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Zwölftes Kapitel
Siege oder Niederlagen?

Der Gewissenskonflikt

Wie ich vermutete, wurde ich nach der Schule zum Herrn Vater gerufen, um ihm wieder Briefe zu schreiben. Mit einem Anfall von Herzklopfen ging ich hin. Die bekannte Atmosphäre von unfaßbarer Geistigkeit, von zehrender göttlicher Gegenwart empfing mich, die mir schon so viele frische rote Blutkörperchen abgetötet hatte. Eine hohe, kühle Luft herrschte hier, die etwas Wesenloses an sich hatte, und der kalte Zigarrenrauch mit dem geistlich vornehmen Schein der großen, dicken Bände in den Bücherschränken und den starken Haltungen Luthers und Calvins an der Wand machten mir auch nicht wohler. Nach der Begrüßung setzte ich mich an den Schreibsekretär gegen die kurze Mauer zwischen den Fenstern, während der kranke, schwere Mann tiefer im Zimmer seitlich hinter mir saß. Aus allerlei brieflichen Mitteilungen, die ich zu schreiben hatte, und aus halben und ganzen Worten, die um mich fielen, wußte ich, daß in seiner Familie ein gewisser Zwiespalt bestand. Seine Frau hielt ruhig auf seiner Seite, immer zu mehr oder weniger gesalzenen Späßen aufgelegt, und auch der zweite Sohn hatte sich bereitfinden lassen, hier die zweite Lehrerstelle zu vertreten, bis Herr Johannes ihm die erste und die Verwaltung der Anstalt überließ; aber das Verhältnis bekam ihm nicht gut. Unter der geistlichen Hochspannung begann er zu kränkeln, wurde unruhig, verlor die jugendliche Frische und Unvoreingenommenheit, und mit Bedauern sahen wir seine sonst liebenswerte junge Männlichkeit in eine spröde Pedanterie und launenhafte Heftigkeit umschlagen. Der erste Sohn dagegen weigerte sich nachhaltig, den Platz seines Vaters einzunehmen, obwohl er Theologie studiert hatte und bereits eine Pfarrstelle versah. Es war kein offenes Zerwürfnis, aber wie uns, so bekriegte er auch den Sohn heftig und zornmütig, und dazwischen lagen immer wieder Zeiten scharfen Grames und leidvoller Einsamkeit und Enttäuschung. Das Werk, um das er selber sein Leben daran gegeben hatte, in fremde Hände fallen zu lassen, war ein Gedanke, der ihn unausgesetzt beunruhigte.

Dazu kam nun noch die neuerliche Untreue seiner Töchter, die sich über die ewige Inanspruchnahme ihrer Jugend und ihrer freien Zeit durch Briefeschreiben und Vorlesen beklagten und sich erst leise und dann vernehmlich dagegen aufzulehnen begannen. Sie wollten auch etwas vom Leben und von der Welt haben, und wenn die eine sich einen Urlaub in Basel oder in Württemberg bei Verwandten ertrotzte, so hatte die andere erst recht keine Lust, deren ganze Arbeit zu der ihren zu übernehmen. Nach einigen stürmischen Szenen, in denen auch seine Gattin nicht mehr ganz nach Wunsch Stich hielt, da sie außerdem auch Mutter war, fing er dann an, mich immer planmäßiger an sich zu ziehen, worüber die Töchter keineswegs Ärger bezeigten. Sie erwiesen mir im Gegenteil viel Liebenswürdigkeit, und die eine nähte mir ein blütenweißes seidenes Jungfernband um meinen Hut, als sie sah, daß ich ohne jeden Schmuck herumlief. Aber mir ahnte gleich nichts Gutes damit. Richtig warf sich die ganze scharfzähnige Rotte über meinen Mädchenschmuck, und eine Zeitlang hieß ich »Jungfer Schattenhold«. Still entfernte ich das Band und ging wieder mit kahlem Hut.

Der Sekretär war einer jener alten Schreibschränke mit herausziehbarer Platte und einer Menge von Fächern und Schubladen im Aufbau. Diese Abteilungen nun enthielten die Ausweispapiere der Hausgenossen, Brüder, Knaben und Mädchen getrennt und alphabetisch geordnet. Gerade im laufenden Frühjahr hatte ich die Schriften aller Neuankömmlinge darin untergebracht. Der Herr Vater diktierte mir nun zuerst zwei Briefe an ehemalige Demutter Kinder. Er war noch müde und gedrückt. Seine Sätze enthielten viel Hinweise auf die Machtlosigkeit des Willens und den Unbestand des Fleisches, und auf die Notwendigkeit, sich desto näher zu Gott zu halten. Diese Gedanken führte er nachher in einem Brief an seinen Bruder Elias noch tiefer aus, aber hier klang zugleich die Sehnsucht nach dem Menschen, nach Liebe und Vertrauen durch, und die Wehmut um die versunkene Jugend sowie die so früh gebrochene Mannesherrlichkeit rauschte durch seine Perioden.

