Felix Salten
Olga Frohgemuth
Felix Salten

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Elftes Kapitel

Er war diese Nacht allein, hatte am Abend, als er zur Ruhe ging, seine Kinder nicht mehr gesehen, und das Bett seiner Frau neben dem seinigen blieb leer. Der Professor konnte nicht darüber nachdenken, wo sie alle sein mochten; er wußte nur, sie waren fortgegangen, um ihm auszuweichen und anderswo vereint zu sein. Ganz still war das Haus, die Möbel standen wie verlassen da, und alles sah wie aufgebraucht aus, beiseitegesetzt, als solle es nicht mehr benützt werden.

Der Professor lag schlaflos und schaute in die dunkeln Stunden, die langsam dahinflossen. Manchmal wurde sein Bewußtsein von einem dünnen Schlummer überzogen wie von einem Schleier, dann fuhr er wieder auf und hörte die Leere um sich her als ein lautes, anhaltendes Tönen. Seine wachen Sinne kauerten unter dem überhängenden Schatten des Schlafes, wie müde Arbeiter unter einem finsteren Torbogen. Was hier geschah, war verletzend für ihn und demütigend; er war hier in der leeren Wohnung wie eingeschlossen in ein Gehäuse von Kränkung. Altgewordene, versteinerte Enttäuschungen, verjährter Gram waren wie Mauern um ihn, neuer Kummer 93 und frische Kränkung hatten Wände um ihn aufgeführt, und da war er nun mit seinem ganzen Leben darin versperrt; niemand kam mehr zu ihm herein, und er konnte auch nicht mehr herausdringen, konnte die anderen nicht mehr erreichen. Sie hatten sich ihm entzogen, hatten sich in Sicherheit gebracht, sie waren irgendwo, wo sie einander an den Händen hielten. Seiner Hände aber bedurfte niemand mehr, man hatte sie vergessen. Die Uhr in der Wohnstube drin schlug sanft die Stunden. Das hörte sich an, als ob ein Blinder zu jemandem reden würde, der längst schon aus dem Zimmer gegangen wäre.

Er trat des Morgens heraus und war ganz eingesponnen in seinen Vorsatz, sich nichts merken zu lassen, an denen vorüberzugehen, die sich von ihm abgewendet hatten, und zu tun, als achte er gar nicht darauf. Hermine und Anton standen mit scheuen Mienen vom Tisch auf, als er in das Zimmer kam, und liefen hinaus. Der Professor schaute ihnen nicht einmal nach. Er holte seine Bücher, während er sie aber zusammenlegte, hatte er mit einem Male Angst und Eile. Es trieb ihn fort von hier, und er wünschte sich, auf und davon zu gehen. Wie eine Wunde hatte er das Gefühl dieser einsamen Nacht in sich, hatte seine Strenge wie einen Verband darübergelegt, und jetzt 94 war plötzlich die Furcht in ihm, es könne eins von den Seinigen hereinkommen, könne mit einem Wort an diese Wunde stoßen, und er würde dann aufschreien, würde sich verraten.

Als er aber seinen Hut genommen hatte, ging die Türe auf und die Mutter kam ins Zimmer. Er wandte sich weg, um sie nicht anzublicken, und wollte gesenkten Hauptes an ihr vorbei. Doch sie war mit einem Schritt bei ihm, sie griff nach seinem Arm, hielt ihn auf, und er hörte sie sagen: »Du wirst heute nicht in die Schule gehen«.

Mit einer völlig veränderten Stimme sagte sie es; mit einem trockenen, schmerzhaften Ton, darin die Erschöpfung nach diesem großen Entschluß aufatmete. Er hob den Blick und sah, daß sie bleich war und daß sie ein wenig zitterte. Aber ihr Gesicht war ganz zusammengerafft, und in ihren Augen stand mit hartem Glänzen schon der Widerspruch gegen sein erwartetes Widersprechen, vorbereitet und drohend.

Der Professor dachte daran, daß man ihn diese Nacht allein gelassen hatte und entgegnete: »Ich werde heute wie alle Tage in die Schule gehen . . .«

Die Hand auf seinem Arm wurde schwerer.

»Laß mich . . .«, flüsterte er unwillig und wollte zur Türe.

95 Da schrie sie kurz auf: »Anton!«

Der Name traf ihn und überraschte ihn wie etwas Neues, tauchte unerwartet vor ihm auf wie etwas, das lange vergessen war. Sie hatte ihn alle die Jahre her Vater genannt; er hatte Mutter zu ihr gesagt, sie waren beide ganz in ihre Kinder und in die Rede ihrer Kinder verstrickt gewesen. Nun drang sie über die Kinder hinweg auf ihn ein, schob sie beiseite und griff mit seinem Namen zu ihm her, wie in jenen Zeiten, da sie einander noch etwas anderes gewesen waren als Vater und Mutter.

