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Erstes Buch

Erstes Kapitel
Das Elternhaus

Vom Erwachen

Unser bewußtes Leben scheint zwischen dem dritten und vierten Altersjahr zu beginnen. Es soll einzelne geben, die ihre Erinnerungen bis ins zweite zurückverfolgen können; das scheinen jedoch Ausnahmen zu sein, und es ist fraglich, ob wir hier nicht überhaupt Selbsteinbildung vor uns haben. Unsere Erinnerungen sind aufgeschlagene Augenblicke der Seele, Erlebnisse, die wie Sternschnuppen aus der Urnacht der Unbewußtheit aufleuchten, um wieder darein zu versinken; was dann gerade vorhanden ist, wird beleuchtet und erkannt. Ich weiß sicher, daß diese Augenblicke bei mir von einer starken Empfindung des Staunens begleitet waren, nicht sowohl wegen des Erlebnisses an sich, das keineswegs immer außerordentlich war, als wegen der Tatsache meines bewußten Daseins über einem Meer von Dunkel und Schweigen, das ich unter mir fühlte. Die ersten Erlebnisse liegen zeitlich noch weit auseinander; dann verkleinern sich die Abstände, und endlich kommt die Seele dazu, eine ununterbrochene Kette des Bewußtseins herzustellen. Ich denke mir, alle frühen Erlebnisse sind Anreize von außen, auf die die Seele mit Erwachen antwortet; später sucht sie das Erwachen aus eigenem Antrieb, oder richtiger: sie sucht den Reiz desselben, der unendlich süß ist, während das vollzogene Wachen von Anfang an den Charakter des Konflikts, seinen doppelsinnigen Wert offenbart, und daher von Leiden, Angst und Sehnen begleitet ist. Trotzdem strebt das Individuum nach dem ständigen Zustand des Wachens, weil es darin Aussichten auf Macht und Genuß vermutet. Was das Leiden angeht, so hegt die Seele von Anfang an die Hoffnung, es umgehen zu können, und bei den meisten stellt sich nie eine Vertrautheit damit ein; wenige dringen zur Bejahung durch. So werden wir unaufhaltsam ins Leben, das heißt ins Leiden, gelockt, und wer es darin hoch bringt, hat am Ende weniger getan und erreicht, als Not ausgestanden und den Tod begütigt.

Geboren bin ich, Johannes Schattenhold, im dunkelsten Monat des Jahres – am 14. November 1875 – in Basel, und zwar in derselben Straße, in der auch J. P. Hebel das unbeständige Licht dieser Welt erblickt hat, er als der Sohn von zwei kleinen Leuten, die einem malenden Basler Patrizier als Taglöhner dienten, ich als erstes Kind eines Gärtners, der ebenfalls bei einem Basler Patrizier angestellt war. Meinen Antrittschrei tat ich im Spital. Damals mochte mein Vater dreiunddreißig, und meine Mutter gegen sechsundzwanzig alt sein. Mein schlafendes Leben wurde zum erstenmal geweckt von einem Hagelwetter, das über die Gegend niederging. Ich sah aus dem Fenster der Wohnstube, wie die Schloßen niedersausten, das grüne Laub von den Bäumen sank, unreifes Obst zur Erde fiel und das Gemüse zerhackt liegenblieb. In der Stube war es dunkel; draußen herrschte ein kaltes, sehr fremdes Zwielicht, durch das mein Vater den Gartenweg hinauflief, um die Rolläden über die schrägen Fenster des Treibhauses herunterzulassen; er hatte zum Schutz gegen die Schloßen die Jacke über den Kopf gezogen. Meine Mutter schlug auf der anderen Seite des Hauses die Läden zu. Später trat sie in das Zimmer, in dem ich mich aufhielt, aber ich drehte mich nicht nach ihr um; sie bekümmerte sich auch nicht um mich, und ich kann nicht sagen, was sie tat. Meine Stimmung war sehr ernst und aufmerksam, und eine tiefe, furchtbewegte, ehrfürchtige Andacht erfüllte mich gegenüber der Erscheinung, die ich später als die Natur kennenlernte und als das Geschick, das uns darin beschieden ist. Als das Unwetter vorbei war, durfte ich hinaus. Der Hagel bedeckte handhoch alle Wege und Beete. Dazwischen lagen abgeschlagene Zweige und kleine Äste, auch tote Vögel fand ich. In einiger Entfernung sah ich meinen Vater langsam die Gartenbreite durchschreiten, aber ich wagte mich nicht zu ihm, weil mir seine Haltung die Vermutung eingab, daß er sehr traurig sei. In diesem Moment verehrte ich auch ihn tief und voll unaussprechlichen Verständnisses. Ich sah ihm nach, bis er hinter Büschen und Bäumen verschwunden war; dann dachte ich an die Mutter, die ich im Haus wußte, und ich hatte die Regung, mit diesem Gefühl zu ihr zu gehen; doch gehorchte ich ihm nicht, sondern setzte meinen einsamen Umgang ganz im Geist des Vaters durch den zerstörten Garten fort. Damals mochte ich etwa drei Jahre alt sein.

Meine Mutter »sah« ich auf diese Weise zum erstenmal, als sie vor dem Haus auf dem Pflaster kniete und mit einem alten Messer das Unkraut zwischen den Steinen heraus jätete. Sie hatte eine blaue Schürze an; die Sonne schien ihr auf den schwarzen Scheitel, und ich wußte, daß sie ihre Arbeit ungern tat und unmutig war; sie hatte vorher einen Wortwechsel darum mit dem Vater gehabt. Meine sozusagen moralischen Dimensionen waren bisher einfach Länge und Breite gewesen – die Eltern und ich –; der kleine Auftritt nahm darin die erste Teilung vor, spaltete das Elternpaar in Vater und Mutter – Länge und Tiefe –, durch welche letztere mir der Blick in die dritte Dimension von Gut und Böse eröffnet wurde, der mir das Sein zum Dasein machte. Ich begriff ahnungsweise unter der frühesten Beunruhigung, deren ich mich erinnere, daß es auch wegstrebende und selbst widerstrebende Richtungen im Leben gibt, und die Mutter sah ich fortan unweigerlich in diesem Verhältnis. Das mag manchen wundern, aber auch das ist Begabung, und außerdem wird nach dem ersten Erlebnis dieser Art immer wieder etwas geschehen sein, was mich daran erinnerte und mich in dieser Anschauung bestärkte.

Eine sehr frühe Erinnerung sind die Sperlinge, die im Obergeschoß unseres Häuschens nisteten, einem Heuboden, der nach außen mit Holz verschlagen und sehr angenehm rot gestrichen war; in den Zwischenräumen zwischen den Brettern, die man für die Atmung des Heus gelassen hatte, hingen lebendig und unordentlich die Nester dieser Zigeunerbande an den Tag heraus. Doch waren sie mir nicht durch ihre augenfällige Erscheinung merkwürdig – ich kann mich nicht darauf besinnen, einen einzigen bemerkt zu haben –, sondern sie fielen mir auf durch eine bestimmte Art von Lärm, den sie jeden Sommermorgen anstimmten, während ich noch im Bett lag. Es war ein schetterndes Geschrei, so eigentümlich gefärbt und so verschieden von dem sonstigen nichtsnutzigen Spektakel der unermüdlichen Schreier, daß ich es den Wirkungen der besonderen Räumlichkeit zuschrieb, worin es vor sich ging, zumal ich ihm auch sonst nirgends begegnete. Der Umstand gab mir zu denken, erfüllte mir viele Morgenstunden mit akustischen Vorstellungen, und erregte meine Raumphantasie. Erst viel später kam ich darüber, daß die Spatzen immer dies geborstene Gezeter hören lassen, wenn eine Katze um den Weg ist.

Eine Katze findet sich tatsächlich in meinen ersten Erlebnissen; sie ist der Anlaß, daß ich, kaum zum Leben erwacht, auch schon zum erstenmal mit jener dunklen Gewalt, die wir Tod nennen, bekannt wurde. In einem räumlichen, aufrechtstehenden und offenen Faß, bei uns Stande genannt, hatte mein Vater Teer angesetzt, mit dem er den Gartenzaun nachstrich; auch die Spitzen von Baumpfählen tränkte er damit, ehe er sie in die Erde trieb. Das Faß stand im Winkel beim Treibhaus, wo es still war, und wo die Sonne zwischen dem Bretterzaun und der Treibhausmauer immer sommertags einen Backofen einrichtete. Ich liebte den Platz, weil dort allerlei vor sich ging. Am Zaun unter dem Laub der Spalierbirnen liefen die flinken heimlichen Spinnen auf und ab. Auf den Fenstern des Treibhauses brannte und zitterte die Sonne. Über den Kies huschten Eidechsen, blieben wie plötzlich erstarrt mit erhobenen Köpfen stehen, und fingen ebenso plötzlich wieder an zu laufen. Auch unsere Katze fand sich dort jeden Mittag, wenn es nicht regnete, ein, um nach ihren vormittäglichen Unternehmungen auf den Nachbarfeldern sich zu putzen, und dann eine Stunde zu schlafen, und zwar auf den Brettern, mit denen das Faß für gewöhnlich zugedeckt war. Nun paßte wohl eines Tages ein Brett nicht genau, so daß die Katze, als sie vom Zaun herabsprang, in den Teer stürzte. Das Faß war nur halbvoll und oben enger als in der Mitte, der Teer zähe, schwer und klebrig, und die Folge aller Umstünde, daß man das Tier zuerst einige Tage vermißte, und es der Vater endlich ertrunken und triefend aus dem Faß zog. Ich stand dabei, als es geschah, und der Anblick wirkte wahrhaft bestürzend auf mich. Ich hatte zwar die toten Vogel nach dem Hagel gesehen, aber einmal glaubte ich natürlich bei meinem ersten Erwachen von allem, was ich dabei vorfand, es müsse so sein, und dann waren es dort auch ganz anders geartete Kreaturen gewesen, die in der Luft lebten, Schnäbel und Federn hatten und mit mir nicht in Berührung kamen. Ich unterschied lange zwischen Tieren und Vögeln. Hier handelte es sich um einen Hausgenossen und um ein Säugetier, von dessen Ähnlichkeiten mit meiner Grundlage ich doch schon genug begriffen hatte, um mich über die Tatsache seines Untergangs zu entsetzen, ich fühlte traumhaft solidarisch das Schicksal der Kreatur in mir selber. Mein Vater begrub den Kadaver im Kompost; ich sah dem Vorgang mit Atembeklemmung zu und war auf lange Zeit hinaus nicht dazu zu bewegen, meinen Weg zum Treibhaus dort vorbei zu nehmen. Ich empfand auch eine lebhafte Beunruhigung des Widerspruchs darüber, daß meine Mutter sich über mein Grauen tadelnd ausließ; im Grund fürchtete ich mich ja nicht so sehr vor der Leiche der Katze als vor meiner eigenen, die ich irgendwie prophetisch voraussah.