Während ich so saß und schrieb, mich unsichtbar das Schicksal eines Lebens umspann und das Herz mir schwer wurde unter dem Druck der Unabänderlichkeit, stieg es mir plötzlich wie im Traumbild auf: hier in der Anstalt kämpfte unser ansteigendes, heißes, junges Leben gegen dies niedergehende, erkaltende, und alles, was wir gegen den Herrn Vater unternahmen, war darauf angelegt, sein Ende und unsere Befreiung zu beschleunigen. Eine Zeitlang mußte ich meine ganze Kraft zusammennehmen, um nicht sein Diktat zu überhören, so brauste es mir vor den Ohren, und so voll wurde die Luft um mich von wogenden Stimmen und Gestalten des Lebens. Und immer lagen da streng geordnet die Fächer vor mir, die Kleibers und Sambergers Freiheitsbriefe enthielten. Sie befanden sich mit mir in demselben Raum, in welchem meine Mutter vielleicht die bitterste Niederlage ihres Lebens erlitten hatte, und in welchem ich die höchste Vertrauensstellung bekleidete, die der alte Mann vergeben konnte. Beinahe wie von einer unsichtbaren Hand geführt, suchte ich mit den Augen die Fächer, in denen die Papiere der beiden Fluchtwilligen lagen. Nach jedem Satz, den ich geschrieben hatte, zog ich sie ein bißchen weiter auf, immer leidenschaftlicher angelockt von dem Sinn des Wahrzeichens, das meinem Tun zugrunde lag. Vor der Entdeckung durch den Herrn Vater brauchte ich mich nicht zu fürchten; bis zu mir hin konnte er nicht mehr deutlich sehen. Als die Papiere neben mir auf dem Tisch lagen, stützte ich die Stirn, die mir brannte, auf den Handrücken und blieb so eine ganze Weile in heißer Gefühlsverwirrung. Ich hatte beinahe unwiderstehliche Lust, unter einen von den Briefen zu schreiben: »Geschrieben von mir für den Herrn Vater, den ich liebe!« Zugleich sah ich ihn im Geist mit dem krassen Gefühl des Erlöstseins zur Strecke gebracht, und uns über ihm stehend als die unaufhaltsamen und unbezwingbaren Sieger, weil das Recht des Lebens mit uns war.

In diese Vision hinein hörte ich seine etwas verwunderte Stimme: »Bist du eigentlich fertig mit dem Satz?« Ich wußte nicht, welchen Satz er meinte, aber ich sagte, mich zusammennehmend: »Ja.« Wenn er ihn noch einmal zu hören verlangte, so war ich geliefert, denn dann hielt ich nicht Stich. Aber er ging plötzlich zum Schluß über. Nachher ließ er sich alle Briefe laut vorlesen. Ich merkte bald, daß seine Gedanken nicht dabei waren. Beim Brief an seinen Bruder wurde er zwar aufmerksam, aber den fehlenden Satz vermißte er nicht, und etwas ermüdet sagte er: »Lege mir die Briefe hierher, damit ich sie später unterschreibe.« Ich tat es. »Setze dich da neben mich«, befahl er darauf. Eine Weile schwieg er, während die Papiere der beiden Jungen in meiner Tasche leise knitterten und mein Herz dumpf gegen die Rippen schlug.

»Es sind jetzt schon eine ganze Reihe von Monaten her«, begann er darauf, »ohne daß deine Mutter einen Schritt unternommen hat, um dich hier weg zu nehmen. Solange habe ich gewartet, denn das Recht der Mutter an ihrem Kind, besonders wenn sie auch die Pflichten dazu übernehmen will, geht allen Rechten und Ansprüchen vor. Nun, sie hat keinen Gebrauch davon gemacht, und ich kann wieder handeln. Ich will dir zeigen, daß ich nicht der Mann bin, der nur nimmt, ohne geben zu wollen. Du bist immerhin das einzige Kind, das gegen den Willen seiner Mutter hier ist. Noch jede Mutter, die sich anfangs gegen uns sträubte, habe ich schließlich besiegt und überzeugt. Ich weiß, daß es bei der deinen unmöglich sein wird. Sie hat eine Stellung bezogen, die für sie sehr vorteilhaft ist, weil sie da zu keinem klaren Bekenntnis gezwungen werden kann. Verstehst du mich?« Ich bejahte mit gepreßter Stimme, obwohl ich nicht das mindeste verstand. »Und so schiebt sie die ganze Verantwortung für dich mir zu. Das ist mir bisher noch nie widerfahren. – Nun«, fuhr er, wieder nach einem kurzen Schweigen, fort, »ich werde ihr standhalten. Ich habe mit dir einen besonderen Plan vor, aber ohne deine Einwilligung kann ich auch den nicht ausführen. – Meine Kinder sind erwachsen und gehen eigene Wege. Und die anderen Kinder, die ich habe, deine Kameraden, sind durch die Anstaltsregeln und durch meine Unbeweglichkeit von mir getrennt. Ich bin sehr einsam geworden. Es ist viel leerer Raum um mich. Verstehst du?«

Ich bejahte wieder. Bereits sah ich etwas Ungeheures, Schreckliches auf mich zukommen. Die Kehle war mir wie zugepreßt, und die Zunge wurde mir trocken.

»Und da habe ich mir vorgenommen, selber an dir Vaterschaft zu vertreten. Du wirst mein jüngstes Kind sein, das ich nicht dem Leibe nach, aber dem Geiste nach gezeugt habe, und wirst es in dem Maß sein, als du dich selber dazu machst. Mehr sage ich jetzt noch nicht. – Erinnere dich nur, was ich damals über die Berufung sagte. Du siehst jetzt, daß es keine leeren Worte waren. Wenn du einmal größer bist, liest du den Roman Goethes von den Wahlverwandtschaften. Da wirst du mich in vielem verstehen. Ich werde dann wohl nicht mehr sein, aber du wirst den Weg gehen, den ich dir vorgezeichnet habe, und wirst ihn von Jahr zu Jahr mit größerer Einsicht und Entschlossenheit gehen. – Ich verlange heute keine Antwort von dir. Trage das alles mit dir herum. Bete darüber. Untersuche dein Herz. Nach acht oder nach vierzehn Tagen werden wir darauf zurückkommen. Der Geist wird uns führen. – Und jetzt gehe in deine Arbeitstube zurück. Wenn ich dich wieder brauche, werde ich dich rufen.«

