Felix Salten
Olga Frohgemuth
Felix Salten

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Zehntes Kapitel

Nachmittags hatte der Professor die Schülerhefte hervorgeholt, um die schriftlichen Aufgaben zu korrigieren. So saß er jetzt, die Arbeit ausgebreitet am Tisch, mitten im Zimmer und zeigte, daß wenigstens sein eigenes Leben hier im Hause weitergehe, als sei nichts geschehen. Er sprach weder mit seiner Frau noch mit seinen Kindern; er sah über sie hinweg, und wenn sie untereinander flüsterten, tat er, als merke er nichts davon. Er hob nicht den Kopf, wenn sie aus dem Zimmer gingen, und er schaute nicht auf, wenn sie zur Tür hereinkamen. Er hatte sein Fläschchen rote Tinte vor sich stehen, strich die Fehler in den Schreibheften an, mit einem Eifer, der sich gegen jede Störung zu verwahren schien.

Die Mutter saß mit Hermine am Fenster; Anton stand bei ihnen und schaute ihnen zu, wie sie arbeiteten. Der Professor wußte, daß sie dort beschäftigt waren, Trauerkleider zurechtzumachen, schwarze Knöpfe anzunähen und Kreppschleier um die Hüte zu winden. Ganz offen geschah das, ohne daß sie sich vor ihm in acht nahmen. Was er heute morgen gesagt hatte, das galt ihnen also für nichts, sie schoben es beiseite.

Ließ ihn Olga nicht auch jetzt wieder fühlen, wie 85 sein Wille im Grunde nichtig, sein Beschließen vergeblich, sein Gebot ohnmächtig sei? Anton war diesen Morgen ins Zimmer gestützt, hatte geschluchzt und gerufen: die Olga ist gestorben . . . als habe Olga Tag für Tag im Hause hier gelebt, als sei sie der geschwisterlichen Gemeinschaft heute erst, an diesem Morgen erst entrissen worden. Und seine Frau . . .? . . . und Hermine . . .? Für alle hatte Olga niemals aufgehört, die geliebte Tochter, die geliebte Schwester zu sein. Man hatte wider sein Gebot an ihr festgehalten, sie standen alle auf Olgas Seite.

Hermine war an den Tisch getreten, hatte da irgendwas ausgebreitet, und der Professor hörte, wie die Schere, mit der sie hantierte, über die Tischplatte hinstoßend, durch weichen Stoff schnitt. Da zipfelte ein Endchen Flor bis ganz zu ihm heran und lag plötzlich auf dem offenen Schreibheft vor ihm. Es war nur eine Sekunde, dann zog es Hermine gleich wieder zurück, aber wie es da schwarz auf dem weißen Papiere gelegen hatte, war er darüber erschrocken, als sähe er jetzt erst das Wirkliche des Geschehens, die Unwiderruflichkeit des Sterbens deutlich und greifbar vor sich. Ihm wurde auf einmal, als habe er nun alles versäumt, als sei ihm irgendeine feindselige Macht zuvorgekommen, und als sei ihm nun jeder 86 Weg abgeschnitten. Er fühlte sich beraubt, und wußte nicht, welcher Dinge; er fühlte sich betrogen und wußte nicht, um was. Eine Bitternis wie von erduldetem Unrecht nagte an ihm, und ihm war, als habe ihn Olga im Stiche gelassen, als sei sie ihm wiederum, zum zweiten Male, eigensinnig und widerspenstig entflohen.

Draußen wurde so heftig geläutet, daß sie alle aufzuckten. Aber noch ehe sie sich regen konnten, kamen schnelle Schritte durch das Vorzimmer, ein kurzes Pochen war wie eine eilige Frage an der Tür, die aufgestoßen wurde, und auf der Schwelle stand der Prinz Emanuel Ferdinand.

Es blieb ihnen keine Zeit, ihre eigene Verwirrung zu empfinden, soviel Verwirrung schaute von dem bleichen Antlitz des Prinzen zu ihnen her. Emanuel Ferdinand ging an Hermine vorbei, die ihm sprachlos entgegenstarrte, ging um den Tisch herum bis an das Fenster, wo die Mutter saß.

»Verzeihen Sie . . .«, sagte er leise und mit einer mühsam durch Schmerz und Entsetzen hindurchbrechenden Stimme, ». . . verzeihen Sie, gnädige Frau . . . ich mußte . . . ich komme eben . . .«

Die Mutter war aufgestanden, und wie sie nun, da er dicht bei ihr war, merkte, daß er am ganzen Leibe bebte, gab sie ihm die Hand.

87 Er fing von neuem an: »Verzeihen Sie . . . ich habe nämlich heute . . . ich bin gerade jetzt aus Steiermark . . .« Er brach ab und schwieg. Durch Gebärden deutete er an, daß er unfähig sei, jetzt weiter zu sprechen.

Er fand sich jetzt beinahe unerwartet von Gesichtern umgeben, die er aus vergangenen Tagen kannte, und deren plötzlicher Anblick ihn mit Erstaunen und Erschrecken überflog. Ohne daß er sich erst umzuschauen brauchte, spürte er sich von dieser Stube mit Vertrautheit angeweht. Etwas, das vor langer Zeit abgerissen war, regte sich um ihn her, wurde lebendig, und begann sich mit tausend Fäden wieder anzuknüpfen. Aber das half ihm nicht, sondern verstörte ihn nur noch mehr.