Östlich von dem Gut, in dem mein Vater als herrschaftlicher Gärtner angestellt war, führte in großer Nähe eine Eisenbahnlinie vorbei, und zwar die badische von Basel nach Konstanz, sowie die Verbindungsbahn zwischen dem deutschen rechtsrheinischen und dem schweizerischen linksrheinischen Bahnhof; auch die Wiesentalbahn ging dort durch. Jetzt ist alles ganz anders. Im hinteren Teil des Gartens lag ein kleiner Hügel, von dem aus ich die Züge fahren sehen konnte. Von allen meinen einsamen Erlebnissen waren die mit der Eisenbahn die phantasievollsten und tiefstgreifenden, und die Erinnerungen daran füllen noch jetzt manchmal meine Nächte. Es kam vor, daß ganz neue Lokomotiven ohne Dampf und ohne Treibstangen vorbeikamen; sie fuhren glänzend und kühl zwischen Personen- oder Güterwagen eingestellt, und schienen mir unendlich schön, vornehm, spannend und geheimnisvoll. In den Führerständen war noch kein Fensterglas; die Tender waren leer und leicht, und die Maschinen sahen überhaupt aus, als ob sie aus einer anderen Welt kämen. Die waren mir nun in gewisser Weise das Gegenteil des Todes: Zukunft, Verheißung, Ferne. Sie erregten mich bis in die unbekanntesten Gründe meiner jungen Seele, weckten alle Sehnsucht nach dem Angesehenen und Unerhörten in mir und bildeten in meinem Kopf seufzend köstliche Träume, mit denen ganze Jahre meines Lebens beschenkt sind. Silberne und goldene Lokomotiven von den sagenhaftesten Formen, mit lachend seligen Konstruktionen und ganz hinreißenden Geschwindigkeiten donnerten dann mit dem Klang von Glocken und mit himmlischem Leuchten und Blitzen durch erschütternd liebliche Landschaften, und nichts anderes, kein Ruhm und keine Liebe, hat mir bis jetzt jenes vollkommene Gefühl von Glück, metaphysischer Befriedigung und irdischer Erlöstheit gegeben, wie der Anblick jener wundersamen Wesen, die die Nächte meiner ersten Jugend bevölkerten.

Ich glaube überhaupt beobachtet zu haben, daß das Schicksal den Menschen, die durch Schwermut, Ungenügsamkeit oder Sehnsucht gehindert sind, ein vollkommenes Wirklichkeitsglück zu genießen, im Traum einen tröstenden und überlegenen Ersatz gegeben hat. Auch ich habe, wie eine große Anzahl von Menschen, meine feststehenden und immer wiederkehrenden Grundträume, die aus meiner fernsten Kindheit mit meinem Leben heraufgekommen sind. Außer dem Lokomotivtraum habe ich das nächtliche Sehnsuchtsglück, durch eine wunderherrliche und meinen Wünschen vollkommen angemessene Landschaft zu gehen, und zwar ist es seit Jahrzehnten immer dieselbe heitere, heroisch gütige und bedeutsame Landschaft. Dann habe ich noch zwei Alpträume. Schon tausendmal habe ich denselben alten Turm bestiegen und war gezwungen, mich durch dieselben engen und niederen Gänge unter Atemnot und Furcht hindurchzuwinden, und ebenso oft wurde ich von denselben Tieren gequält, ohne mich durch Fliegen vollkommen retten zu können. Es sind immer Kamele, und ich habe daher eine tiefe Abneigung gegen sie; in zoologischen Gärten machte ich lange einen Bogen um ihre Käfige, bis mich die hohe Schwermut ihres Blickes überwand. Es ist, als ob auch sie etwas von ihrem Schicksal wüßten. Mit den zunehmenden Jahren werden die Alpträume seltener und die Glücksträume häufiger.

In dasselbe Gebiet, das sich unserer Aufsicht entzieht, gehört meine physische Abneigung gegen Maiskolben, die niemand gelten ließ; ich konnte keine Maisfrucht sehen, ohne daß mich bei ihrem Anblick eine Empfindung des Widerstrebens und eine leichte Unruhe und körperliche Übelkeit befielen. Heute habe ich nur noch die Erinnerung an jene Zustände, und die Frucht selber genieße ich nicht ungerne, aber mit leichter Überwindung und einem leisen Gefühl von Untreue gegen eine frühe Warnung.

Früh hatte ich einen Blick für Seltsamkeiten. Eine Zeitlang lauerte ich allen Männern beim Gehen auf. Wenn die Hosenbeine während des Schreitens unterhalb des Sitzes bald links, bald rechts ihre Falte warfen, so sah ich dort immer eine Fratze, die abwechselnd nach den Seiten hinaus den Mund verzog. Ich nahm an, daß das bei mir auch so sei, und war es sehr zufrieden.

Eines Tages überraschte mich meine Mutter bei meiner ersten »unanständigen« Zeichnung; ich hatte einen Mann dargestellt, der die schwere Notdurft verrichtet, und erfuhr zum erstenmal in meinem Leben, daß Dinge, die mich ganz ehrlich und aufrichtig beschäftigten, verpönt sein können. Der Ton, in dem mir dergleichen Zeichnungen verboten wurden, machte mich aber stutzig; ich spürte, daß ich selbstverständlicher war als die Macht, die mir entgegentrat. Mir war die Zeichnung ja ein ernst empfundenes Symbol der menschlichen Gemeinsamkeit, und sicher hatte ich den ganzen verfügbaren philosophischen Tiefsinn hineingelegt. Die Verleugnung der Gemeinsamkeit durch die Mutter diente nur dazu, mir diese problematischer zu machen. Ich selber war niemals zu korrigieren.

Einleuchtender schien mir der Vater, als ich einmal in den Stall kam, gleich nachdem die Kuh geworfen hatte. Das junge Geschöpf stand mit dickem Kopf und überlangen Beinen unter der Mutter, feucht und ganz benommen von seiner geheimnisvollen Reise, und begriff offensichtlich noch gar nichts. Getrunken hatte es auch noch nicht. An der Kuh bemerkte ich die Spuren des Ereignisses, das es in unsere Gesellschaft gebracht hatte. Auf meine Frage besann sich der Vater einen Augenblick. Dann erklärte er mir mit dem freundlich-ernsten Gesicht, das er immer hatte, wenn er mir etwas auslegen mußte, daß in der Kuh eine Art von Blume, wie eine Tulpe, aber aus ganz anderem Stoff, entstanden sei, und eigentlich sei es auch keine Blume gewesen, aber man könne es nicht anders nennen. In dieser Blume sei das Kälbchen gewachsen, ob ich nicht gesehen habe, wie schwer das Tier in der letzten Zeit geworden sei? Nun, und dann sei die Blume aufgegangen, und das Kälbchen auf die Welt gekommen. Die Kuh selber sei sehr krank gewesen, aber nun gehe es ihr schon wieder gut. Sie drehte den Kopf nach mir und sah mich mit einem warmglänzenden Blick an, der mir großen Eindruck machte; es war, als wollte sie mir alles bestätigen. Ich hatte sie lange Zeit ganz besonders lieb und verehrte sie auf eine natürliche und mir selber wohltuende Weise; gegenüber dem Kalb fühlte ich mehr vetterlich. Als es jedoch wie die erwachsenen Kühe saufen lernen sollte, erregte mein Vater meine uneingeschränkte Bewunderung für sich. Eines Tages nämlich erschien er mit einem Kübel im Stall, in welchem ein Gemisch von Milch, Wasser und einem Krüsch genannten Mehl (Kleie) schwamm; das sollte das junge Tier trinken. Es trank aber nicht. Da streifte der Vater den Ärmel hoch und tauchte die rechte Hand so in die Flüssigkeit, daß die Finger nach oben standen, kaum fühlte es die Finger, so zog es sie ins Maul und begann mit großem Eifer zu trinken.

Erste Bekanntschaften

Jeden Abend um sechs Uhr, wenn der Vater molk, erschienen zwei kleine Mädchen an der Stalltür, um ihr Glas kuhwarme Milch zu bekommen. Das eine davon habe ich in der Erinnerung als ein brünettes junges Fräulein, schon sehr wohlgezogen, wert- und bedeutungsvollen Wesens, und mit Sommersprossen auf der Nase, das andere als einen lustigen kleinen Irrwisch von knabenhaftem Temperament, mit dem ich bald sympathisierte. Die Mädchen waren die Herrschaftstöchter. Ihre Eltern kannte ich erst ganz sagenhaft als den Hauptpfarrer von St. Theodor und seine Gattin, die mir eine pompöse, vornehme und unangreifbare Stellung zu haben schien; ich betrachtete sie nie anders als mit Mißtrauen und ging ihr gern aus dem Weg, wenn noch Zeit dazu war. Der Pfarrherr war ein Mann von stadtbekannter Häßlichkeit; es kam vor, daß ihm die Gassenbuben deshalb nachliefen. Ich selber fand ihn nicht häßlich; ich erfuhr erst viel später, daß man ein solches Aussehen Häßlichkeit nennt. Häßlich war für mich, was mit Entartung, Verkommenheit und Dummheit zusammenhing. Doch sollen kleine Kinder geschrien haben, wenn er sich ihnen näherte. Er hatte ein blasses, faltiges Gesicht mit einem schwarzen, nun schon graumelierten Rundbart, der ihm unter dem Kinn heraus wuchs; dazu trug er eine schwarzgefaßte Brille, die ihn allen abergläubischen Menschen noch unheimlicher machte. Es sahen aber ein paar sehr hübsche und gütige Augen ein bißchen traurig dahinter hervor. Stets zeigte sein Gesicht einen unwandelbaren, tiefen Ernst; übrigens ging er nie anders aus als im Zylinder.