Das war die niederschmetternde Eröffnung, die er mir machte. Nie vorher war ich so wenig vorbereitet dafür gewesen. Aber ich muß hier sagen, daß es für einen großen Teil meines Lebens überhaupt mein Schicksal war, von wichtigen Umschwüngen in einer gärenden Verwicklung, ja, in einer allgemeinen Trübung meines Bestandes angetroffen zu werden. Sie hatten sich so lange voraus angekündigt, und mein geistiger, beweglicher Mensch war schon so tief von ihnen ergriffen und zu Gegenzügen gereizt worden, daß scheinbar einfache Aktionen zu großen Ein- und Zusammenbrüchen führten oder in solche mittenhinein fielen, während tiefgreifende Wandlungen von mir still ohne alle Erschütterungen vollzogen wurden. Ich galt daher oft für falsch und hinterhältig, ohne es eigentlich zu sein. Man machte nur den Fehler, mich für bildsam und geduldig zu halten, und darauf Pläne zu gründen, während ich in Wirklichkeit eine zarte, aber unerbittliche Natur besitze, die sich nichts auf die Dauer aufzwingen läßt. Wahrhaft verstört verließ ich die Wohnung des Herrn Vaters. Worüber ich mich noch am meisten entsetzte, was ich an mir am wenigsten verstand, obwohl ich es selber getan hatte, das waren die schwarzen Kreuze auf weißen Briefbogen, die jetzt an der Stelle der verschwundenen Heimatscheine in den Fächern lagen. Wie alles, hatte sich auch das in einem halben Traumzustand vollzogen, unter einem überpersönlichen, geisterhaften Zwang, meine Ehre zu retten, denn durch die Hinterlassung dieser Kreuze hatte ich mich selber eingesetzt.

Meiner kaum bewußt ging ich nach der Arbeitstube, wo ich mich still an meinen Platz setzte und Hals über Kopf zu zupfen begann, als wollte ich mein Gewicht noch einholen. Kleiber streifte mich ein- oder zweimal mit einem fragenden Blick und ließ mich dann. Gleich darauf war Feierabend, aber auch den benutzte Kleiber nicht zu einer Frage. Erst kurz vor dem Essen im dunklen Eingang zum Speisesaal gab ich ihm die Papiere. Er merkte erst gar nicht, was ich wollte, da er nicht mehr darauf gefaßt gewesen war. Schnell nahm er sie und steckte sie ein. Zu sprechen vermochte auch er nichts. Aber ich fühlte, daß wir uns jetzt so nah waren, wie wir uns nie mehr sein würden, und wenn wir noch achtzig Jahre miteinander lebten. Ich liebte ihn, vielleicht weil ich so viel für ihn getan hatte. In ernster Betroffenheit wagte ich ihn den ganzen Abend nicht mehr anzusehen. Das gemeinsame Lied sang ich zwar mit, aber meine Stimme hatte keinen Klang, und die Worte hatten keinen Sinn. Wer war ich denn eigentlich nun?

Vor dem Schlafengehen schenkte mir Kleiber zum Abschied sein schönstes Buch, den »Lederstrumpf«, den er als einziger in der vollständigen Ausgabe besaß. Ich forderte ihn noch einmal dringend auf, meine Mutter zu besuchen; er könne ja von dort aus über den Chrischonaberg gehen. Ich hatte Tränen in den Augen, und er war auffallend rot, sonst aber gefaßt. Samberger schlief im dritten Zimmer; mit ihm habe ich nicht mehr gesprochen. Obwohl ich mir vornahm, wach zu bleiben, bis Kleiber aufstand und davonging, schlief ich vor Ermattung sofort ein. Als der Schlafbruder kam, wurde ich zwar noch einmal munter, aber nachdem ich eine Zeitlang in den Mondschein draußen geblinzelt und dem Ruf des Käuzchens in den Kastanien zugehört hatte, war ich plötzlich wieder weg. Kleiber ließ mich schlafen.

Ausgerissen

Desto früher war ich am anderen Morgen wach. Ich sah den Schlafbruder aufstehen und sich anziehen, ohne daß er das leere Bett bemerkte. Auf dem Schemel lagen Kleibers Werktagskleider wie immer; man mußte also denken, er sei nur hinausgegangen. Der Schlafbruder ging singen und kam wieder mit dem Ruf: »Auf!« Wir zogen uns an, und erst, als wir schon am Betten waren, stellte es sich heraus, daß Kleiber fehlte. Draußen ging eben die Sonne in einem strahlend blauen Himmel auf. Sie hatten also ein schönes Wanderwetter.

Es befanden sich noch vier Bundesmitglieder in diesem Saal, und jeder wußte, daß nun keine leichten Tage für uns kamen. Schon erschien aufgeregt der Schlafbruder des dritten Zimmers bei uns, ob hier vielleicht auch einer fehle? Auch Samberger war also durchgekommen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht durch die Anstalt. Als wir zum Waschen gingen, bemerkten wir an den Türflügeln des Portals zwei große ausführliche Kreidekreuze, die noch niemand weggewischt hatte. Das waren ihre Abschiedsgrüße. Beim Morgenessen sah alles nach den zwei klaffenden Lücken in unseren Reihen und herrschte bereits eine schwüle, bezogene Stimmung. Auch der Herr Vater tat einen raschen, unruhig spähenden Blick nach unserem Tisch, obwohl er sicher nichts sah als die zwei hellen Streifen unserer Gesichter. Er genoß wenig, sprach kaum, grübelte blaß und gespannt vor sich hin, und die nachfolgende Andacht verlief gespannt wie unter dem fernen Aufziehen eines Gewitters.