Der Professor schaute seine Frau an. Wie sie da vor ihm stand, sah er, daß ihr willenloses, unterwürfiges Wesen von ihr abfiel, ihr demütiger Gehorsam fiel von ihr ab, ihre sanfte Scheu. Aus der Bedrücktheit vieler Jahre richtete sie sich auf, und er spürte, daß der ganze eingewohnte Zwang seiner Befehle, damit er sie immer so leicht gelenkt hatte, jetzt kraftlos versagen werde.

»Was willst du denn von mir . . .?« fragte er mürrisch und wollte sich abkehren. Aber sie hielt seinen Blick mit dem ihrigen fest.

»Ich will,« sprach sie, nun ganz nahe bei ihm, »ich will, daß du mit mir gehst.«

96 »Wohin . . .?« Er rief es hart und in aufwachendem Zorn.

»Dorthin sollst du mit mir gehen . . . Du weißt schon, was ich meine . . . dorthin . . .«

Er entriß seinen Arm ihrer Hand und trat heftig von ihr zurück. »Niemals bringst du mich dorthin. Nie und nie werde ich . . .« Er begann zu schreien.

Aber sie schnitt den Lärm seiner Stimme mit der scharfen Ruhe ihres Wortes mittendurch. »Hör mich an, Anton,« sagte sie, »entweder du gehst jetzt mit mir zu unserem Kind . . .«

»Nein . . .«

». . . oder ich verlasse dein Haus für immer und du siehst mich nicht wieder.« Ruhig und kraftvoll trieb sie die Worte in sein Herz, hämmerte sie ihm mit dem harten Schlag ihrer Stimme ins Ohr, wie man einen Nagel einschlägt.

Er schaute ihr Gesicht an, das völlig verändert war. Ungezählte Antworten sprachen jetzt daraus, Antworten auf seinen Groll, auf seine Verbote, auf alles, was er getan und bestimmt hatte. Er vernahm diese lautlosen Antworten, wie das Gesicht vor ihm jetzt auch alle seine Gedanken vernahm und sich ihnen widersetzte. Da las er Widerspruch aus fernen Jahren, Vorwürfe, die lange verborgen und verhängt gelegen 97 hatten, Anklagen, die aufgespeichert waren, und sie alle waren nun wie aufgedeckt und traten ans Tageslicht.

Der Professor schwieg und schaute seiner Frau ins Gesicht, als müsse er sie kennen lernen, und begriff, daß es von nun ab anders zwischen ihnen sein werde als bisher. Und da war in ihren schmalen, alten Zügen, da war in den braunen Runzeln ihrer Wangen, da war auf ihrer entfärbten, müden Stirne eine vergilbte Anmut; da blühte etwas von Zärtlichkeit und von Lächelnkönnen, was ihn plötzlich an Olga erinnerte; da war in den Augen seiner Frau, die jetzt fest und stark in die seinen blickten, dieser selbe Schimmer, diese selbe Sehnsucht nach Liebe, die in Olgas Augen immer gewesen, wenn man ihr strenge begegnet war und wenn sie zu ernstem Standhalten gezwungen wurde. Dem Professor fiel es mit einem Male wie etwas Neues und Überraschendes ein, daß seine Frau Olga heiße.

»Komm«, sagte sie jetzt und nahm ihn sanft an der Hand; und er folgte ihr.

Langsam gingen sie nebeneinander her, kamen mit schweren, zögernden Schritten aus den Gassen der Vorstadt heraus auf die freien Plätze, kamen an den reichen Häusern vorbei durch die vornehmen 98 Straßen, und der Professor wußte nicht, wohin der Weg führe, den er jetzt wandelte. Er blickte die ganze Zeit über vor sich hin auf das Pflaster und machte in seinem Innern den Kampf noch einmal und noch einmal mit, den er eben mit seiner Frau bestanden, er durchsuchte jedes Wort und jeden Blick wieder und wieder und fragte sich in einem Nebel von undeutlichen Gedanken, warum er schwach geworden sei. Aber die Antwort darauf schien ihm dann wieder gar nicht wichtig. Er kam sich gering geworden vor und erwartete, seine Frau werde nun auch noch andere Dinge von ihm fordern, werde zu sprechen anfangen, werde Klagen und Vorwürfe gegen ihn erheben. Aber sie ging jetzt neben ihm, gedrückt und bescheiden wie immer, und er merkte nur, daß sie still vor sich hinweinte. Sie schien beruhigt, daß er bei ihr sei, und sonst weiter nichts von ihm zu verlangen.