Es war auch ein Sohn aus dieser Ehe vorhanden, und der schien mir auf der höchsten erreichbaren Stufe von männlicher Schönheit und Ruhmwürdigkeit zu stehen. Er studierte zu jener Zeit Theologie, war ein frischer und auch leutseliger junger Herr, und gehörte zu den Zofingern, einer evangelisch-freisinnigen Verbindung, die im Jahre 1819 im Beginn der schweizerischen Wiedergeburt gegründet worden war mit der ausgesprochenen Aufgabe, an diesem nationalen Werk nach allen Kräften mitzuarbeiten. Zur damaligen Erneuerung kam er zu spät; vielleicht betätigt er sich noch an einer gegenwärtigen. Wenn er mir irgendwo begegnete mit seiner weißen Mütze, an der die gelbroten Streifchen so warm und mutig leuchteten, und mit dem flotten Band über der Weste, so konnte er nie anders, als mich selig machen, ob er wollte oder nicht. Ich trieb einen beglückten, verschwiegenen, ehrfürchtigen Götzendienst mit dem hübschen Mannsbild, das überall, wo es stand und ging, seine eigene hochgemute Atmosphäre von Gesundheit und Zukunft mit sich führte, und sicher draußen, außerhalb des Gartens, wo ich nur an der Hand des Vaters hinkam, die allerschönsten und gewaltigsten Dinge tat. Der junge Abgott trug übrigens stets einen Stock mit Elfenbeingriff in der Hand, den ich ganz richtig als ein Abzeichen seiner Auserwähltheit auffaßte. Ich fühlte, daß er auf alle diese Embleme – Mütze, Band und Elfenbeinstock – stolz war, gab ihm das Recht dazu und stand ihm darin bei mit einer unbegrenzten Solidarität. Er gehörte ja zur Generation um 1880, die, wie ich später auf Photographien sah, durchweg jenes idealische und schweizerisch apollinische Gepräge trug. Es waren die Söhne jener Männer, die im Sonderbundkrieg dem reaktionären Europa die neue Zeit eingeläutet und eine ganze Kette von Freiheitsbewegungen allein durch ihr Beispiel hervorgerufen hatten, und der Generation, die 1856 den Mut bewies, im Neuenburgerhandel dem König von Preußen aus der Ferne die Zähne zu zeigen; 1860 war man gegenüber Napoleon III. nicht mehr ganz so kühn gewesen. Die junge Generation hatte dann ihrerseits den Siebzigerkrieg, die schweizerische Grenzbesetzung und die Verfassungsrevision von 1872 nicht nur miterlebt, sondern auch entscheidend – den Krieg mannhaft eingeschlossen – beeinflußt. Damals schrieben Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer, Jacob Burckhardt und Heinrich Leuthold, Böcklin und Stäbli malten, und alles das warf seinen Abglanz auf die Jugend um 1880, und also auch auf den pfarrherrlichen Apoll.

Sobald die Pfarrerstöchter bemerkten, daß ich auf drei zählen konnte, bemächtigten sie sich meiner beschaulichen und leise widerstrebenden kleinen Person, um ihre erzieherischen Absichten mit mir zu beginnen. Besonders die Ältere wurde mir darin bald bedenklich, während die Jüngere sich eher kameradschaftlich zu mir stellte und in schwierigen Fällen vermittelte. Nun saß ich viele Sommertage lang halb geehrt und halb bekümmert auf einer Bank unter einer Gruppe herrlicher Kastanienbäume und erfuhr Belehrung, lernte das »höhere« Rechnen und »Jesu, geh voran«, wurde katechisiert, mußte schreiben und lesen und vor allen Dingen stillsitzen; es war mir streng verboten, einem Vogel nachzusehen oder einen Fuß zu bewegen, wenn ich mich langweilte. Durch die Laubkronen der Kastanien drangen die Sonnenlichter herab und spielten, zum Ungehorsam verlockend, auf Bänken und Kieseln. Der Sommerwind wühlte in den großen Blättern; Finken und Amseln sangen auf den Zweigen oder hüpften los und ledig auf dem Boden herum. Draußen vor dem Staketenzaun auf der Straße fuhren Wagen und Equipagen vorbei, denen ich sonst gern und ausdauernd zusah, das Gesicht zwischen zwei kühle oder auch sonnenheiße Eisenstangen gepreßt, und von der anderen Seite riefen die Lokomotiven über den Bretterzaun herüber; der Unterricht fiel immer in die Zeit des lebendigsten Zugverkehrs. Ich habe viel schöne Zeit verloren mit den eigensinnigen Weibsbildern, und der größeren war ich nie grün. Schließlich fing ich an, mich zu verstecken; aber es half mir nicht viel. Im Garten trieben mich die Mädchen selber auf, da sie meine Lieblingsplätze kannten, und im Haus zog mich die Mutter hervor, die sich vielleicht weniger durch den vornehmen Umgang ihres Sohnes geschmeichelt fühlte, als daß sie dessen vorteilhafte Aussichten für mein ferneres Fortkommen erkannte; außerdem hatte sie gar nicht meinen Hang zur Beschaulichkeit.

Mein Lieblingsplatz war seit dem Vorkommnis mit der Katze, und später immer mehr, ein kleiner gemauerter Pavillon mit drei offenen Bögen nach der Gartenseite hin; er stand auf einer Bodenerhöhung an der südlichen Mauer. Statt offener Bögen zeigte er auf der geschlossenen Gegenseite in Öl gemalte Landschaften von dunkler brauner Stimmung, Bäume, Schiffe, Schlösser und kleine, klumpige Leutchen mit roten Gesichtern. Innen liefen Bänke entlang, auf denen ich viel anschauend und studierend herumgeklettert bin. Ein zweiter Lieblingsaufenthalt war gleich das Gebüsch nebenan. Es gab da Flieder, Holunder, Goldregenbüsche, Schneebeeren und kleine Sträucher mit roten Zweigen, die im Frühling so unterhaltend bitter schmeckten. Mit den Amseln und Drosseln in diesem Gebüsch war ich völlig vertraut, und auf Stunden versank mir die ganze Welt in dem klangvollen Halbdunkel.

Das Herrschaftshaus war ein quadratischer, grüngrauer Steinbau im französischen Geschmack mit einem steilen Schieferdach. Ich liebte es eigentlich nicht, da es mir zu grell in der Sonne stand. Das schweizerische Licht war mir überhaupt immer zu ungedämpft. Auf der Rückseite befand sich als Treppenbeleuchtung ein hohes Bogenfenster, das durch zwei Stockwerke ging und auf Glas gemalt das Bild des Erlösers zeigte. Die Mädchen nahmen mich manchmal mit ins Haus, und so konnte es nicht ausbleiben, daß die Bedeutung des Bildes zur Sprache und meine finstere Unwissenheit darüber heraus kam. Da hatten denn die kleinen Weiber einen großen Tag, indem sie aus mir eifrigem Heiden einen ebensolchen Christen zu machen unternahmen, und mir Nachricht von Dingen gaben, die ihnen so geläufig waren, als ob sie dabei gewesen wären. Angesichts des Glasfensters hielt mir die größere, nachdem sie mich samt ihrer Schwester als Zuhörerschaft auf die Treppenstufe gesetzt hatte, zunächst eine gemäßigt unzufriedene Rede über den katholischen Charakter meiner Mutter und die Minderwertigkeit aller Katholiken, was ja wieder aus den Tatsachen erhellte, daß ich noch nichts von Christus gehört hatte, und daß sie, die Pfarrerstochter, die Herrschaft war, und ging dann, immer etwas indigniert, aus Gnade auf die Geschichte des Herrn selber über. Ich hörte ihr zu, ungläubig und aufsässig, im stillen aufgebracht wegen ihrer Angriffe auf meine Mutter und wegen des ganzen selbstzufriedenen und herablassenden Tones, in welchem sie dann die sehr fremdartige Geschichte vortrug und von mir Glauben verlangte, obwohl ich absolut nicht begriff, was dabei herauskommen sollte. Es kam ihr zugut, daß ich die Figur, von welcher sie sprach, gemalt vor Augen sah, und daraus den Schluß zog, es müsse schon etwas daran sein, sonst wäre meine erste Bekanntschaft mit der christlichen Heilslehre vielleicht zu einem feierlichen Skandal ausgeartet.

Ohne daß ich es wußte, machte aber der lebendige Gehalt des Evangeliums, das ich da erfuhr, einen unverlöschlichen Eindruck auf mich. Die Gestalt des Erlösers schien mir bald noch wichtiger und schöner zu sein als der junge Zofinger stud. theol., was mir dieser verzeihen wird, denn am Ende ist jener doch sein Prinzipal, und ich verbrachte in der Folge viele einsame und anschauende Stunden vor dem Haus unter dem Glasfenster. Wenn aber die naseweisen Weiber des Weges kamen, so machte ich mich davon, oder tat, als ob ich etwas ganz anderes triebe.

Ich hatte inzwischen eine eigentliche Freundin bekommen, die in der Freienstraße wohnte. Sie war viel älter als ich, aber lange nicht so belehrend wie die Pfarrerstöchter; wahrscheinlich hatte meine Mutter sie angestellt, um meiner kleinen Schwester aufzupassen, die unter der Zeit, ich wußte nicht wie, ins Haus gekommen war, durchaus nicht zu meinem Vergnügen, denn sie störte überall meine Kreise, sobald sie nur etwas kriechen konnte, spielte mit meinem Spielzeug, hing sich mir an die Hosen und quäkte halbe Nächte lang, auch mußte ich sie wiegen, hüten und ausführen, was zur Folge hatte, daß ich sie schlecht behandelte, und sie in meiner Gesellschaft immer schrie. Die Lina Frey aus der Freienstraße jedoch war bescheiden, geduldig und erfahren; sie nahm mir das unwillkommene Balg ab und erzählte dafür von wichtigen und spannenden Dingen, die in der Stadt jenseits der Brücke mit den zwei großen eisernen Vögeln geschahen, und von Leuten, die dort umgingen und von meiner Existenz nicht die geringste Ahnung hatten, wie ich aus allem merkte. Mit dieser Lina Frey kam ich sehr gut aus, weil sie alles tat, was ich wollte, und nichts, was mir mißfiel. Außerdem wohnte sie ja auf der anderen, großstädtischen Rheinseite, und war durch diesen Umstand stetig von einem glaubhaften großstädtischen Nimbus umgeben. Ich bezog sie daher auch in meine Träume ein, indem ich sie gleichzeitig an allem teilnehmen ließ, was mir wichtig war.

So geschah es, als ich zum erstenmal von Christus träumte, daß nicht die Pfarrerstöchter, die mir die hohe Bekanntschaft vermittelt hatten, sondern Lina Frey in dem Traum mit vorkam. Und zwar träumte ich Folgendes: Auf dem Hügel im Garten stand das Kreuz mit dem Erlöser daran, und ich mit Lina Frey befand mich zu seinen Füßen und sah aufmerksam, doch ernsthaft verehrend zu ihm hinauf. Ich war ganz seine Partei, aber ein bißchen verwundert, weil sich trotz seiner großen Verdienste und seiner Berühmtheit sonst kein Mensch sehen ließ; ich wußte nicht, ob das seine Richtigkeit habe. Da bemerkten wir, daß an seiner rechten Hand infolge des Gewichtes, das daran hing, langsam der Nagel durchriß, der nun schon zwischen den Mittel- und Zeigefinger vorrückte; nach kurzer Zeit zerriß er auch das letzte Band, und die Hand mit dem Arm fiel zu seiten des Erlösers herab. Der Anblick ließ mich, da ihm alle Feierlichkeit fehlte, und er einfach menschlich schrecklich war, Christus als furchtbar leidenden Mann verstehen, lange bevor man mir seine Göttlichkeit klarmachen konnte. Christus selbst sank aufschreiend nach vorn; er fürchtete zu Boden zu stürzen, aber der zweite Nagel hielt ihn noch fest, und außerdem traten wir nun schnell hinzu und stützten ihn. In unseren Händen gab er endlich seinen Geist auf, den er mit einer wohl auf Verabredung beruhenden Kopfbewegung nach oben verwies; als leichtes goldenes Wölkchen hob er sich davon. Als wir merkten, daß der Leib tot war, nahmen wir ihn herab, legten ihn auf den Rasen, und machten uns stumm betroffen daran, ihm das Grab zu graben; immer noch ließ sich niemand sehen.