Am Vormittag begannen schon die Verhöre. Niemand wußte etwas. Das Verschwinden der Papiere war noch nicht entdeckt. Nach dem ersten Wetterleuchten schien sich das Gewitter wieder zu verziehen, aber wer hier wetterkundig war, wußte, daß der längere Aufschub nur einen schwereren Ausbruch bedeutete. Man raunte, es sei nach den Ausreißern telegraphiert, auch die Gendarmerie habe man benachrichtigt. Und dann geschah noch etwas ganz Unerwartetes: nachmittags beim Antreten in der Arbeitstube stellte es sich heraus, daß ein dritter Junge fehlte. Es war ein stilles, zärtliches Kind, ein Elsässerchen, das noch nicht lange in der Anstalt lebte, durch Wochen hindurch untröstlich immer wieder nach seiner Mutter geweint und sich jetzt während der Spielpause unauffällig weggeschlichen hatte, um den Heimweg anzutreten. Diese Flucht verursachte vielleicht noch größeres Aufsehen. Abgesehen davon, daß niemand dem kleinen, freundlichen Burschen mit den traurigen Augen einen solchen Streich zugetraut hatte, sah die Sache nun schon nach Epidemie aus, und die strengsten Vorsichtsmaßregeln wurden getroffen. Man gestaltete unsere Bewachung so scharf und lückenlos, daß wir uns kaum noch bewegen konnten. Mittags war nicht ein Bruder im Hof, sondern ihrer sechs paßten, auf verschiedenen Plätzen postiert, auf uns auf. Die Nachmittagsfreistunde wurde vorläufig überhaupt aufgehoben; wir mußten vom Kaffeetisch weg unmittelbar in die Arbeitstube, und das Vormittagsgewicht war jetzt auch für den Nachmittag vorgeschrieben. Ich wurde die Tage nicht zum Schreiben und bloß einmal von Herrn Johannes zum Orgeltreten angefordert.

Endlich am dritten Tag während der Zehnuhrpause ging die Nachricht um, die Ausreißer seien ergriffen und bereits auf dem Rücktransport. Wie sich nachher herausstellte, handelte es sich aber bloß um Kleiber und Samberger, die beiden Heimatlosen. Der kleine Elsässer hatte glücklich heimgefunden, und seine Mutter, nachdem sie ihn wieder hatte, gab ihn auch nicht mehr heraus. Es war dieselbe Frau, die der Herr Vater noch neulich abends nach der Andacht vor dem Haus so furchtbar ausgeschimpft hatte; jetzt war sie doch die Obsiegende geworden. Ich dachte die Tage viel an meine Mutter, und hatte noch einen besonderen Grund zu einem schweren Herzen. Der Zweifel ist doch das kummervollste Gefühl, mit dem wir uns herumzuschlagen haben.

Mit dem Nachmittagszug, der sonst immer die besuchenden Verwandten brachte, kamen die Ausreißer unter der Bedeckung eines Gendarmen still und müde zurück. Bis in die Nähe von Freiburg waren sie in den beiden Tagen gekommen. Sie hatten die Nacht hauptsächlich zum Wandern benutzt, aber Samberger war nicht fähig gewesen, seinen Hunger zu beherrschen, und hatte am hellen Morgen ein Dorf abgefochten. Dabei hatte er auch den Lehrer nicht geschont, und zu seinem und Kleibers Unglück war dieser Lehrer ein ehemaliger Demutter Bruder, der sofort die Anstaltsuniform erkannte. Er hielt ihn mit Kaffee und Butterbrot solange fest, bis jemand von der Ortspolizei da war, um den einen Ausreißer vorläufig in Gewahrsam zu nehmen. Als Kleiber endlich scheu wie ein Waldtier im Dorf erschien, um den Kameraden zu suchen, wurde er ebenfalls hochgenommen, und alle guten Fleppen nützten nun nichts. Eine telegraphische Anfrage in Demutt brach ihnen vollends das Genick. Am nächsten Tag fuhren sie bereits per Schub wieder der Anstalt zu, wo man sie sofort dem Herrn Vater vorführte. Der Gendarm wurde indessen in der Küche abgespeist; er tischte den Weibern ganze Räubergeschichten über die Arrestanten auf.

Der Vorführung wohnten zwei Brüder bei. Sie verlief ungewöhnlich leidenschaftlich. Der Herr Vater, schwer gereizt durch den dreifachen Ausbruch, der sich im Land herumreden mußte, und durch das wieder erschienene Zeichen an der Haustür, faßte die Ausreißer überaus scharf an. Kleiber setzte dieser Tonart einen festen, runden Trotz entgegen und weigerte alle Auskunft. Samberger, mehr dekorativen Methoden zugeneigt, wurde ausfallend, erging sich in wilden Redensarten, und vergaß sich so weit, daß er das Messer aus der Hosentasche zog, bevor ihm jemand wehren konnte, und es vor dem Herrn Vater in den eichenen Tisch hieb. Einen Augenblick war es totenstill in dem Raum, während der Herr Vater tief erbleichte und nach Fassung rang. Die Brüder waren vollends erstarrt. Dann befahl der Herr Vater, man solle die beiden auf den Boden des alten Schlosses führen und sie dort eine Nacht lang unter Bewachung halten. Vorher wurden sie nach weiteren Werkzeugen untersucht. Dabei kamen die Heimatscheine zutage. Über den Weg, der sie in deren Besitz gebracht hatte, verweigerten sie einmütig die Auskunft. Der Herr Vater ließ in den Fächern nachsehen; sie waren leer, und an Stelle der Papiere fand man die schwarzen Kreuze.