Dann standen sie unter den Arkaden vor Olgas Haustor, gingen durch den marmornen Flur, stiegen die teppichbelegte Treppe hinan, und jetzt erst fiel es dem Professor wieder ein, wohin er seiner Frau gefolgt war. Ein kurzer Widerstand zuckte in ihm, aber da wallte es auch in ihm auf, daß in diesem Hause, von dem er hier umwölbt wurde, Olga liege. Diese Empfindung umschloß ihn so dicht, daß sich nichts in ihm mehr 99 zu regen vermochte. Nur als er die Türschwelle überschritt, schlug es ihm entgegen, daß hier die Welt sei, in der Olga gelebt habe, diese Welt, die er sich in wirren und peinlichen Vorstellungen als etwas Schlechtes und Verbotenes ausmalte, von der er sich immer mit Scham und mit Entrüstung abgewendet hatte, diese Welt, die er nicht kannte, die er in ihrer Unwürdigkeit von sich fernhielt, und in der es für ihn nichts anderes gab als Gescheiterte und Verlorene. Er ängstigte sich wie vor einer Schande vor der Atmosphäre, die er nun atmen sollte. Sein Selbstgefühl bäumte sich, und er mußte es mit aller Kraft in sich niederhalten, mußte es gleichsam mit beiden Händen über die Türschwelle tragen, als er hereinkam.

In dem dämmerigen Vorzimmer öffnete sich irgendwo eine Türe, und breites Licht quoll ihm entgegen. Er fand sich in einem hellen, hohen Gemach, er schritt mit seiner Frau langsam durch helle, weite Zimmer, in denen ein feiner, fröhlicher Duft war, wie von Parfüm und Seide und künstlichen Blumen. Die Pracht dieser Räume schimmerte vor ihm auf wie ein fremdes schönes Land. Er hatte erwartet, hier in die Verkrochenheit von dunkeln Schlupfwinkeln zu geraten, durch Kammern geführt zu werden, die von 100 einem unwürdigen Zwielicht umschleiert wären und in denen alle Dinge eine verächtliche Sprache redeten. Jetzt aber wurde er gehoben von der sonnenbeleuchteten Anmut, die hier strahlte. Der Druck der Demütigung ließ ihn mit einem Male los; er blieb stehen, legte seine Hand auf die Brust und vernahm bis in die Fingerspitzen das laute Pochen seines Herzens. Nun war nichts anderes mehr in ihm als das bange Wissen um ein Geschehnis, das hier unabänderlich vollzogen und düster hinter verschlossenen Türen seiner wartete.

Die Mutter ging wieder voran; sie kamen durch zwei weiße Zimmer, und dann war in der Wand vor ihnen ein schwarzer offener Eingang, hinter dem das schwarzverhängte Gemach wie eine finstere Höhle dunkelte. Das tat sich nun auf vor ihnen, wie sie heranschritten, erschien abgrundtief, und ein feuchter, beklemmender Geruch wehte ihnen wie der Atem eines gespenstigen Mundes entgegen.

Die Mutter ging unaufhaltsam voraus und tauchte in die Finsternis, verschwand darin wie ein Schatten. Als werde er an der Brust gepackt und gezogen, folgte ihr der Professor. Nun ihn die Dunkelheit des Totenzimmers umfing, preßte er die Lippen fest zusammen, denn in seinem Innern hörte er sich aufschreien. Es waren erschrockene, schmerzende Schreie, und sie lösten 101 sich in ihm, wie Steine sich im Schacht eines Brunnens lösen, und wie diese tief unten im Grund versinken, ließ er sie hinabrollen in die Tiefe seiner Seele.

Er sah eine rotschwarze Dämmerung vor den Augen, sah auf dem Boden gehäufte Kränze und Blumen. Alle ihre Farben waren wie gefesselt, und sie lagen ermattet da wie Gefangene. Er sah die schmalen Säulen der Kerzen und die kleinen reglosen Flämmchen, die sie in die schwarze Finsternis emporhielten. Und dann sah er, umstellt von schwarzen Sockeln, umrückt von dem Prunk der Kandelaber, eingehegt von dunkelgrünem Blattwerk und überdämmert von dem durchflorten Licht, undeutlich wie in einem Traum Olgas Antlitz. Aufwärts gewendet lag es da, vom weißen Atlas des Kissens abgehoben. Ein weißes Gewand streckte sich aus, mit steifen Spitzen, mit einem Gewirr von lichten Falten und Gaze, unter dem kein Körper zu sein schien; und darauf lagen zwei schmale kleine Kinderhände ineinandergefaltet. Als hätte man sie zusammengebunden, war die Schnur des Rosenkranzes um sie geschlungen. Diese Hände waren ganz für sich, waren dem stillen Antlitz dort so entfremdet, wie auf Bildwerken manchmal die Hände einer Frau ihrem Gesicht fremd sind und keinen Teil an ihrem Wesen haben.