Noch einmal leuchtet das Jesusbild in meiner Erinnerung zu Weihnachten auf, um dann für längere Zeit im Dunkel zu versinken. Ich war zur Bescherung ins Pfarrhaus eingeladen samt meinen Eltern. Vor dem brennenden Baum verlangte die Frau Pfarrer von mir mit Recht die bekannte Gegenleistung für das Christgeschenk in Form eines Spruches. Ich sah sie an und mißtraute ihr. »Warte mal!« sagte ich und besann mich; dann gab ich aus dem Gefühl heraus, das ich nun einmal zu ihr hatte, folgenden Spruch zu hören: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht!« Sie lachte übers ganze Gesicht, und alle Anwesenden lachten, mein Vater eingeschlossen; nur meine Mutter war unzufrieden und tadelte mich nachher, weil ich ihr nicht Ehre gemacht hatte. Die Frau Pfarrer schenkte mir eine kleine Stoßkarre, die hoch mit Paketen beladen war. Ich sagte »Danke!« und mißtraute ihr weiter, obwohl ich die Karre sehr schätzte. Als wir das Haus verlassen wollten, zog eine wunderbare Lichtgestalt meinen Blick auf sich; es war der Heiland in dem großen Fenster, auf den von außen das Mondlicht fiel; er sah aus, als ob er mit erhobenen Armen auf mich zukommen wollte, und ich faßte erschreckt meine Karre fester und machte, daß ich aus dem Haus kam.

Auch die Pfarrerstöchter verschwinden um jene Zeit aus meiner Erinnerung. Um Fastnacht hatten sie die Erlaubnis zu einer kleinen, unschädlichen Maskerade bekommen, in der sie mir natürlich erscheinen mußten. Die Ältere hatte sich einige Schönheitspflästerchen ins Gesicht geklebt und wollte nun, daß ich sie nicht erkenne. Ich tat ihr den Gefallen, aber ich konnte nicht verstehen, was das für einen Wert haben sollte.

Im Sommer hatte ich noch ein Badeerlebnis mit ihnen. Der Hügel mitten im Garten fiel nach vorn in einigen künstlichen Felsen zu einem kleinen Wasserbassin ab. Nun hatten mich die Mädchen wie schon oft aus meinem Dachsbau ausgegraben und mit sich geschleppt; sie sagten, wir wollten etwas sehr Schönes machen, und wirklich trugen sie unter den Armen vielversprechende Pakete. Beim Weiher angelangt, hießen sie mich mit dem Gesicht unten ins Gras liegen; längst daran gewöhnt, zu tun, was die Wespen wollten, gehorchte ich nach einigen Umständen, die ich meiner Willensfreiheit schuldig zu sein glaubte. Als ich wieder aufsehen durfte, standen sie wie die Nixen in weißen Badehemden aufrecht im Wasser, sahen zu mir her, lachten und winkten mir mit weißen Armen. Sie hatten ja gesagt, daß sie etwas Schönes machen wollten. Ich durfte nun mit ihnen spielen; sie hatten einen gelbrotgestreiften großen Ball mit. Die Sonne floß silbern und golden in ihrem offenen Haar. Hinter ihnen war grauer Fels, darüber das zartgrüne Gebüsch der Johannisbeeren, mit denen der Hügel besetzt war, dann stieg eine Baumkrone auf, und schließlich der offene blaue Sommerhimmel. Nun waren sie doch wirklich einmal hübsch, und auf einen Moment hatte ich nichts an ihnen auszusetzen. Ich spielte Ball mit ihnen, und nachher mußte ich wieder aufs Gesicht liegen.

Die Umwelt

Unterdessen hatten mir die ersten Kommissionsgänge zum Spezierer und die Schulwege die Tür zur nächstgrößeren Welt aufgetan. Wie alle Kinder liebte ich es, Aufträge auszuführen, und wenn die Mutter mich die Schuhe anziehen hieß, um Zucker oder Brot holen zu gehen, so war meine Schnelligkeit in der Hantierung mit den Schnürriemen außerordentlich; sie zog mir das einzige Lob zu, dessen ich mich von meiner Mutter überhaupt entsinnen kann. Schnelligkeit und Geschicklichkeit machten immer wesentliche Züge meiner Personalien aus. Der Spezierer war ein älterer Mann mit einem kurzen Graubart, alten, verrauchten Zähnen, Haaren in den Ohren, einer Brille auf der Nase, einer schwarzen runden Mütze mit Stickereien auf dem Deckel und einer Troddel, die seine Drehungen und Bücklinge mit den interessantesten Bewegungen begleitete; da sie außerdem einsam und aus Seide war, so schien sie mir vornehm. Die Bücklinge führte er jedoch nie vor seinen Kunden aus, denn er war ein knorriger Demokrat, sondern stets nur vor seinen Kästen und Kisten. Er verfügte über etliche Gläser mit farbigem Konfekt und Pfefferminztäfelchen, und glücklicherweise war er nicht so geizig, wie er aussah.

Wenn ich zur Straße vor wollte, so mußte ich durch ein enges Gäßchen, das meine Mutter nicht mit der vornehmsten Bezeichnung belegt hatte, und welches das Gut des Pfarrers vom Nachbargut trennte; links erhob sich die hohe Mauer des benachbarten Gartens, rechts lief der Staketenzaun des Pfarrgartens ein Stück mit, um dann ebenfalls in eine Mauer überzugehen. Hinter dem Staketenzaun blühten im Sommer alte, dichte Holunderbüsche, die ihren etwas düsteren Ort auf großmütige Weise mit Licht und Duft erfüllten. Gegen die Bahnlinie zurück lag ein Bauerngut, dessen Bewohner den Weg zur Stadt ebenfalls durch das Gäßchen nehmen mußten; da sie darin auch andere Dinge vornahmen, so hatte meine Mutter nicht so unrecht. Daß ich eines Tages in dem Gäßchen eine tote Krähe fand, war zwar interessant, aber nicht weiter aufregend. Ich wurde dadurch lediglich von der Meinung abgebracht, daß die Vögel keinem natürlichen Tod unterlägen. Die größeren, besonders die Krähen, hatte ich ohnehin für eine Art unsterblicher Dämonen gehalten. Sie lag lange dort. Ich konnte den Vorgang der Verwesung mit allen Erscheinungen beobachten, und keine war mir zu befremdend, als daß ich sie nicht genau kennenlernte. Groß war meine Verwunderung, als ich die unausbleiblichen Würmer an ihr entdeckte und bemerken mußte, daß die bisher für endgültig gehaltenen Wände eines Körpers durchbrochen wurden und in immer größeren Löchern zerfielen. Doch zog ich für mich keinen Schluß daraus; ich fühlte mich ganz sicher in meiner Haut, und zudem betrachtete ich, wie gesagt, die Vögel noch nicht als Tiere. Plötzlich war dann der Vogel verschwunden; wahrscheinlich hatte ihn mein Vater in einem Augenblick, in dem er nichts Besseres zu tun wußte, weggeräumt.

Aber wie das so geht: an einem Platz kann hundert Jahre lang nichts passieren, und dann schlägt es dreimal hintereinander ein. Wenige Tage später sollte ich Reis holen. Als ich aus dem Gartentor trat und um die Ecke in das Gäßchen einbog, sah ich schon von weitem einen Menschen auf dem Staketenzaun sich zu schaffen machen. Obwohl er ganz oben war, führte er mit den Beinen lauter Bewegungen aus, um noch höher zu klettern; jedoch um über den Zaun zu kommen, stellte er es nach meiner Auffassung außerordentlich ungeschickt an. Beim Näherkommen hörte ich, daß er dabei heftig stöhnte und jammerte, und in dem Moment, als er mich bemerkte und anrief, sah ich, daß er mit der Brust oder dem Leib in den Staketen lag, von denen sich eine Spitze jedenfalls ganz in seinem Innern befinden mußte. Wild schreiend lief ich zurück, und der Reis blieb für diesen Tag ungeholt. Nun hatte ich die Zerstörung auch am menschlichen Körper gesehen, und das Gefühl von Unsicherheit und tödlicher Enttäuschung über diese neue Erfahrung ist einer der heftigsten Eindrücke, denen ich zeit meines Lebens ausgesetzt war.

Eine andere große Willkürlichkeit des Daseins lernte ich kennen, als die Wiese – das von J. P. Hebel besungene badische Flüßchen – infolge eines fürchterlichen Regenwetters über ihre Ufer trat, und mich der Vater mitnahm, um den Skandal zu besehen. Ich weiß noch genau, wie drückend, triefend und feindlich der Himmel über dem Land lag, und ein lebhaftes Abwehrgefühl gegen diese Naturgewalt, die aller Vernunft und Nützlichkeit zum Trotz sich uns aufdrängte, erfüllte mich bis in die Füße hinunter, die ich übrigens ohne besonderen Stolz ergeben einwärts setzte, denn mein Vater tat es auch ein bißchen. Nun sah ich statt des liebenswürdigen Flußbandes einen weiten, trübe quirlenden See, aus dem Büsche und Bäume herausragten, und auf dem entführte Körbe, Schweineställe und Tierleichen dem Rhein zutrieben. Hier lernte ich eine neue Todesart kennen; die Reihe wurde nun bald unabsehbar. Alles das war mir sehr ärgerlich und widerstrebend, und diese Stimmung ist mir dergleichen Ereignissen gegenüber bis auf den heutigen Tag geblieben. Ich vermag nichts von der wohlunterhaltenen Sensation zu empfinden, die ich an vielen anderen Menschen in solchen Lagen bemerke; ich bringe es höchstens zu Verwunderung und Zorn über unsere Hilflosigkeit.

Noch eine große Belehrung empfing ich, indem wir uns nach einer anderen Stelle des Überschwemmungsgebietes begeben wollten und dort den Weg mit einem Bretterverschlag gesperrt fanden. Als ich den Grund dafür erfahren wollte, erklärte der Vater mit ernster und erfahrener Miene, daß hier die Welt aufhöre. Das schien mir ehrwürdig und beruhigend, und gab mir, neben den anderen anfechtenden Erfahrungen, wenigstens einen Teil meiner Sicherheit zurück.