Noch am selben Abend wurde auch ich vorgeführt. In Gegenwart seiner Frau und des Herrn Johannes fragte mich der Herr Vater, ob ich die Scheine herausgenommen und den Ausreißern übergeben habe. Ich sagte unumwunden ja. Eine kurze Stille folgte dem Geständnis. »Du kannst gehen!« bemerkte er dann kurz. Herr Johannes stand mit dem Rücken gegen das große Bücherregal und sah nach mir her; die Bedeutung seines Blickes verstand ich vollauf. Ich ging aus dem Zimmer wie aus einer Grabkapelle, in der ich einen Verwandten beigesetzt hatte. Als ich die Tür von außen zuzog, war ich mir klar darüber, daß auch eine vorteilhafte Möglichkeit, die ich mir verscherzt hatte, unwiderruflich hinter mir lag. Kein Johannes konnte diesmal für mich eintreten, und inwieweit der Herr Vater den Vertrauensbruch sonst noch an mir rächen würde, mußte ich abwarten. Einen Moment horchte ich draußen dem dumpf hallenden Ton nach, den diese Tür von sich gab. Dann ging ich langsam und wieder einmal sehr vaterlos nach der Arbeitstube zurück.

»Eine nette Frucht!« bemerkte dort der Aufseher, der schon alles zu wissen schien. Ich blickte ihm kurz ins fuchsige Gesicht und setzte mich dann stumm an meinen Platz. Ich konnte nichts bereuen und nichts anders wünschen. Vorübergehend fragte ich mich, ob nicht jetzt ich zur Flucht reif geworden sei, aber ich ließ den Gedanken wieder fallen. Kleiber und Samberger hatten dies Wahrzeichen bereits abgenutzt und eine gewisse Müdigkeit hinterlassen, die erst durch lange Wochen überwunden werden mußte. Außerdem hatte ich wohl eine Mutter, aber ich wußte nicht, ob ich auch eine Heimat habe. Alle betrachteten mich natürlich als fürs Beil aufgehoben, und ich selber tat es.

Mir wurde daher sehr übel zumute, als ich abends vor dem Zubettgehen im Vorraum zum alten Estrich, der zugleich der Vorraum zu unseren Abtritten war, zwei Brüder als Wache an einem Tisch sitzen sah, mit Büchern, einer Lampe und Speisevorrat auf die ganze Nacht eingerichtet. Eine kleine Erleichterung genoß ich an der verachtenden Schadenfreude darüber, sie die ganze Nacht hindurch in dem, offen gesagt, durchdringenden Gestank sitzen zu wissen, und in meinem Herzen stimmte ich leidenschaftlich dem Bundesmitglied zu, das, als einer sich darüber ausließ, voll stiller Wut sagte: »Laß sie nur. Sie sind, wo sie hingehören!«

Einige versuchten nun durch Räuspern eine Verständigung mit den Arrestanten herbeizuführen. Sie antworteten nicht. Übrigens geboten die Brüder sofort Stille. Desto mehr wurde geräuspert, und nie wußte jemand, wer es gewesen war. Völlig aus der Fassung gebracht vor Ärger, eröffneten uns die Brüder, auf uns Lausejungen warteten genug Schrecken, um Ursache zu einem ganz zahmen Benehmen zu haben. Dinge würden diesmal mit uns gespielt werden, die wir unser Lebtage nicht vergessen würden. »Das gefällt diesen Schleichern natürlich, so zwei arme Jungen zu bewachen!« ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Ein anderer fügte hinzu: »Ein Wunder, daß sie nicht alle zwanzig vor die Tür gesetzt haben!« Und im Vorplatz unter ihren Augen mahnte sie einer: »Nur nicht zuviel Schadenfreude! Es kommen wieder andere Zeiten.« Die Brüder säuberten jetzt den Platz. Wer noch etwas zu besorgen hatte, mußte die Lokalität des dritten Saales aufsuchen.

Der alte Boden war schon bei Tag kein traulicher Aufenthalt. Grobes, anderthalb Meter dickes Mauerwerk und ungeheure, altersschwarze Dachbalken, halb vermorschte schwere Dielen, Kamine, Löcher, Rattennester und ein beinahe unaufhörliches Weinen und Klagen des Windes in den vielen Verfängen: das war seine Physiognomie. Keiner war unter uns, der es nachts gewagt hätte, ihn zu betreten; manche fürchteten sich schon, allein nach den Abtritten zu gehen, und standen lieber am anderen Morgen an der Wand. Da der Dachstuhl nach alter Manier nur auf das Mauerwerk aufgesetzt war – man konnte zwischen den Balken hindurch und über den Mauerrand weg in den Hof hinunter sehen –, herrschte stets ein unleidlicher Durchzug auf dem Boden, der in Regennächten wie der gegenwärtigen mit allen Geräuschen und dem Tropfenfall durch zerbrochene Ziegel hindurch geradezu zur Marter werden mußte. Mit Verwünschungen gegen die Anstaltsleitung legten sich heute die meisten von uns zu Bett, und lange dauerte es, bis es still wurde.

Um mich hatte man den ganzen Abend einen halb verlegenen, halb achtungsvollen Bogen gemacht. Ich merkte, daß ich eine große Person war, tat mir aber nichts darauf zugute. Auch diese Nacht schlief ich tief und traumlos durch. Dem nächsten Tag sah ich ergeben und vollkommen gefaßt entgegen. Alles war dazu bestimmt, vorbei zu gehen, und auch die zwei Jahre, die ich noch voraus hatte, mußten einmal ein Ende nehmen.