Olga . . . Olga . . ., der Name war in ihm wie ein Schrei, wie ein beständiges, immer erneutes, erschrockenes Rufen. Das hatte ihn hergetrieben. Er war ohne Güte von Olga weggegangen und hatte ihr nur das Gefühl seiner Strenge zurückgelassen; nun traf ihn ihr Sterben wie eine furchtbare Antwort. Ohne Überlegen, ohne Zögern hatte es ihn hierhergehetzt, als könne er jetzt noch irgendwas retten. Er hatte sich nach der Nähe von Menschen gesehnt, mit denen man nicht allein war. Er hatte nur eines 88 gedacht: daß es Menschen gab, die jetzt um Olga weinten, wie er. Eine Stimme hatte sich in ihm geregt, um zu reden, und er hatte gewußt, daß sie einen Vorwurf aussprechen, ein Wort dunkler Schuld in sein Herz schleudern wollte. Er entsetzte sich darüber, wie man sich vor der Folter entsetzt. Er hatte dieser Stimme den Mund zugehalten und war vor ihr hierher geflohen. Er hatte eine Hand ergreifen wollen, die Olgas Händen verwandt war, in Augen schauen, in denen ein Strahl von Olgas Augen leuchtete. Eine Sehnsucht pochte drängend in ihm, sich vor diesen Menschen zu Olga zu bekennen, Dinge zu sagen, mit denen er sich anklagen würde und rechtfertigen zugleich; Dinge von solcher Kraft, daß sie Olga hoch emporheben und verklären würden.

Nun stand er da, als habe ihn ein Sturm hier herein gefegt. Er fühlte, daß er jetzt Wände und Schranken von Zurückhaltung niedergerissen habe, die ihn sonst schützend umgaben; er fühlte auch, daß er in das Gehege von Zurückhaltung der anderen eingebrochen war, und so heftig wallte die Beschämung in ihm auf, daß ihm schwindlig wurde. Hilflos und des Sprechens beraubt, sah er die Mutter an, und da war in ihren kummervollen, verstehenden Augen 89 alles, was er hatte sagen wollen. Alles, was der Wirbel dieser Sekunden jetzt von seinem Denken und Wollen verschlungen hatte, und was er mit Worten nicht mehr hätte erhaschen können, las er jetzt aus den Augen der alten Frau. Sie schien jetzt zu wissen, daß er in Olgas Geschick verstrickt war, daß noch eine quälende, fernher drohende Angst seinem Schmerz beigemengt sei; sie nahm es hin, indem sie ihr Haupt noch tiefer senkte, atmete es mit einem schweren Aufseufzen in sich ein und wandte ihr Antlitz nicht von ihm ab. Es war, als ob sie das Rufen in seinem Innern hören würde: Olga . . . Olga . . . Plötzlich schluchzte er laut und warf sich der Mutter an die Brust. Sie umfing ihn mit ihren Armen und hielt ihn, wie er, geschüttelt vom Weinen, seinen Kopf auf ihre Schulter legte. Ihre leisen Tränen begannen zu fließen, aber eine schimmernde Ruhe überbreitete ihr altes, mütterliches Gesicht.

Emanuel Ferdinand raffte sich auf. Noch ganz überströmt vom Weinen und verwirrt blickte er umher und schien jetzt auch den Professor zu bemerken, der sich erhoben hatte und allein am Tisch stand. Eine fliegende Röte stieg ihm in die Wangen, als er seinen alten Lehrer sah, und alles, was zwischen ihnen geschehen war, sprach aus diesem Erröten. Schüchtern 90 trat der Prinz heran, und in seinen Blicken war eine Bitte und ein Bekenntnis zugleich und eine Trauer, die sich jedem Wort entzog. Wie unter einem Zwang nahm der Professor die hingestreckte Hand, fühlte ihren heißen Druck und hörte aus dem Flüstern des Prinzen nur das eine Wort: Beileid, das wie aus höflicher Entfernung an sein Ohr drang. Er verbeugte sich und blieb stumm.

Emanuel Ferdinand schaute an seinem Lehrer vorbei, die Wände entlang, als denke er über irgendein Mittel nach, um jetzt mit ihm zu sprechen. Aber da ward er plötzlich von der Erinnerung an die Stunden, die er einst hier verlebt hatte, gepackt. Dieses Zimmer fing plötzlich an, lauter und eindringlicher zu ihm zu reden; er sah Hermine und Anton an, und ihm schien, als blickten sie ihm noch immer mit denselben scheuen Mienen entgegen, wie damals, da er als Kind unter diese Kinder getreten war. Nur eine hatte ihn hier anders angeschaut, damals schon, zutraulich und heiter und aufmunternd herzlich. Es überwältigte ihn; er lief zu Hermine, er lief zu Anton hin, er führte sie zusammen, nahm sie untern Arm, wie vor Zeiten, und er stand fassungslos neben ihnen und hatte das Gefühl, es sei nun ein Bündnis zwischen ihnen geknüpft, sei zerrissen und wieder geknüpft, und als 91 käme ihm aus der Nähe dieser Beiden Hilfe oder Antwort für seinen Jammer.

»Olga . . .«, sagte er leise und schaute ihnen in die Augen, und sie kamen ihm beide wie Übriggebliebene nach einem Weltuntergang vor.

Er senkte das Haupt und wiederholte noch leiser: »Olga . . .«, aber alle erschraken, denn es war, als wolle er sie herbeirufen.

Seine Knie wankten, und er sank auf einen Stuhl. Nun saß er am Tisch, weinte still vor sich hin, und als die Mutter zu ihm trat, haschte er nach ihrer Hand und küßte sie wie demütig und wie voll Ehrfurcht. Sie streichelte sanft sein blondes Haar, wie man einen Knaben streichelt. Anton und Hermine standen dabei und weinten mit ihm, und sie waren alle in ihrem Schmerz nah verwandt miteinander und eng beisammen.

Der Professor ging hinaus, ohne daß sie ihn hörten. 92

 


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