Der Sonntagmorgenspaziergang mit meinem Vater war eine unverrückbare Gewohnheit. Wenn die Kirchen ausläuteten, hatte er bereits unter meiner eifrigen Mithilfe den Garten versehen, die Fenster der Mistbeete hochgestellt, die Setzlinge begossen, im Sommer die Bastmatten über die Fenster des Treibhauses herunter gelassen, und sich dann umsichtig rasiert und gewaschen. Darauf zog er sich das vor Sauberkeit und Stärke knisternde weiße Hemd über den Kopf, knüpfte den Kragen zu, drehte die Krawatte mit dem Gummischleifchen dreimal um den Knopf und schob sie links und rechts unter die Spitzen des Kragens. Sein Anzug bestand aus dunklem, weichem Stoff, den ich aufrichtig liebte und verehrte. Er war gebürstet und gut ausgehängt. Nie sah ich ihn anders, als in halblangen Schoßröcken, die ihn etwas feierlich erscheinen ließen. Sehr schätzte ich es, wie die Hosenbeine auf den gewichsten Schuhen aufstanden und Falten warfen; ich hielt das für fein und besonders sonntäglich und beurteilte die anderen Männer danach. Auch stimmte es mich festlich, wenn beim Sitzen seine steife Hemdbrust sich aufwarf und wie ein geblähtes Segel weiß leuchtend den Westenausschnitt füllte. Draußen ging ich ihm keinen Augenblick von der Hand. Er sprach nicht viel, aber das Wenige war voller Güte, Klugheit und Wissenschaft, wie mir schien. Und dann strömte von ihm zu mir ein Gefühl von Geborgenheit und Zutrauen aus, das mir immer, wenn es mir bewußt wurde, das Herz rascher schlagen ließ. Ich hatte die klare, beglückende Empfindung: »Solange dieser Mann da ist, wird es dir nie schlecht gehen.« Alle Leute bewachte ich daraufhin, ob sie ihn auch mit der verdienten Hochachtung bemerkten, und da er ein ziemlich stattlicher und hübscher Mann mit hoher Stirn und feinem Mund war, so wurde er vielfach beachtet. Zu seiner Kennzeichnung muß ich noch sagen, daß er nie rauchte, und auch mit dem Alkohol ging er sehr mäßig um, was bei meiner Mutter nicht ganz so der Fall war; er war eine durch und durch humane, auf sich beruhende Natur. Nur schöne Gärtnerzeitschriften mit prachtvollen Blumenbildern hielt er sich, in denen er viel studierte. Es muß ihn für seinen Beruf eine stille Leidenschaftlichkeit besessen haben, wenigstens hörte ich oft die Mutter ihn über seine Aufwendungen dafür besprechen. »Du wirst dich noch zu Tode studieren und rackern wegen denen dort. Bilde dir nur nicht ein, daß die es dir danken. Der Vorgänger ließ alles laufen, wie es wollte, und es war auch recht.« Dazu sagte er wenig oder nichts, aber einige Tage später hielt er vielleicht mit still leuchtenden Augen eine neue Nelkenkreuzung in der Hand, die ihm geglückt war. Übrigens hatte er »von denen dort« alle Anerkennung. Die Frau Pfarrer lobte sein Gemüse sehr, und auch den Blumen ließ die Familie viel Ehre widerfahren, aber meiner Mutter war es nicht genug. Die Tugend, die sie am wenigsten besaß, war die Geduld.

Die Schule machte mir zunächst nichts zu schaffen, und das ist ein gutes Zeichen für das System oder für den Lehrer, dem ich zugeteilt war. Es läßt sich ja kein Grund dafür angeben, warum die kleinen spielerischen Wesen ihr bißchen Wissen durchaus im Schraubstock der Schulbank lernen müssen und nicht, wie es ihnen angemessen ist, spielend, in einer mäßigen, wohltätigen Freiheit der Glieder und Geister. Anstatt sie zu Affen der Großen zu machen, ist es besser, sich selber zu Vorstehern ihrer Bedürfnisse auszubilden; die paar Wissenschaften, die der junge Kopf in den ersten zwei Jahren lernt, fliegen ihm beinahe von selber zu, wenn man sich nur angemessen und zweckmäßig mit ihm abgibt, und mehr ist, als ein selbst übel gedrillter Drillmeister. Immerhin war ich sehr stolz, und zwar auf den schönen Schulranzen, den mir der Vater gekauft hatte; es war ein Stück aus Kalbfell, die Haare nach außen gekehrt, und so geschnitten, daß schräg über den Deckel eine Grenze zwischen einem weißen und einem braunen Feld lief. Dann war ich noch stolz auf den Griffelkasten, in dem ich gewöhnliche, mit sehr schönem Papier umwickelte, und besondere, sogenannte Mehlgriffel aus weichem Schiefer verwahrte, dazu Klammern aus Messing mit verschiebbaren Ringen, die den zu kurz gewordenen Griffeln als Halter dienten. Denen war ich aber nie gut; ich liebte weder ihre Farbe noch ihre Beschaffenheit, und mit ihrer Technik stimmte ich auch nicht überein. Außerdem hatte ich eine Schiefertafel und ein rotes Büchschen mit blauen Sternen und einem stets feuchten und in anregender Weise übelriechenden Schwamm darin, sowie eine Fibel mit Affen, Bären, Cedern, Distelfinken, und wie Gott die Tier- und Pflanzenwelt weiter dem Alphabet nach erschaffen hat.

Die Buchstabenwelt enthielt für mich eine Stimmung, wie ich sie erst wieder aus den Erzählungen der Ethnographen bei den wilden Völkerschaften antraf. Wie diese sich von den Runen und Zeichen ihrer Zauberer gebannt fühlen, so umgaben mich die Buchstaben mit einer hochsinnigen, schönen Rätselhaftigkeit, die mich ungemein anzog. Ihre Formen und Bezeichnungen verstand ich nicht als zu bewältigende Aufgaben, sondern als abgründige Geheimnisse, an denen mit der Erlernung der Schrift noch gar nichts erschlossen oder erklärt war. Selbst von den Worten und Sätzen kehrte die Aufmerksamkeit, von einer strengen Liebe des Geistes gelockt, immer wieder gespannt und voll ungestillter Sehnsucht zu den einzelnen Zeichen zurück, deren Charakter voll symbolischen Wertes, voller Daseinsstimmung und Jenseitsbedeutung mich stumm ansahen, als etwas, das niemals mit Worten und Sätzen auszudrücken ist. Dies ehrfürchtige Grundgefühl fand ich in meinem Leben je länger je mehr bestätigt. Ein Symbol ist ein Symbol und nicht zu erklären, und jeder sieht und erlebt daran etwas anderes. Erklärungen reden, aber sie bilden nicht. Die Königsgewalt des Daseins lebt im Unaussprechlichen. Ein deutsches großes A ist eine Welt, ein Ergebnis von tausend prophetischen Seelen, ein mystischer Anfang, der erste Schritt zum Schicksal, die Herkunft aus dem Nichtsein, ein Zauberzeichen. Das lateinische A war mir lange nicht so wert und fesselnd; es enttäuschte und beunruhigte mich durch seine fertige Übersehbarkeit. Das deutsche A ist unübersehbar, dunkel, tief wie das Chor eines Münsters. Wieviel Mut und Offenheit ist im E! Das G hat etwas Feindliches; es ist nicht gut, dem großen deutschen G zu trauen. Sollte dem großen F wirklich nichts Luftiges, Windhundiges innewohnen? Ich kenne einen berühmten sozialdemokratischen Führer der Gegenwart, der mir stets wie ein leibhaftes großes F erscheint. Sanft und fraulich, mütterlich ist dagegen das H, ein wahrhaft großherziger, vertrauenswürdiger Buchstabe! Sehr zog mich auch das Rechnen an, aber die Anwendung auf Äpfel oder Tiere lehnte ich ab, die war mir ärgerlich. Rechnen als losgelöste oder übersinnliche Vollziehung, als sozusagen hellseherische Übung für sich, verursachte mir stets eine beschwingte Lust; das kaufmännische Rechnen dagegen war mir niederschlagend und ernüchternd wie die Lateinschrift. Ich kann noch heute im Rechenbuch meines Jungen diese Exempel nicht ohne Mißbehagen sehen. Die Dinge des Lebens, so schien mir, waren Erscheinungen, Wunderbarkeiten, die man anschauen und bedenken, aber nicht zählen und verrechnen sollte. Zu diesen Wunderbarkeiten gehörten die Hühnerhöfe, die Lerchen, die jauchzend der Morgensonne zu flogen, diese Morgensonne selber, das Bäumlein, das andere Blätter wollte, und köstlich war die große Einsamkeit des Ich, des eigenen Seins zwischen all diesen fremden Wesenheiten. Dieses Einsamsein habe ich eigentlich zeit meines Lebens still und zähe gepflegt. Ich hatte daher wenig Freunde, und dann nur solche mit Schicksal behaftete. In den ersten Jahren weiß ich überhaupt nichts von Schulbekanntschaften. Unser Lehrer, Wildi mit Namen, schien mir auf geheimnisvolle Weise mit all den Wunderdingen verbunden, aber dagewesen war er nicht; er wußte nur von ihnen. Ich aber war da, und sogar mitten darin, und ich war überhaupt der erste, der so weit gekommen war. Es wäre also schwer gewesen, mir das Recht zu der hohen Genugtuung abzusprechen, mit der ich zu jener Zeit still aber entschieden herumging.

Nebenher unterhielt ich eine Nachbarsfreundschaft mit dem Sohn eines Schuhmachers, der in einem kleinen, schwarzen Häuschen selber klein und schwarz an der Straße hockte und aller Welt die Schuhe flickte, aber nie neue machte. Seine Werkstatt lag etwas tiefer als die Straße, und kein Schulkind kam dort vorbei, ohne hinein zu sehen; die Neugierigen blieben auch stehen und gafften ihm bei der Arbeit zu, und die Frecheren schrien ihm Spottnamen durchs Fenster und warfen ihm Unrat auf den Werktisch. Der arme Mann mußte viel mitmachen, und um gewisse Tageszeiten im Frühling, wenn der Übermut der Kleinbasler Schuljugend, die dem Frühling immer etwas heftiger ausgesetzt ist als die Großbasler, aus den Ohren spritzte, war er mehr auf der Grenzacherstraße als hinter seinem Werktisch. Dann lief er den Mädchen mit dem Spannriemen nach und balgte sich mit den Buben herum, und da er nur klein war, zog er auch einmal den kürzeren. Übrigens war er Witwer und brachte sich mit seinen beiden Kindern – dem schon genannten Knaben und einer wenig älteren und ebenso schwarzen Tochter – schlecht und recht durchs Leben.