Selbstüberwindung

Die beiden Sträflinge fehlten beim Morgenessen und in der Andacht, dagegen erschienen sie nach derselben als die Hauptpersonen, von ihren Wächtern vorgeführt, in der anschließenden Gerichtshandlung. Die ganze Hausgemeinde blieb feierlich versammelt. Die Feststellung des Tatbestandes durch den Herrn Vater eröffnete das Verfahren. Man hörte jetzt, daß sie nicht bloß ausgerissen waren, sondern unterwegs auch gebettelt und sogar Lebensmittel gestohlen hatten. Schwer herausgefordert und erbittert wandte sich der Herr Vater dann wieder den Geheimzeichen zu. Er glaubte jetzt den Bund körperlich in der Hand zu haben – eben in der Gestalt dieser beiden armen Sünder – , und er war nicht der Mann, locker zu lassen, bevor Herzblut floß. Die Kreuze an der Tür und die Kreuze in den Fächern an Stelle der entwendeten Papiere – hier horchte Kleiber flüchtig auf – bewiesen deutlich, daß diesmal eine gemeinsame Verabredung und daher eine gemeinsame Verantwortung vorliege. Er werde sich heute nicht erst aufs Zureden einlassen; das habe er nicht mehr nötig. Er werde jetzt solange dahin schlagen, wo er gefaßt habe, bis er den gewissen Schrei höre, auf den er seit Monaten und Jahren warte. Möge jeder, der hieran sonst beteiligt sei, mit sich schlüssig werden. Der Tag der Buße sei herangekommen. Er diktierte für den Anfang jedem fünfzehn Hiebe.

»Hinlegen!« befahl er dem Samberger. Bleich und angegriffen gehorchte der großmäulige Bursche. Nach dem ersten Hieb begann er zu stöhnen, nach dem fünften heulte er. Dabei blieb er bis zum Schluß. Tränenüberströmt und mit rotem, aufgedunsenem Gesicht wankte er vom Stuhl weg und stand dann, sich das Gesäß reibend, ratlos herum. Preller wartete mit dem Meerrohr in der Hand auf Kleiber.

»Hast du mir etwas zu sagen?« fragte der Herr Vater den Samberger.

Samberger setzte sich nach dem Katheder zu in Bewegung, alles in einer gewissen Besinnungslosigkeit, erstieg die Stufen und warf sich formlos mit Arm und Kopf über die Bibel, die dort lag.

»Es tut mir leid«, heulte er wie ein großer Hund. »Ich werde mich ganz gewiß bessern. Und ich – danke für die Strafe!«

So hatte ihn die Nacht auf dem Boden mürb gemacht. Eine Stille folgte.

»Und die Geheimzeichen?« fragte der Herr Vater.

.»Von den Geheimzeichen weiß ich nichts!« jammerte Samberger. »Wahrhaftigen Gott, Herr Vater!« beteuerte er, während er das tränennasse Gesicht vom Arm hob. »Die Zeichen haben wir nicht gemacht!«

»Stell dich dort hin!« Der Herr Vater blickte kalt und unbewegt. »Leg dich über, Kleiber.«

Auch Kleiber war blaß, aber gefaßt, und an sich haltend, legte er sich über den Stuhl. Regungslos und ohne einen Laut empfing er seine fünfzehn Hiebe. Als Preller fertig war, stand er auf und trat finster beiseite. Der Herr Vater wartete ein bißchen.

»Hast du mir nichts zu sagen, Kleiber?« fragte er darauf mit einem Warnen in der Stimme, das kaum einer von uns überhört hätte. Kleiber blieb stumm. »Noch zehn Hiebe!« befahl der Herr Vater.

Nach kurzem Zaudern begab sich Kleiber zum Stuhl zurück und legte sich wieder über. Preller gab nun sein Bestes her. Wer von uns vorn saß, konnte sehen, wie sich auf Kleibers dünner Sommerhose dunkle Flecken zu verbreiten anfingen; das war Blut. Auch diese Hiebe nahm er stumm und verbissen entgegen, und so aufrecht, wie es ihm immer möglich war, stellte er sich nachher wieder seitwärts. Aber sein Gesicht war sehr hochrot, und seine Lippen bebten.

Der Herr Vater wartete wieder. Immer mehr wich ihm das Blut aus dem Gesicht; seine Lippen waren schon ganz fahl. Und dann befiel ihn, wie oft in Momenten höchster Erregung, ein nervöses Schlucken. Ich hatte es schon viel an mir selber hervorzubringen versucht, um dahinter zu kommen, was es bedeutete. Er zuckte zusammen wie unter unsichtbaren Stößen, die ihn zu einem kurzen, erbosten Jauchzen veranlaßten. Ich kann es nicht anders bezeichnen. Dabei war ich mir klar darüber, daß es in diesem Moment eine aufreizende Verdrießlichkeit, wenn nicht eine Qual für ihn bedeutete, die ihn noch mehr stachelte. Unwillkürlich begann ich zu zittern. Er sah schon wieder so unermeßlich mit sich und uns zerfallen aus, daß ich mich auf noch schrecklichere Dinge gefaßt machte.

»Noch sechs!« stieß er hervor. Seine Stimme schwankte. In seine Gestalt kam eine schwere Unruhe, die er vielleicht bloß bändigte, weil er nicht aufspringen und erregt hin und her laufen konnte. Sein Schlucken wurde heftiger.

Aber auch unter uns entstand nun eine Bewegung, während Kleiber wieder und diesmal länger zögerte. Es wurde gemurrt und gestöhnt: »Der Schuft!« Einige Mädchen weinten laut auf. Als Kleiber sich eben in Bewegung setzen wollte, sprang Herr Ruprecht von seinem Stuhl. »Das geht nicht, Vater!« rief er erregt. »Der Junge blutet schon!« Wie um ihren Beistand zu fordern, sah er nach der Gegend, wo seine Mutter saß, aber es rührte sich dort nichts. Doch begriffen wir alle: es war eine große Tat, ein Wagnis für den eigenen Sohn sogar. Einen Moment war es wieder still.

