmal auf. In dem zähen Gedächtnis der Frühzeit hatte sich die Adresse frisch erhalten. Inzwischen hatten die Eheleute, wie ich, ihren Wohnsitz gewechselt, doch bekamen sie richtig meinen Brief, und Obrist antwortete auch bald, aber doch nicht so rasch wie früher. Es ging ihnen weiterhin gut. Sie hatten zwei Kinder und wünschten sich kein drittes; niemand dort zulande hatte mehr als zwei. Mein Platz war daher reichlich besetzt, zumal da auch noch ein Geselle und ein argentinischer Stift saßen. Er wiederholte zwar herzlich, wenn auch nicht stürmisch, die frühere Einladung, blieb sogar dabei, daß er mir die Reise bezahlen wollte; aber mir war, als ob die Sache nicht mehr den früheren Schimmer hätte, und mich mahnte etwas, es dabei bewenden zu lassen. Ich antwortete mit einem Gedicht, worin ich Agnes Rütlein als sein Glückstütlein und ihn als einen glücklichen Finder darstellte, der in selbigem seine Kinder gefunden habe. Und da er mir geschrieben hatte, daß sie jedes Jahr eine große Kerze an den Hauptaltar ihrer Kirche stifteten, um die Dämonen weiterhin von ihrem Haus fernzuhalten, und daß Agnes das Kreuz nicht von ihrem Hals lasse, so reimte ich noch etwas von Kreuz und Reiz, und von Kerzen und Herzen. Daß ich seine Einladung annehmen wolle, stand nicht darin, und auf den ganzen Brief antwortete er ein wenig unzufrieden, ja, es schien, als ob er meinen Ton aus irgendeinem Grund als ungehörig empfand, ohne daß er es sagte. Vielleicht steckte seine Agnes dahinter. Nun, mochte das sein, wie es wollte, so hielt ich im stillen meine Glückwünsche aufrecht, aber da ich ihnen offenbar doch nicht mehr gegen Dämonen beizustehen haben würde, denn gegen die waren sie nun bei der katholischen Assekuranz sorgfältig versichert, so nahm ich die beiden Briefe und verbrannte sie schnell, bevor ich die neue Adresse auch auswendig wußte. Außerdem sorgte ich wieder für einen Wohnungswechsel. Ein nächster Brief, wenn sie einen geschrieben haben, hat mich nicht mehr erreicht, und eine Weile genoß ich meine leise trauernde Freude darüber, bis abermals bei mir der Wind sich drehte und auch dieses Zwischenspiel Vergangenheit wurde. Denn wie keiner sich von einem Weibe trennt, ohne daß er ein anderes im Auge hat, so wird uns auch kein Erlebnis zu Vergangenheit, bevor uns ein neues mit Glaubens- und Liebesgewalt erfaßt.


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