102 Dem Professor war es, als schwimme dieses aufwärts gewendete Antlitz und dieses hingestreckte lichte Kleid auf einer dunkeln Flut. Nur seine Augen allein schauten all dies, was vor ihm war. Seine Sinne aber und seine Gedanken weigerten sich, an diesem Anblick teilzunehmen; seine Sinne und seine Gedanken waren erschrocken in ihm und abgewendet und wagten es nicht, nach dem zu fragen, was die Augen sahen. Und was davon gegen ihren Willen zu ihnen drang, betäubte sie und machte sie taumeln. Ihm war, als werde ihm hier in einem phantastischen Rahmen ein Abbild von Olga gezeigt. Dort lag dieses Antlitz und schien ohne Wirklichkeit, nahm auf seinen toten Wangen kein Licht mehr auf, und der Kerzenschimmer, jeder Schein von Farbe, alles Glänzen von lebendiger Luft zerging daran und glitt davon ab. Diese schmalen Wangen, dieser sanft geschwungene, erblaßte Mund, diese tiefumschatteten, schlafenden Augen, dieses ganze vereinsamte Gesicht barg einen Willen, der nicht zu Olga gehörte, umschloß etwas Fremdes in sich, wie ein geheimnisvolles Eigentum. Ein Abbild von Olga war das, ein mahnendes Zeichen von ihr, vielleicht eine Prophezeiung. Olga selbst aber mußte irgendwo anders sein, irgendwo in der Ferne.

Er fühlte sich leise angerührt und hörte neben sich 103 das Weinen seiner Frau. Gelöst und ohne Hemmnis entströmte es ihr, glitt auf dem langgezogenen Wimmern ihrer Stimme dahin. Sie drängte sich enger an ihn und lag, wie von Schwäche überwältigt, plötzlich mit ihrem Gesichte an seiner Brust. Er hielt sie in seinem Arm, spürte, wie sie in seinen Rock hineinschluchzte, spürte, wie sie mit ihrem Weinen nach seiner Trauer suchte. Diese Stimme zerriß ihm den Nebel, der zwischen ihm und dem Sarg dort gewesen war. Ihm wurde jetzt auf einmal alles zur Wirklichkeit. Er atmete schwer und blickte hinüber. Dort lag Olga, wie ereilt auf ihrer Flucht. Geduldig und überwunden war ihr Antlitz jetzt, und die Jahre, die sie fortgewesen, entflohen und weggelaufen war, die dunkelten jetzt rings an den schwarzen Wänden wie eine schlimme Tat. In dem Professor gingen undeutliche Gedanken umher, scheu und beklommen, daß er nun recht behalten habe, daß es so weit kommen müsse, wenn eine Tochter ihren Vater verließ, und daß ein Urteil gefällt worden sei, strenger als das seinige. Ihm war, als sei nun unermeßlich mehr für ihn geschehen, als er je geahnt habe, als sei für ein Vergehen, das einst an ihm begangen wurde, nun eine Buße verhängt, so unerbittlich, daß sein Groll davon weggeweht war, sein Zorn und seine Anklage 104 weggewischt und ausgelöscht, und daß ihm nichts mehr übrig blieb, um zu rechten.

Die Frau an seiner Brust schluchzte lauter. Er legte den Arm um sie und flüsterte wie zustimmend: »Ja . . . ja . . .!«

Als er dann hinausging durch die hellen weißen Zimmer, war dieser feine und fröhliche Duft wieder da und wehte ihn an wie der Hauch unbekannter Kostbarkeiten. Aber jetzt spürte er auf einmal in diesen Duft verwoben einen vertrauten Atem. Irgendetwas lag hier in der Luft, das ganz zu ihm gehörte, etwas war hier wie die Atmosphäre in den eigenen Stuben, wie die gewohnte Nähe verwandter Menschen und umfing ihn mit einem Gefühl von Daheimsein. ›Olga . . .‹, sagte er zu sich. Hier war noch in diesen Zimmern der Duft ihres Lebens; hier war noch an diesen Wänden und Möbeln die atmende Spur ihres Daseins. Jetzt erst fand sich der Professor angerührt von ihrer Gegenwart. Jetzt erst wußte er, daß er bei seinem Kinde gewesen sei. 105

 


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