»Warum weint denn der Junge nicht?« schrie plötzlich der Herr Vater laut auf. »Fünfundzwanzig Hiebe und kein Ton, das war noch nie da!«

Niemand antwortete. Herr Ruprecht setzte sich und stützte ratlos die Stirn in die Hand. Immer mehr Mädchen weinten. Ich begriff, daß sie auch zum Teil aus Mitleid mit dem Herrn Vater weinten. Der wandte sich nach einem stoßenden Grübeln wieder an Kleiber.

»Ich erlasse dir die dritten Hiebe, wenn du jetzt bekennst, daß ihr die Kreuze an der Haustür gemacht habt«, kündigte er ihm an. »Im andern Fall« – in seinen halb blinden Augen erschien jenes eisig-glühende Glimmen, das wir so sehr fürchteten – »wird mich kein Blut abhalten, deine Seele zu befreien. Rede also!«

Plötzlich zuckte es in seinen Augenbrauen. Eine erbitterte Spannung riß sie zusammen. Er schloß die Augen. Ich kannte diese Miene nachgerade an ihm; sie kündigte einen Migräneanfall an. Es wurde totenstill. Auch das Weinen verstummte. Man hätte nun eine Nadel zur Erde fallen hören. In diese Stille sagte Kleiber endlich widerwillig und mit Anstrengung: »Wir – haben die Kreuze gemacht!«

Der alte Mann atmete hörbar auf. Mit übermenschlicher Anstrengung, während Samberger dem Kleiber einen jähen Blick zuwandte – auch uns saß der Schreck in den Gliedern wegen dieses Geständnisses –, brachte er die Sätze hervor: »Endlich – regt sich Gott wieder in dir. – Komm näher her. Du sollst nicht – aus Furcht sprechen, sondern aus Liebe. – Will ich vielleicht Geständnisse? Eure Seele will ich, die in diesen Kreuzen und Sternen sich verbarrikadiert. – Sprich weiter, Kind. Warum habt ihr diese Kreuze an die Tür gemalt? – Willst du mir's nicht sagen?«

Die Luft war nun ganz bewegt von seiner gewaltigen Werbung und von seinem leidenschaftlichen Atem. Rote Flecke erschienen vor Eifer auf seinen Wangen. Das war ja das Furchtbare, daß er bei allem, was er uns auferlegte, niemals unbeteiligt blieb, ja, daß er im Leiden stets der vorderste war! Kleiber wandte finster den Blick von ihm.

»Nein«, sagte er kurz und feindlich.

»Ich werde euch solange einsperren und schlagen lassen, bis es heraus ist!« herrschte ihn der Herr Vater enttäuscht an. Dazu sagte er nichts. Überlegend brütete der gichtbrüchige Mann vor sich hin. »Führt sie wieder auf den Estrich!« befahl er endlich. »Zu essen erhalten sie nichts. Gebt ihnen Wasser. – Und die Bibel!« fügte er noch hinzu.

Damit war diese Sitzung aufgehoben. Die beiden Brüder kamen und trugen den Herrn Vater weg. Er saß tief in sich zusammengesunken auf dem Tragsessel und sah niemand mehr an. Nach ihm führten zwei andere Brüder die Ausreißer ab. Wir begaben uns nach unseren Arbeitstätten.

Dieser Tag und die folgende Nacht vergingen wie ihre Vorläufer; die Ausreißer verbrachten sie auf dem alten Estrich ohne Essen und nur mit sich selber als Gesellschaft, unausgesetzt von zwei Brüdern bewacht, die dort im Gestank beteten, schrieben, rechneten, aßen und abwechselnd auf ihren Stühlen schliefen. Uns schmeckte während der vierundzwanzig Stunden kein Essen und kein Spiel. Am kommenden Morgen stand eine neue Ausprügelung bevor, wenn nichts von unserer Seite geschah, um das Geheimnis preiszugeben. Aber mochten sie doch sprechen! Niemand von uns würde es ihnen verdenken. Was freilich werden sollte, wenn sie es nicht taten, war uns ganz unklar. Das Wahrscheinliche war die Besserungsanstalt.

Der Morgen kam. Diesmal wurden die Sünder schon zur Andacht vorgeführt. Sie standen neben dem Katheder im Angesicht der Hausgemeinde Schulter an Schulter mit finsteren und blassen Gesichtern. Wir warteten auf das Erscheinen des Herrn Vaters. Die Minuten vergingen und wurden zu einer Viertelstunde; der Herr Vater kam nicht. Schon dachten wir, wir sollten durch Warten mürbe gemacht werden, als die Tür aufging und er hereingetragen wurde. Er sah verfallen und krank aus. Die Augen lagen ihm tief in den Höhlen. Mit einem leidvoll glimmenden Blick streifte er die beiden Ausreißer. Ich hatte die erschütternde Vorstellung: eine Ruine wird hier hereingetragen.

Die Andacht nahm ihren Beginn wie immer. Da sie später angefangen hatte, fiel das Orgelspiel aus, aber das Gebet war lang und drangvoll unruhig, und im Betrachtungsteil nahm er keinen Bezug auf den gelesenen Text, sondern redete von anderen Dingen, die seinem stolzen, geschlagenen Herzen näher lagen. Überraschend wandte er sich dann an die beiden Sünder. Zuerst eiferte er noch einmal hitzig auf sie ein, aber dann begann er ihnen zuzureden, so männlich und beinahe kameradschaftlich, so unverhüllt seine Wunden zeigend von Seele zu Seele, daß er heute noch einmal einen Sieg feiern konnte.

