Felix Salten
Olga Frohgemuth
Felix Salten

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Die Mutter kam aus der Küche herein, um nach ihrem Manne zu sehen. Er hatte gestern abend, da er heimkam, nichts mehr gesprochen, war zu Bette gegangen, als wolle er sich verstecken. Und die ganze Nacht hatte er wach gelegen. Dann war er diesen Morgen aufgestanden, still wie immer, in sich gekehrt und schweigsam wie sonst, aber nun saß er im Zimmer auf dem Sofa, sah verfallen und krank aus und schaute mit erloschenen Augen vor sich hin. Die Kinder merkten nichts; Anton war in seiner kleinen Stube und lernte; Hermine saß mit dem Rücken zum Vater in der Fensternische und stickte. Aber die Mutter sah, daß etwas in ihrem Manne wühlte und ihn zerriß. Sie wagte es nicht, ihn zu fragen, denn er hatte es nie erlaubt, daß man auf ihn eindringe, sich ihm ungerufen näherte und einen Zugang zu ihm suchte. So schlich sie nur manchmal aus der Küche herein, tat, als hätte sie irgendwas im Zimmer zu holen, bewachte ihn mit heimlich spähenden Augen und fürchtete sich vor einem neuen Unglück.

Der Professor saß da und dämmerte. Dieser neue Tag lag wie eine Überraschung vor ihm, wie etwas Unvermutetes und Rätselhaftes. Da fing alles wieder 133 von frischem an, mit Sonne und blauem Himmel, mit Heiterkeit und kraftvollem Vorwärtsschreiten. Er sah in die Helligkeit und konnte sich nicht darin finden; er war wie abgeschnitten von diesem Heute, es strich über ihn weg, ließ ihn fallen, rührte gar nicht an ihn.

Lange saß er so da und wurde den Stunden, die hingingen, fremder und fremder. Er war wie aus der Reihe getreten und hielt sich hier abseits.

Langsam schaute er im Zimmer umher und mit einer Neugierde, als wolle er jetzt erst ergründen, wo er eigentlich sei. Er betrachtete die Möbel und die Wände und erkannte sie, wie man alte Bekannte wiedererkennt. Den breiten hohen Kredenzschrank, den Eßtisch mit der roten Plüschdecke darauf, die Hängelampe darüber, die Bücheretagere in der Ecke. Sie sahen betrübt aus, als sei es ihnen schlecht gegangen und als seien sie nun enttäuscht und müde. An der Tapete waren die Blumen verwischt und die Farben erloschen. Sie glich einem Antlitz, das von vielen Tränen ganz verwaschen war. Die Plüschdecke zipfelte verschossen und dünn geworden über die Tischkante, und die Stoffgardinen an den Fenstern hingen in welken, nachlässigen Falten herab, als sei ihr prunkhaftes Bemühen längst mißlungen, und als glaubten sie nicht mehr an ihre Feierlichkeit.

134 Der Professor nickte leise mit dem Kopf. So war dies alles vorüber, dies ganze Leben, das sich hier eingesponnen hatte, all die Jahre, deren trübe Spur hier haftete, und alles sah jetzt mißglückt und versäumt aus.

Da stand plötzlich dort an dem Kredenzschrank ein winzig kleines Mädchen und lächelte zu ihm herüber. Das war Olgas schmaler Kinderkörper, als sie kaum noch laufen konnte und sich hier an den Möbeln vorwärtstastete. Das war ihr frohes, kleines Gesicht, mit dem sie alle anstrahlte, wenn sie ein paar Schritte gegangen war. Er wunderte sich gar nicht, sie jetzt wieder dort zu erblicken. Sie hatte ja nicht aufgehört, hier zu sein, nur daß er es gewesen war, der sie nicht hatte sehen wollen. Dort war sie so oft gestanden und hatte zu der weißen Porzellandose hinaufgespäht, darin der Zucker lag. So klein war sie und der Schrank so hoch, und wenn sie die kleinen Arme ausgebreitet an den dunkeln Bau des Schrankes preßte, dann war es, als ob ein Mensch ein großes Haus umarmen wollte. Die weiße Porzellandose stand heute noch an ihrem Platz, und der Zucker war jetzt noch darin verwahrt wie damals. Wenn die Mutter kam und ihr ein Stückchen gab, hatte das Kind gelacht, und wenn der Vater da war, ihr den Zucker 135 verweigerte und sie von dem geliebten Schrank wegführte, hatte sie auch gelacht.