Mein Freund nun war ein ganz unternehmender kleiner Hannake, und es scheint, daß wir von den Dingen, die uns Vergnügen machen konnten, nur die gefährlichen oder unerreichbaren ausließen, während wir gleichzeitig eine lebhafte Zuneigung zur Freiheit in uns entwickelten, und ihr auch auf mancherlei Weise Ausdruck zu geben verstanden. Es kam in jener Zeit vor, daß meine Mutter eine frische Schürze vorbinden und ihr Salz oder Mehl selbst holen mußte. Der Streich, den wir am meisten bewunderten, richtete sich gegen die Stadtherrlichkeit. Zwischen der Grenzacherstraße und dem Rhein lag noch ein Stück des alten Stadtgrabens, der gerade ausgefüllt werden sollte. Täglich kamen Dutzende von jenen Fuhrwerken an, die aus einem Kutscherbock auf zwei Rädern und zwei bis drei angehängten zweiräderigen Karren bestanden; die Karren waren mit Abbruchschutt und Erde beladen und wurden in den Stadtgraben hinein entleert, der sich unter unseren Augen langsam auffüllte: ganz gegen unsere Gefühle und Wünsche, denn der Graben war bisher eine unerschöpfliche Fundgrube von alten Schachteln, farbigen Scherben, Regenschirmgestellen und jener tausend aufschlußreichen Dinge gewesen, die die Welt wegwirft. Diese Widerspruchstimmung brachten wir eines Mittags zur Demonstration, indem wir uns an eine stehengebliebene leere Karre machten, die wir mit aller Kraft und List, deren wir habhaft werden konnten, an den Rand des Grabens fuhrwerkten und dann nach einer letzten, spannenden Anstrengung als einen umgekehrten Wagen Elias in die Tiefe rasseln ließen. Der Erfolg war außerordentlich, und die Befriedigung vollkommen; doch hatten wir keine Zeit, uns unseren Gefühlen hinzugeben; mein Freund konnte ohnehin auf den Spannriemen rechnen, weil er über das Essen ausgeblieben war.

Zweimal war ich in ernsthafter Lebensgefahr, das eine Mal infolge meines Vorwitzes, das andere Mal im Verlauf eines natürlichen Prozesses. In der Nähe des Gärtnerhauses, das wir bewohnten, befand sich eine auszementierte, etwa zwei Meter tiefe Grube, aus der mein Vater mit großen Gießkannen das abgestandene Wasser schöpfte, das er für seine Gemüsebeete brauchte. Für gewöhnlich war die Grube mit abgepaßten Brettern gedeckt, die so schwer waren, daß ich sie nicht heben konnte; war sie aber in Betrieb, so lag sie offen. In diesem Zustand betraf ich sie eines Tages, und zu meinem Unheil fand ich an ihrem Rand auch eine schwere Kanne aus Zinkblech mit einem einladend geschwungenen, großartigen Griff und einem sehr festen Eisenreifen unten herum. Weil die Kanne nicht bemalt war, wie die anderen, sah sie mir leichter aus; ich faßte zu, tauchte sie ins Wasser und ließ sie sich volltrinken; das Wasser strömte ihr so voll und reichlich in den offenen Hals, daß in diesem Augenblick niemand einen Verdacht gegen sie geschöpft hätte. Daß sie schwer wurde, merkte ich auch erst, als sie anfing, zu schwer zu werden, und da verlangte auch ziemlich richtig mein Beharrungstrieb, daß ich nicht nachließ. Während sie dann sehr ruhig mit mir in die Tiefe ging, erkannte ich noch im letzten Augenblick, daß sie in der unerwarteten unsicheren Lage mein einziger fester Halt war; ich weiß bestimmt, daß ich mit ihr bis an den Boden der Zisterne tauchte, und daß mich erst der dort herrschende Luftmangel veranlaßte, sie loszulassen und aufzusteigen. Bei alledem war es mein größtes Glück, daß mein Vater den tragischen Vorgang bemerkte und herbeilief, um mich herauszuziehen, sobald ich wieder erhältlich war, sonst wären eine beschränkte Anzahl von Freuden und eine größere von Leid und Mühsal von mir unerlebt geblieben. Die Sache schloß wie ein Militärmarsch, nämlich mit starken Schlägen.

Die andere Lebensgefahr bestand in einer Kinderkrankheit, die man damals sachlich und einfach Bräune nannte, aber inzwischen, obwohl sie nichts an Volkstümlichkeit eingebüßt hat, mit dem seltenen und schweren Namen Diphtheritis auszeichnete. Meine Natur überstand sie im Kinderspital wachsam und ergeben, ohne daß der Halsschnitt nötig wurde; ich erinnere mich aber nur noch an einige Gerüche. Besonders angenehm war mir die Ausstrahlung der reinlichen Petroleummaschine, auf der immer ein Breichen gekocht oder eine Milch gewärmt wurde – damals hatte man noch keine Gasherde –, und einen besonders vernünftigen Eindruck machte mir das Wägelchen, auf dem die Schwester das Mittagessen in den Saal fuhr. Dann wurde mir in der Genesungszeit eine nicht mehr ganz junge Person wichtig, die im Spital als Näherin oder sonstwas angestellt war. Gott hatte sie weder durch viele Schönheit noch durch einen scharfen Verstand ausgezeichnet, doch durch ein Schnurrbärtchen, durch viel Liebe und eine engelhafte Geduld. Im übrigen trug sie den hochtrabenden Namen eines französischen Herzogs ohne dessen Land und Titel; in Straßburg heißt ein Platz nach ihr. Von ihr hatte meine ganze Erholung das Licht. Ihren Geschichten fehlte immer der Schluß, ihren Liedern der Takt, aber nicht ihren Liebkosungen der Verstand und ihren Leckerbissen die Süße. Es war das bekannte, von allen aufgeweckten Buben geschätzte Verhältnis zu einem erwachsenen weiblichen Wesen, das den Stoff voraus hat und dazu die unermüdliche Lust, ihn mitzuteilen, und das dem Jungen dafür neidlos das aufkeimende Bewußtsein läßt, in der geistigen Anlage überlegen zu sein. Durch die hübschesten und wachsten Stunden jener Zeit rauschte mir der Rhein, glitt die Fähre querüber, hockten die beiden eisernen Riesenvögel der Wettsteinbrücke – die Basilisken – auf ihren Postamenten, leuchtete das bunte Münsterdach von der Großbasler Seite her, und versuchte mir das etwas fräuleinhaften Mädchen umsonst klarzumachen, warum es böse war, daß der König David die Dame Bathseba im Bad sah; wenn er König war, so durfte er doch alles. Ich bin sicher, daß sie es aus eingefleischter Unschuld selber nicht wußte.

Der verstörende Gast

Eines Tages trat bei uns im Gärtnerhaus ein neuer Mensch auf. Ich wußte nicht, woher und aus welchem Anlaß: plötzlich war er da und richtete sich ein, hatte seinen Stuhl am Ofen und seinen Platz am Tisch, wenn es ihm gefiel, mit zu essen, und man konnte bald merken, daß er bei der Mutter etwas galt; sie war verhältnismäßig nie so vergnügt und lachte nie so viel, wenn auch immer noch gleichsam widerwillig über den unnützen Aufwand, als wenn er seine Späße machte. Der Vater war ihm weniger hold, was freilich gespürt sein wollte. Auftritte lagen ihm nicht. Er liebte Arbeit, Rechttun und Beharrlichkeit, und hatte eine freundliche und mehr stille Art. Bloß für das Lesen besaß er vielleicht eine Leidenschaft, die er bei jeder Gelegenheit zu betätigen und zu stillen suchte. Er las auch oft bei Tisch. Der Fremde dagegen war ein fester, junger Bursch, etwa fünfundzwanzigjährig, von düster-schönem Schwung, selbstsicher, jovial auch gegen meinen Vater, was mich verdroß, und gegen mich, was ich mit gräflicher Zurückhaltung beantwortete, und kunstreich, denn er blies die Maulgeige (Mundharmonika) nach allen Himmelsrichtungen, Walzer, Märsche, Rheinländer, Lieder, was man wollte, daß einem die Augen im Kopfe stehenblieben. Er hatte eine doppelreihige echte Knittlinger mit Glöckchen, und machte auf der rechten Maulecke schmelzend die Melodie, während er mit einer beweglichen und ungemein verführerischen Zunge die Harmonien dazu ließ oder davon fernhielt, wie es ihm paßte, oder wie es die Umstände erforderten; obendrein gab er mit den Glöckchen den Takt dazu.

Ich witterte ihm mit der Spürnase des Kindes bald den Eindringling und den Abenteurer ab, und repräsentierte um so mehr die bisherige ehrenwerte Solidität der Familie, so viel er auch daran wandte, mich zu gewinnen. Ich ging mit langen, bedeutungsvollen Schritten wie der Vater umher, und merkte mit Besorgnis – wohl gleich diesem –, wie es bei uns allmählich dunkler wurde. Dagegen konnte ich mich nicht genug über die Mutter wundern, wenn sie munter wurde und die schwarzen, unzufriedenen Augen lächelnd spielen ließ, während sie sonst zu den nettesten Sachen des Vaters kaum den Mund verzog, und seine gelegentlichen Zärtlichkeiten mit einem verdrießlichen: »Laß mich in Ruhe!« beantwortete. Nun machte er aber einige von mir wirklich geschätzte Dinge, auf die ich stolz war, und von denen ich wünschte, daß man sie ehrte. Zum Beispiel am Sonntagmorgen, wenn wir alle zusammen Kaffee tranken – sonst war er im Garten, wann ich zum Vorschein kam –, ahmte er auf der Tischplatte mit dem Messer die Kirchenglocken nach. Er faßte das Messer in der Mitte mit zwei Fingern und ließ im Wechsel bald die Klinge, bald den Griff aufschlagen, wie ich es auch von den Türmen hörte. Die Klinge bedeutete die kleinen Glocken, die häufiger Laut gaben, und der Griff die größeren. Das Ganze klang zusammen zu einem sehr sinnvollen Getöne, worin sich vieles von seinem Wesen aussprach. Vielleicht war es zweifelhaft, was in der Welt draußen höher galt, das Gebläse des Franz Xaver oder das Geläute des Vaters, aber immer fühlte ich, daß im Spiel des Vaters viel mehr Phantasie lebte als in der Fertigkeit des anderen. Ich muß hier anmerken, daß mein Vater von Hause aus Bauernsohn war, und sich durch Aufmerksamkeit und Studium selber zum Gärtner ausgebildet hatte.