»Sieh mal, Kleiber«, sagte er, »du hast mich geschlagen durch deine Flucht, einen siechen, alten Menschen, hast mir das Kreuz an die Tür gemalt, hast mir deinen Fluch hinterlassen, ohne zu fragen, ob ich die Kraft haben werde, ihn zu tragen. Gut. Ich habe dich fangen lassen und habe dich wieder geschlagen, habe auch dich leiden gemacht. – Aber du hast ein langes Leben vor dir, das meine zählt noch nach Jahren. Es steht uns also nicht zu, uns miteinander zu messen. Danke deinem Schöpfer für deine Jugend und deine Kraft, und mir gib, was mir gehört. Ich muß es haben, Kind. Ich kann nicht meine Rechte aufgeben. – Tritt hierher, damit ich dich sehen kann. So. – Schau mich an, wie Gott mit mir verfahren ist, und füge mir keinen neuen Schmerz zu. Sage nur ja oder nein. Habt ihr einen Bund gegen mich oder nicht?«

Die Stunde und der Raum, die Herzen und Sinne waren nun wieder schwer von dem starken Duft dieser eifervollen und leidenssüchtigen Persönlichkeit. Wenn er den Menschen in uns ansprach, den Schicksalsgenossen auf diesem wechselvollen Stern, hatte er immer Erfolg. Es gehörte eine Ochsenstirn dazu, ihm auch jetzt zu widerstehen. Kleiber kämpfte. Eine Bewegung durchlief ihn. Leicht fiel es ihm auch jetzt nicht.

»Wir – haben einen Geheimbund!« gab er zu. Er sah fest und bedeutsam – zum erstenmal im Verlauf dieses Prozesses – zu uns hin. Er sagte nicht: »Wir hatten!« Er sagte mit deutlicher Unnachgiebigkeit: »Wir haben!« Das wurde auch richtig verstanden. Der Herr Vater senkte nachdenkend den Kopf. Kleiber hatte uns und unsere Sache vor der Lächerlichkeit gerettet. Es war kein kleiner Moment.

»Und die Zeichen –? Haben sie die Bedeutung, die ich ihnen unterlege?«

Auch das gab Kleiber zu.

»Wirst du eure Helfershelfer angeben?«

»Nein!«

»Einen weiß ich bestimmt!« ermahnte der Herr Vater. Kleiber schwieg. Ich zitterte leise.

Der Herr Vater überlegte wieder.

»Es wird natürlich keinen Zweck haben, daß ich den Bund verbiete«, sah er voraus. »Das heißt, wenn ich wollte, so könnte ich. Aber ich will nicht. Ich will es jetzt einmal anders mit euch probieren. – Aber die Befassung der übrigen Hausgemeinde mit euren Zeichen hat jetzt vielleicht ein Ende«, riet er an. »Habt schließlich soviel Bünde, wie ihr wollt. Nur mengt nicht Leute hinein, die älter und erfahrener sind als ihr. Dabei zieht ihr doch immer den kürzeren; das habt ihr jetzt wieder zu eurem Leidwesen erfahren müssen.« Beinahe etwas wie Spott mischte sich dabei in seine Stimme. »Geht jetzt an eure Plätze. Macht die nächste Zeit nicht mehr von euch reden. Und so Gott mit euch.«

Wir hatten geglaubt, einen Sieg in Händen zu haben. Plötzlich war es allen klar, daß er der Sieger war, weil er sich selbst überwunden hatte. Wir waren sehr betroffen. Mit der entwichenen Spannung hinterblieb uns eine gewisse Enttäuschung. Ruhig und etwas geschäftsmäßig, weil die Gedanken nun anderswo waren, ging die Andacht zu Ende. Dann nahm uns der gewohnte Tageslauf wieder auf.

Wer noch eine besondere Auseinandersetzung des Herrn Vaters mit mir erwartete, der irrte sich. Ich war von da an nicht anders für ihn vorhanden als die übrigen, und das ist eine Stärke und Entsagungskraft, die ich nie verkannt habe. Zum Schreiben wurde ich nicht wieder gerufen, aber auch kein anderer versah diesen Dienst. Dagegen bekam ich bald darauf die Versetzung zum Schuhputzen. Es war ein Strafposten und die niedrigste Arbeit, zu der man kommandiert werden konnte.

Der Bund trat nun in eine neue Entwicklung. Es zeigte sich, daß es eine Entwicklung zum Zerfall war als direkte Folge jener Haltung, die der Herr Vater schließlich zu ihm einnahm. Geistig war er uns in jedem Fall überlegen. Vor allem gewannen nun die unter uns die Oberhand, denen die mystischen Einschläge darin unbequem geworden waren. Die Bluttaufe wurde abgeschafft, das Geheimnis aufgehoben und der Bund setzte sich ab, gerann in einen orthodoxen Kern und einen liberalen, charakterlosen Hof. Ich blieb mit Kleiber und wenigen andern im Kern. Auch die Symbole griff man an. Seit jener Predigt des Herrn Vaters war das verschränkte Dreieck ohnehin als Judenstern in Verruf gekommen; nach vielen und leidenschaftlichen Debatten einigte man sich noch glimpflich auf meinen Vorschlag, vielleicht bloß die Innenbalken wegzulassen; der Judenvorwurf war mir auch nicht recht. Künftig sah der Stern unverfänglich so aus: ?. Aber man kann aus einem Kultus nicht Bestandteile herausbrechen, ohne ihn eben um seinen Inhalt zu bringen.

Allein auch der Herr Vater mußte für seinen letzten Sieg bezahlen. Von dieser Zeit begann sein eigener Zerfall sichtbarer zu werden.


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