Die kleine Gestalt dort verschwand vor seinen Blicken und zerfloß. Er saß still und horchte gegen die Küche hin. Würde sie dort draußen nicht zu singen anfangen wie einst? Sie konnte des Morgens oder vor dem Mittagessen in der Küche draußen mit solchen Jubellauten singen, daß man meinte, sie sei eben beschenkt worden. Wenn es ihm zu viel wurde und er sie durch die Türe hindurch anherrschte: Ruhig! dann kam ein kleines, leises Lachen noch hereingeflattert, und dann wurde sie still. Aber an ihren schimmernden Augen, wenn sie hernach in das Zimmer trat, an ihrem lächelnden Mund konnte man wissen, daß der Jubel in ihr weiterging und niemals innehielt. Wunderbar und seltsam wohltuend war es für ihn gewesen, Olga etwas zu befehlen. Es war ihm gewesen, als ob sie jedes seiner Worte umarme, als ob seine Gebote empfangen würden wie eine aufklopfende Hand von samtenen Kissen, als ob sie weich und zärtlich hingebettet würden wie Gaben, die alle gleich gut und gleich angenehm sind. Deshalb hatte es ihn auch so sehr getroffen, als sie eines Tages sein Verbot nicht annahm und es ihm zurückgab wie etwas Fremdes, das sie nicht brauchen konnte. 136 Fassungslos hatte es ihn gemacht, weil er merkte, daß sie mit ihrem Wesen von ihm abgerückt war und heimlich wo anders weilte. Er fühlte einen Schmerz, der vorzeiten manchmal unter der Schwelle seines Zornes sich geregt hatte. Jetzt war sein Zorn von ihm weggenommen, und jetzt lag dieser Schmerz ganz entblößt in ihm da. Er holte ihn hervor und sah, wie er tief an den Wurzeln mit der Liebe zu Olga zusammenhing. Daß sie bei anderen lebte, anderen ihr Lächeln gab, daß andere die Arme nach ihr breiteten, das hatte ihn tief unter dem Mantel seines Zornes wund gemacht. Diese ohnmächtige Kränkung wandte sich ab von ihr, diese Eifersucht barg sich unter strengen Grundsätzen, reichte ihm geschäftig Moral- und Tugendgesetze hin, damit er sie gegen Olga brauche, und aus dieser Kränkung war jene verheimlichte, niedergerungene Hoffnung in ihm gewesen, dereinst einmal wieder in seine Rechte eingesetzt zu werden, wieder zu befehlen, zu strafen und zu verzeihen, diese Hoffnung, deren er sich geschämt hatte, der er nicht nachgeben wollte, die er vor sich versteckte.

In dem Dämmer der Gesichte, die nun an ihm vorüberglitten, trat auf einmal der Prinz Emanuel Ferdinand hervor. Er sah ihn jetzt, wie er sich der 137 Mutter in die Arme geworfen hatte, und jede Bewegung an ihm verstand er jetzt. Als ob er eines von seinen eigenen Kindern sei, eines von Olgas Geschwistern, so war der Prinz dagestanden, hatte sich der Mutter hingegeben, hatte ihr seine Verzweiflung anvertraut und war ehrfürchtig vor ihr gewesen. Olgas Macht hatte den Prinzen hierhergetrieben, die Gewalt ihres Wesens hatte es noch im Tode bewirkt, daß dieser aus seinem Rang und aus seiner Ferne herbeikam und zu ihnen gehörte, als sei er ihrem Blute verwandt. Sein Antlitz und seine Augen, seine schmalen Schultern und seine Hände und jede Geste seiner Hände, alles war umwittert gewesen von Olgas Liebe.

Der Professor aber blickte an sich herunter und suchte. An ihm war keine Spur. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn er sie damals hätte reden lassen, wenn er sie nicht verscheucht, wenn er sie an seine Brust gezogen und ihr seine Hände sanft auf das blonde, weiche Haar gelegt hätte.

Er hielt seine hohlen Hände aufgestellt auf seinen Knien, und sie dursteten danach, ein blondes Haupt zu umschließen. Wie eine Entdeckung war es in ihm, daß man ein Kinderhaupt liebkosen müsse, nicht bloß mit Augen und Gedanken, sondern mit Händen. 138 Warum hatte er sich dessen enthalten? Warum sich's auferlegt, dies Warme, Lebendige nicht mit Händen zu fühlen? Er wußte es nicht mehr. Irgendeinen Grund hatte er wohl gehabt, aber für wie wichtig er ihn einst auch geachtet, der lag nun verschrumpft und vermodert tief im Schutt seiner anderen Grundsätze, war unkenntlich und zerfallen, und er selbst saß da und begriff, wie vergeblich er gedarbt hatte.

Ein Kind . . . dachte er und sah mit inbrünstigem Erstaunen auf dies liebe Wort. Ein Kind . . . das ist um uns her . . . das blüht so neben uns . . . aus unseren Keimen blüht es auf . . . und unser Wesen nimmt es mit sich . . . und trägt es fort in das Leben hinein . . . und wird ein anderes . . . und bleibt doch weit von uns weg alles, was wir selber sind . . .