Mit dem Erscheinen des kunstreichen Burschen beginnt am Bild des Vaters eine Veränderung; ich sehe es immer häufiger umdüstert, aber in sich von einer gesteigerten Reinheit und Bedeutung, abseits und einsam, oder in einer schmerzlich-gütigen Zweisamkeit mit mir. Es förderte unser stilles Einverständnis, daß meine Mutter begann, mich hinauszuschicken, wenn Franz Xaver da war; wahrscheinlich wurde ihnen meine Aufmerksamkeit verdrießlich und fanden sie sich durch meine Anwesenheit am Leben, wie sie es für sich verstanden, gehindert. Tagelang begleite ich nun meinen Vater auf Schritt und Tritt, stehe dabei, wenn er die Fenster der Mistbeete hochstellt oder mit Strohmatten deckt, halte ihm die Setzlinge oder das Setzholz, wenn er Salat pflanzt, gehe an seiner Hand nach dem Treibhaus, werde beim Düngen in der leeren Stoßkarre nach dem Misthaufen zurückgefahren und weiß mit ihm im voraus, daß die Mutter nachher über die schmutzige Hose und den Gestank schelten wird, und sehe ihm mit Andacht zu, wenn er in der Weinlaube mit Binsen die Rebenranken aufbindet. Er trug eine grüne Gärtnerschürze mit Messingkettchen auf dem Rücken, die von mir sehr bewundert und gutgeheißen wurde. Vorn war eine große Tasche aufgenäht, in der die Rebenschere stak, und um den Leib gebunden trug er an einer Schnur das Binsenbündel, das er vorher in eben der Grube, in die ich hineingefallen war, aufgeweicht hatte. Nun half auch keine Medizin dagegen, ich mußte ebenfalls eine grüne Schürze mit Messingkettchen und einer aufgenähten Tasche haben, und als es der Mutter zu verdrießlich war, eine zu machen, kaufte er mir eine fertige im Laden. Dazu bekam ich ein Büschel Binsen umgebunden, und war jetzt ein ganzer Gärtner und Kamerad; ich spürte, daß ich meinem Vater etwas sein konnte, und mehr braucht ein Junge nicht, um sich gut angewandt und geborgen zu fühlen, sollte er übrigens auch kein ganzes Hemd am Leibe haben.

Ich habe immer gefunden, daß die Vorgänge eines Lebens an sich ganz gleichgültig sind und nur bedeutungsweisen Wert haben; betrachtet man sie jedoch von dieser Seite, so hat das kleinste Ereignis unter Umständen unermeßliche Bedeutung, und gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen klein und groß. Für die Krankheit eines Kindes ist es mindestens so schwerwiegend, daß sich auf seinem Spielzeug eine Schicht Staub angesammelt hat, wie daß die Schwester im Häubchen durch die Tür des Krankenzimmers aus und ein geht. Und ob der Arzt auf Grund seiner vielen Kenntnisse sagt: »Die Krisis ist vorbei!« oder das Kind nach seinem Affen verlangt, und die Mutter ihn aus der Ecke nimmt und abbürstet, das ist auf beiden Seiten ganz gleich aufschlußreich. Das Eigentliche und Schicksalhaltige in unserem Dasein sind die Zustände, in die wir eingesponnen werden, und aus denen wir wieder hinausgesponnen werden. Wir handeln, wenn wir können, und wenn wir's zur Unzeit versuchen, so beschleunigen wir unseren Untergang. Das ist das Geheimnis der Lebensläufe wie der Weltgeschichte, jenes weitgesponnenen Lebenslaufs der Völker und Kulturen.

Unter dem Licht jenes Zustandes, in welchem sich das Leben bei uns befand, gewannen daher fortan die kleinsten täglichen Ereignisse ein besonderes Ansehen. Einmal stand ich mit einem Luftballon am Faden neben dem Vater bei den Mistbeeten und sollte ihm eben schnell ein Stützholz halten; indem ich danach griff, entglitt mir der Faden, und das ungetreue bunte Ding hob sich besinnungslos davon. Ich blickte ihm nach, wie es im Westwind über den Gartenzaun schwebte und dabei so selbstverständlich im Ätherblau aufleuchtete, als ob das immer unsere Verabredung miteinander gewesen wäre; fragend wandte ich meine Augen nach dem Vater, denn so ganz in der Ordnung schien mir der Handel doch nicht, und ich hatte einige Lust, zu heulen.

»Hast du ihn denn nicht halten können?« fragte er, während er ihm lachend nachsah. Und als ich stumm den Kopf schüttelte, fügte er ernster hinzu: »So muß man ihn eben fliegen lassen. – Vielleicht geht er nach Wyhlen und richtet dort etwas aus!«

Wyhlen war das Heimatdorf meiner Mutter auf der badischen Seite des Rheines, zwei Stunden flußaufwärts von Basel; sie hatte dort noch ihre Eltern. Über die Auskunft und noch mehr über den Ton stutzend, tat ich noch einen Blick nach dem liederlichen Fahrzeug, von dem eben der letzte bunte Schein verschwand; jetzt war's nur noch ein grauer Schemen.

»Meinst du, daß er nach Wyhlen kommt?« zweifelte ich. »Wyhlen ist doch weit für einen Luftballon!«

»Das kommt immer darauf an«, erwog er nachdenklich. »Schau, ich zum Beispiel kann aufs Grenzacher Horn steigen, und dir macht's schon Mühe, aber deine Mutter kann nicht nur nach Wyhlen fliegen, wenn sie will. – Mußt jetzt manchmal für sie beten, dann kaufen wir auch einen neuen Luftballon.«

Die Mutter wurde mir in der Folge davon sehr geheimnisvoll.

Das Auffälligste an mir waren damals meine Augen; ich weiß noch, daß sie von vielen Leuten beredet wurden. Groß, schwarz und verwundert, wie sie waren, hieß ich überall der Bub mit den Kirschaugen. Am wichtigsten war mir, daß auch der Vater sie zu lieben schien. Als daher Franz Xaver mir vorschlug, ich sollte die Augen einmal ordentlich auswaschen, dann würden sie schön hellbraun werden wie Honig, bestand natürlich nur geringe Aussicht, daß ich einen solchen Rat in Erwägung zog, im Gegenteil, ich drückte sie beim Waschen eifrig protestierend zu, damit sie, wenn möglich, noch dunkler wurden. Übrigens hatte ich die Augen nicht vom Vater – seine waren von sanftem Dunkelbraun –, sondern von der Mutter; die waren so schwarz und mitternächtig, wie man sich überhaupt etwas vorstellen konnte.

Ein andermal versuchte Franz Xaver meinen Witz und wollte wissen, ob ich eigentlich getauft sei. Die Frage war so gut oder so schlimm wie eine Ehrenkränkung, und ich sagte: »Ja. Natürlich bin ich getauft.« Franz machte eine zweifelhafte Miene. Woher ich das wisse? Ob ich denn dabei gewesen sei? Soviel er gehört habe, sei ich doch evangelisch, und einen Evangelischen dürfe man nicht taufen, bevor er tot sei, sonst mache man sich strafbar. Jetzt kam auch mir die Sache bedenklich vor, zumal es mit dem Evangelischen einen Haken zu haben schien. Außerdem war ich immer leicht in meinen bürgerlichen Rechten irrezumachen. »Ich glaube vielleicht doch nicht!« erwog ich daher, denn die Taufe war meines Wissens immerhin eine heilige Angelegenheit, mit der sich meine Eltern sicher nicht strafbar gemacht hatten. Ungewiß sah ich nach meiner Mutter. »Ich denke auch nicht«, sagte die halb lachend, halb geärgert, da Franz Xaver ungeniert grinste. »Die Evangelischen taufen ja mit dem Teufel. Sein Schwanz ist ihr Weihwedel. Sage selber, ob man dich dahin wird gelassen haben.« Franz Xaver fing nun mächtig an zu lachen. Die Mutter bekam rote Wangen vor Verdruß, weil ich ihm Gelegenheit gab, sich über ihre Familie zu belustigen, wenn sie auch gezwungen mitlachte. Sie kam mir sehr schön vor, aber ich fühlte mich bei dem Spaß nicht gut aufgehoben, und auf die Evangelischen wollte ich eigentlich auch nichts kommen lassen, da der Vater dazu gehörte. Der fiel mir jetzt in meiner unsicheren Lebenslage rechtzeitig ein, indem ich erklärte, ihn fragen zu wollen. Ich hatte mich wieder in Sicherheit gebracht, »Ja, frag ihn nur«, sagte sie in unzufriedenem Ton. »Er ist ja so gelehrt. Er wird nächstens Bücher fressen anstatt Brot.«

Ich fragte ihn dann doch nicht.

Obwohl auch der Vater meine Augen liebhatte, stieß er mir doch beinahe eins aus dem Kopf. Es war im Futtergang, und er warf dem Vieh Gras ein. Ich hatte mich wohl allzu liebevoll hinter ihm aufgestellt; beim Zurückziehen bekam ich den Gabelstiel in die Augenhöhle, daß ich Länder und Meere sah, von denen ich noch nie etwas gehört hatte; zum Glück war der Stoß aber schon vom Augenknochen abgeschwächt worden. Es gab sofort eine ungeheure Beule, die der Vater mit einem aufgedrückten Fünffrankenstück, einem sogenannten Fünfsilber, bekämpfte. Ich hätte nun das gute Recht gehabt, ein ausgebreitetes Gebrüll hören zu lassen, aber ich verschluckte es, weil ich über des Vaters Schreck erschrak; er war ganz bleich und bat mir mit allerlei lieben und guten Namen ab. »Bist doch mein Einziges, Johannesli!« sagte er immer wieder, worüber ich in eine heilige Betroffenheit verfiel. Nachher machte er mir eine kühle Kompresse und sah noch zwanzigmal an diesem Tage nach, ob auch dem Auge nichts passiert sei.

Ungefähr in der gleichen Zeit hatte er noch einmal Unglück mit mir; er warf ein Gartentörchen hinter sich zu, während ich den Finger dazwischen hatte. Diesmal sang ich aus Leibeskräften und nicht ein bißchen schön. Später löste sich der Nagel und sollte abgeschnitten werden. Die Mutter wollte nicht an das Geschäft, weil ich Umstände machte; da nahm mich der Vater vor. Es tat gar nicht weh, aber ich dachte, es müsse, weil es so gefährlich aussah, und weil es doch ein Stück von mir war, und nachdem die Operation fertig war, lief ich weg und zeigte ihm die Faust. Er lächelte trübe; damals war er schon eine ganze Strecke von uns fort. Als er darauf in die Rebenlaube trat, »sah« ich ihn zum letztenmal, ohne es zu wissen. Er schritt langsam den halbdunklen, grünen Bogengang hinauf, durch den die heimlichen Sonnenlichter brachen, und mir schlug schon das Gewissen. Wenige Tage später befiel ihn das Nervenfieber, das ihn ins Grab brachte. Das sind ganz seltene und begünstigte Menschen, die bei einem unbewußten Abschied den Vorzug haben, nicht einen Stachel oder ein Bedauern davon ins Leben weiter tragen zu müssen.

Schlimme Ausgänge

Inzwischen hatte die Mutter mit dem Hausfreund einen geheimnisvollen Betrieb angehoben, von dem ich selber das wenigste sah, der mir aber von allen Verwandten einstimmig und unter dem größten Ernst mitgeteilt und bekräftigt wird. Sie warfen sich miteinander auf die Schwarzkunst, um reich zu werden. Das Reichwerden blieb von da an das ruhelose Leitmotiv im Leben meiner Mutter. Da sie aber selber auf dem Gebiet grasgrüne Abcschützen waren, so verschrieben sie sich zuerst geheime Schriften, darunter das sechste Buch Mosis, und endlich zwei gewiegte Vordermänner, die auf der Sache zu laufen wußten, und die persönliche Beziehungen zur Geisterwelt sowie die Mittel hatten, ihr zu gebieten – mit Ausnahme der Geldmittel, die meine Mutter herschaffte, und zwar aus der Tasche und aus dem Kasten meines Vaters. Es scheint sich nicht nur um kleine Beträge gehandelt zu haben, und auch wohl nicht immer um gutwillige oder ordentliche Methoden, sich in deren Besitz zu bringen. Bei alldem hat meine Mutter eine große Macht über den Vater ausgeübt. Es war nicht Charakterschwäche, was ihn dahin brachte, ihr so viel Spielraum zu lassen. Sie war eine ziemlich große, südlich aussehende dunkle Frau von guten, geschwinden Formen, durchwittert sozusagen von seltsamen flüchtigen Lieblichkeiten, und dabei von starken, herben Säuren durchsetzt. Ich begriff allmählich, daß er eine solche fremdartige, hochfahrende und unbefriedigte Persönlichkeit in all ihrem düsteren Zauber und ungestillten Lebenshunger, der aus der etwas heftigen Schönheit ihrer Züge sprach, und den auch er nicht stillen konnte, unglücklich liebte und lieben mußte, und von dieser Liebe sah ich ihn künftig immer dichter eingesponnen wie von einem fühl- und sichtbaren Verhängnis. Inwieweit er selber aus Liebe ein bißchen von ihrem Geldfieber mit angesteckt war, weiß ich nicht. Aus manchen Anzeichen scheint auch er unsere gegenwärtige Vermögenslage als nichts Endgültiges betrachtet zu haben. Er sah ja wohl ringsum an vielen Beispielen, wie man sich vorwärtsbringen konnte, und mochte selber das Zeug dazu in sich fühlen. Vielleicht dachte er an einen eigenen Garten. Mich hatte er – und das zeigt weitergesteckte Absichten – unter dem Beifall der Mutter, wenn nicht unter ihrem ehrgeizigen Antrieb, sehr früh zum Studium bestimmt; davon war die Rede, solange ich denken kann. Der Vater war nun bald vierzig Jahre alt, und wenn sie auf ihrem Aufstieg von der Magd im Weißen Haus zur reichen Frau nicht die beste Zeit versäumen wollte, so mußte nun etwas geschehen.

Ich bekam die Burschen einmal zu sehen; es waren nach meiner Auffassung lange, bange Schwefelhänse, die mir bis in die Knochen missfielen, obgleich ich von ihrer Anwendung keine Ahnung hatte, Männerherren oder Herrenmänner von schwarzem und abgründigem Gehaben – es tat mir immer etwas weh, wenn ich an sie dachte – und Elsässer aus Mülhausen, sobald sie die Mäuler auftaten. Das wichtigste, was zunächst zu tun war, schien die Einrichtung eines schwarz ausgeschlagenen Zimmers, und da solchen Menschenfreunden und ihrem Oberherrn, dem Satan, nichts hinderlicher ist zur Herstellung einer gutgekochten und wohlgeratenen Zauberei als Kindesunschuld, so wurde ich in jenen Zeitläuften wenig und da nur mit grämlichen Mienen im Haus geduldet.

Es lebte damals ein junger Bruder meines Vaters bei uns, um die Gärtnerei zu erlernen; da er offene Augen hatte und meinem Vater ergeben war, so sah er vieles, was nicht für andere Leute angelegt war, und wurde dem Paar natürlich ebenfalls unbequem. Er erzählte nun da Dinge über eine gewisse Behandlung, welcher man ihn unterwarf, um ihm das Haus zu verleiden, und die mehr originell als einer wissenschaftlichen Aufklärung zugeneigt war. Zunächst stellte sich Franz Xaver jovial zu ihm und suchte ihm vorzustehen, als er aber meinen Vater als Vorsteher behielt, kam man ihm mit stärkeren Mitteln. Eines Tages gab ihm Franz Xaver ein Stückchen Holundermark mit der Anweisung, es ins Portemonnaie zu legen; es werde ihm Glück bringen. Nun, jedermann ist gern glücklich, und um den Menschen, der doch eine Menge Gewichtigkeit vor ihm voraus hatte, zu befriedigen, steckte mein kleiner Onkel das Ding in sein Geldbeutelchen und ließ es darin, auch als er jenem aus den Augen war. Er behauptete, er hätte es vergessen, zugleich gab er jedoch an, er sei kontrolliert worden. Hänners Augen zeigten in der letzten Zeit unter aller Allotria, die er gelegentlich trieb, ein unheimliches Feuer; es glühte darin wohl die schwüle Flamme des Adepten, den Angst und Gier mehr als glauben gelehrt haben, aber auch sonst konnte ihm nicht mehr sehr wohl sein, denn die Dinge trieben überall den Entscheidungen zu, und er magerte sichtlich ab. Meine Mutter ging darin ganz seinen Weg, sonst aber stritten sie sich in dieser Zeit häufig. Bereits hatte sie aufgehört, über seine Späße zu lachen; es war von ihr auch die letzte trübe Heiterkeit gewichen; alles, was sie mir vorher vertraut und nahbar gemacht hatte, verstummte und verschwand. Sie sang längst nicht mehr: »Ach du lieber Augustin« oder: »In Lauterbach hab' ich mein' Strumpf verloren«.

Nachdem aber mein Vater schon seit Monaten verändert war, begann nun auch mein kleiner Onkel gewisse neue Gewohnheiten anzunehmen, die ihm so unbequem sein mußten, daß er sich ihnen unmöglich freiwillig unterzogen haben konnte. Er verlegte sich nämlich darauf, mitten in der Nacht aufzustehen und alle Schuhe zu putzen, deren er habhaft werden konnte, und wenn keine mehr da waren, so strich er noch eine Viertelstunde unruhig und seufzend im Haus umher und kroch endlich ins Bett, um am andern Morgen müde und zerschlagen aufzustehen, ohne etwas von den Dingen zu wissen, die er in der Nacht getrieben hatte. Der Unfug forderte das Aufsehen heraus, und als mein Vater fand, es sei jetzt genug des bösen Spiels, rief er gegen die geheimen Mächte die geheime Wissenschaft zu Hilfe; der Hergang hatte ja genau die Farbe, die er haben mußte, um für einen Wunderdoktor ein gefundener Fraß zu werden. Die Sache kann nun stehen, wie sie will: jedenfalls war diese Kapazität ein erfahrener Mann; in kurzer Zeit grub er durch Fragen meinem kleinen Onkel das Holundermark aus dem Geldbeutel aus, und daß er es verbrannte, daran tat er nur recht. Dann war er dafür, daß mein kleiner Onkel noch auf acht Tage zu den Kapuzinern kam, und auch das geschah. Geheilt und mit gestillten Augen und Träumen kehrte er darauf ins Haus zurück und nahm sich von da an aus allen Kräften vor dem Franz Xaver in acht. Daß alle diese Geschichten sich aber in so großer Nähe eines sehr frommen evangelischen Pfarrhauses abwickeln konnten, ist jedenfalls ein Beweis dafür, daß eine Gottseligkeit nur dem zum Besten dient, der sie hat.

Unterdessen waren die Vorbereitungen so weit gediehen, daß man zum entscheidenden Schritt vorgehen konnte. In einer dunklen Nacht war die Mutter verschwunden und nirgends aufzufinden. Eine Stunde rheinaufwärts auf der badischen Seite erhebt sich der erste Vorsprung des Schwarzwaldes, das sogenannte Grenzacherhorn; dorthin hatte sie sich mit Franz Xaver aufgemacht, um nun den Schatz zu heben. Sie gruben eine gute Stunde und drangen weit in die Erdschichte vor, aber nicht zu der erwarteten Goldkiste; unverrichteterdinge, müde und verdrossen kam sie gegen Morgen nach Hause. Wie der Vater sich hier und überhaupt mit ihr abgefunden hat, weiß ich nicht, wie ich überhaupt nie bemerken konnte, daß er gegen die Mutter vorging; entweder er tat es überhaupt nicht, oder er suchte die Gelegenheiten so umsichtig aus, daß mir nichts davon zu Augen und Ohren kam. Ich bekam sie erst gegen Mittag zu sehen; so lange hatte sie sich eingeschlossen. Sie war übernächtig, blaß und vergrämt, auch heimlich aufgebracht schien sie mir, da wohl die verletzte Ehrbegier an ihr fraß, denn sie hatte doch wohl alle reich machen und daraus ihre Rechtfertigung entwickeln wollen, und bei allem lag etwas Starres über ihr. Bei Tisch saß sie blicklos wie eine Gestorbene und rührte nichts an, so daß ich mich vor ihr zu fürchten begann. Aber auch der Vater aß nicht, und in der Folge verging sogar mir der Appetit.

Aus den Zeugnissen seiner Brüder und Schwestern will es sodann scheinen, daß er schließlich sich duldend und hoffend zu Tode gegrämt habe. In meinem achten Lebensjahr legte er sich aufs Krankenbett und starb nach einem kurzen, heftigen Kampf gegen die dunklen Geister, die seine letzten Tage umschwebten, am Nervenfieber. Ich hörte, daß ihn vier Fäuste in der Badewanne festhalten mußten, daß er im Fieber eifrig und hastig predigte, und dann sah ich ihn in der Totenhalle des Bürgerspitals, einen stillen, bleichen Mann, dem das wilde Leben der anderen nichts mehr anhaben konnte. Man hatte ihm ein weißes Halstüchlein umgebunden, wie ich heute vermute, um damit die Spuren einer Sektion zu verdecken. Um ihn herum lagen noch mehrere gestillte Fiebergefäße des Daseins, alle säuberlich in Särge gefaßt und zum Abliefern fertig. Eine männliche Leiche hatte die Augen noch halb offen; dieser gebrochene Blick verfolgte mich jahrelang. Eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, schrie mir weinend zu: »Das ist dein Vater, Junge; jetzt hast du keinen Vater mehr!« Ich sah sie an und wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Mir war sehr traurig, schwer und unheimlich zumute, weil ich diese Dinge hier durchaus nicht wollte oder vorhergesehen hatte. Das war das Nichts; was sollte ich damit? Da ich nichts begriff, so konnte ich auch nicht weinen. Nur meine Einsamkeit auf der Welt ahnte ich zum erstenmal als Schicksal; bisher hatte ich sie als Unterhaltung erlebt. Der einzige, der mir etwas daran hätte erklären können, lag da steif und kalt im Sarg, und eine Stunde später deckte ihn die Erde. Da das Verhängnis nun auch meinen Vater, den liebsten und nächsten von allen Menschen, erreicht hatte, so war das Leben jedenfalls sehr ernst.

Meine Mutter habe ich in allen jenen Tagen nicht gesehen; wahrscheinlich war sie vorhanden, aber ich hatte kein Erlebnis mit ihr. Sie gehörte nicht eigentlich zu meiner Welt.

Der Pfarrherr mußte sich nun einen neuen Gärtner suchen, und uns war aufgegeben, den Platz zu verlassen.


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