Seine Augen irrten auf dem Boden des Zimmers umher, als müsse ein Kleines mit unsicher taumelnden Schritten herankommen und sich an seine Knie lehnen. Ein Kind . . . rief es in ihm. Er hob den Blick und sah Hermine vor sich in der Fensternische sitzen. Er sah ihr blondes, aufgestecktes Haar, das Olgas Haaren glich, er sah ihren jungen Hals in weicher Linie von den Schultern sich heben, und diese Linie war Olgas Schultern verwandt. Atemlos raffte er sich auf, tat einen kurzen Schritt, stand hinter 139 Herminens Stuhl, hatte dies blonde Haar schimmernd vor seinen Augen, und leise legte er seine zitternde Hand darüber.

Hermine fuhr zusammen, wandte sich und sah mit erschrockener Verwunderung zu ihm auf. Eine Sekunde lang blickten sie einander an, und Hermine las ein hinströmendes Geständnis in ihres Vaters Augen. Sie sah, daß er wankte, sprang empor, um ihn zu stützen, da hatte er die Arme ausgebreitet, fiel ihr an die Brust, und sein Stöhnen brach aus wie der gewürgte Schrei eines Irregewordenen.

»Mutter! Mutter!« rief Hermine entsetzt.

Die Mutter hatte den Wehlaut schon vernommen, kam schon durch die Türe gelaufen, Anton sprang erschrocken herein, und sie sahen, wie der Vater Hermine umklammert hielt, als ringe er mit ihr. Sie hörten sein ächzendes Weinen, eilten herzu, als müßten sie ihn retten, legten ihre Arme um ihn, faßten ihn an den Schultern, streichelten ihn über den Rücken, berührten seine grauen Haare und standen alle vier beisammen, wie eingehüllt in dieses furchtbare Weinen. Sie merkten, daß er in ihren Händen wanke, führten ihn ans Sofa, ließen ihn niedersitzen, drängten sich um ihn, waren stumm vor Erschrecken und hörten, wie seine Stimme schluchzend zerbrach. Etwas wie 140 Scham war in ihnen. Diese Stimme, die sie von jeher gekannt hatten, die immer fest gewesen war und blank, zerging nun in wimmernden Lauten, verrann wie Blut, führte verborgenen Schmerz mit sich ans Licht und flehendes Bitten. Diese Stimme war alt und schwach und kippte um und demütigte sich vor ihnen.

Sie blickten zu ihm nieder, wie er in sich verkauert dasaß und in seine Fäuste schluchzte, und wie er jede Gewalt über sich verlor. Sie nahmen ihn an den Händen, sie fuhren ihm sanft über seine bleichen Wangen und trockneten seine Tränen, wie man einem Kind die Augen wischt, und sie fühlten, daß er jetzt ihrer bedurfte, daß er sich ihnen ganz hingab.

Er konnte noch nicht sprechen, aber er schaute sie, einen nach dem andern, an, als hätte er sie jetzt erst gefunden. Herminens Hand und Antons Hand hielt er in seinen Händen und betrachtete sie. Da lagen sie warm und lebendig, und er staunte darauf nieder und preßte sie an sein Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf und flüsterte etwas, aber niemand verstand ihn. Die Mutter rückte zu ihm heran, legte ihren Arm um ihn, hielt ihr Gesicht zu dem seinigen und fragte: »Was sagst du?«

Er schüttelte den Kopf, und sie sah, daß er wieder 141 verzweifelte. Sie bat ihn: »Sag' mir's doch . . . was ist es denn . . .?«

Er flüsterte ihr ins Ohr: »Nie . . . nie habe ich sie gesehen . . . nie . . . nie . . .« Eine Träne fiel heiß aus seinen Augen auf die Wange der Mutter. Sie redete ihm zu wie einem Kranken: »Aber . . . wieso denn? Wieso denn . . . nie?«

»Dort . . .«, sagte er leise ganz nahe an ihrem Ohr. »Dort . . . wo sie . . . du weißt ja . . . nie hab' ich sie dort gesehen . . .«

Sie nickte ihm zu. »Aber ich habe sie gesehen.« Still und wie ein Bekenntnis sagte sie das.

Er klammerte sich heftig an sie: »Erzähl' mir . . .,« flehte er, ». . . erzähl' mir . . .!«

Und sie erzählte ihm, wie sie Olga auf der Bühne gesehen, brachte den Anblick, den er ihr verboten hatte, zu ihm her, wie gerettete Habe, und er lächelte und wurde still dabei. 142

 


 << zurück weiter >>