Felix Salten
Olga Frohgemuth
Felix Salten

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Achtes Kapitel

Olga schlug am Vormittag einmal die Augen auf, geweckt von dem Geruch scharfer Essenzen. Ein Gefühl von ruhiger Neugierde bewegte sich in ihr und von merkwürdig spannender Fremdheit, als sei nun mit einemmal alles anders geworden. Da war noch ihr Zimmer mit den seidenschimmernden Wänden, mit dem kristallenen Gefunkel der Karaffen und Flacons vor dem Ankleidespiegel, und den heiteren, hellfarbigen Bildern, die zu ihr niederblickten. Da lag sie in ihrem Bett, unter dem feierlich anmutigen Baldachin, dessen prachtvoll fließende Falten sie Zug um Zug kannte. Und da draußen, vor dem Fenster war der sonnenleuchtende Frühlingstag. Aber dies alles war nun so, als sei es in weite Ferne gerückt, als schaue sie selbst von irgendwoher darauf zurück, als sei es überhaupt nicht mehr ihr wirkliches Zimmer, ihr wirkliches Bett und nicht mehr der wirkliche Frühlingstag, sondern nur noch ein Widerschein und dämmernder Abglanz gewesener Dinge. Olga empfand eine schwebende Leichtigkeit in ihrem Wesen. Ihr Schmerz und ihre Sehnsucht lagen nur mehr noch wie zarte Schleier auf ihrer Seele; sie konnte durch sie hindurchsehen, aber da war nur eine 69 flimmernde Leere, wohin sie schaute. Wie von einer gelinden, aber unaufhaltsamen Strömung war sie hinausgetragen, fort von den Ufern, an denen sie einst gewandelt war. Das glitt nun an ihr vorüber, wurde Entfernung und Vergangenheit. Sie war nicht mehr beteiligt an diesen Dingen, sie blickte nach ihnen, wie man vom Bord eines Schiffes aus nach seiner verlassenen Wohnstätte blickt. Wie lange war das her, seit sie dort gewesen, bei den anderen? Sie wußte es nicht, aber es schien ihr lange Zeit zu sein. Die Bande, die sie einst mit anderen verknüpft und verschlungen hielten, lösten sich nun wie unter den entwirrenden Fingern unsichtbarer, sanfter Hände, sie fielen jetzt ab von ihr, so daß alles Festgehaltensein in ihr aufhörte und sie sich weggeweht fühlte in gewichtlos schwebender Freiheit.

Von der Wand schaute das Bildnis des Prinzen Emanuel Ferdinand zu ihr her. Sie entdeckte es plötzlich und wunderte sich, denn ihr war, als sei dieses Bildnis, vor langen Jahren ungefähr, aus dem Rahmen gestiegen und stürmisch davon gegangen, und als habe sie damals sehr darüber geweint. Jetzt schien es wieder zurückgekehrt, wollte wieder bei ihr sein, und das war sicherlich eine große Freundlichkeit. Olga lächelte das Bildnis an, wollte ihre Hand 70 erheben und ihm zuwinken, aber das gelang ihr nicht. Nun staunte sie wieder, weil es eine so merkwürdige Welt geworden war, in der man nicht mehr, wie sonst wohl einmal, mit der Hand winken konnte.

Der Arzt beugte sich über sie und fragte gütig: »Haben Sie jetzt geschlafen, Fräulein Frohgemuth?« Sie vernahm, was er sagte, und sie sah seinen weißen Vollbart, seine alte runde Nase, seine verkniffenen Augen ganz genau. Aber da stand doch auf einmal Emanuel Ferdinand vor ihr, beugte sich herab und sprach: »Jetzt bin ich ja wieder da!« . . . und im Rahmen an der Wand war der Arzt, wie ein Bild, und durfte sich nicht rühren. Olga begriff, daß dies nur eine Täuschung sei, sie begriff auch, daß sie den Arzt dahier und das Bildnis des Prinzen dort an der Wand in gehöriger Ordnung auseinanderhalten müsse, aber das war ihr zu mühsam. Sie konnte es nicht verhindern, daß die beiden ineinanderflossen, und die Aufmerksamkeit, die sie anwenden mußte, um so viel unruhige Erscheinungen zu unterscheiden, schmerzte sie irgendwo im Kopf und in der Brust. Sie seufzte leicht, und während ihr die Sinne schwanden, lächelte sie, als wolle sie sagen, daß sie nichts dafür könne, wenn sie mitten im Gespräch entschlüpfe.

Immer wieder versank sie während des Tages 71 in die Dunkelheit der Ohnmacht, wurde immer wieder daraus hervorgeholt, tauchte auf aus Schlaf und Finsternis, sah das Zimmer und das Tageslicht immer ferner und ferner, und versank von neuem, jedesmal tiefer und länger, so daß sie beinahe nicht mehr zu erreichen war und die Ärzte zu fürchten begannen, sie sei ihnen für immer entglitten. Als sie wieder einmal an die Oberfläche des Lebens gerissen wurde, schlug eine plötzliche Bangigkeit in ihr hervor. Man wußte nicht, ob es ein Grauen sei, davon sie in der geheimnisvollen Tiefe ihrer Umnachtung angerührt worden war, und das sie mit heraufgebracht hatte, oder ob es ihr jetzt schon Furcht einflößte, wieder zur atmenden Wirklichkeit zu erwachen. Sie aber hob ihr Gesicht aus den Kissen, schaute flehend und gehetzt umher und heftete die Augen dann an die Türe. Wirr und fieberheiß bebte der Wunsch in ihr, es möchte jetzt Einer durch die Tür hereinkommen, ihre Hand fassen und sie, wenn es sie wieder fortreißen wollte, mit Kraft und Güte zurückhalten. Ohne diese Stütze konnte sie nicht bleiben, das wußte sie. Dazu war sie zu schwach und der Sturz, der sie hinunterfegte, zu wuchtig. Ihre ganze Sehnsucht glühte noch einmal in ihr auf, während sie dalag, das mühsam erhobene Haupt von den Ärzten gestützt, und die Blicke nicht 72 von der Tür wendete. Aber diese Aufwallung verflog wie das letzte Rauchwölkchen, das einem niedergebrannten Feuer entschwebt. Nicht einmal den Schmerz darüber, daß man sie vergeblich warten ließ, konnte sie mehr empfinden, so rasch versank sie wieder in Ohnmacht.

Abends war die Mutter da. Man hatte sie schon am Vormittag herbeigeholt, als der Professor noch in der Schule weilte. Doch sie hatte es nicht gewagt, gleich zu kommen und den Tag über fortzubleiben, aus Angst vor ihrem Manne. Nun saß sie an Olgas Bett, niedergedrückt und eingeschüchtert wie immer, und fand nicht einmal den Mut, sich diesem neuen Kummer hinzugeben. Um halb neun ging sie nach Hause, wie sie sonst immer, wenn sie bei Olga im Theater war, nach dem ersten Akt heimging.

Hermine und Anton fragten, als die Mutter kam, wie es stünde. Sie flüsterte nur: »Schlecht . . .« und drängte die Tränen zurück, die ihren alten Augen entstürzten. Dann trat der Professor herein, und sie saßen alle miteinander um den Tisch. Er merkte nicht, daß seine Frau geweint hatte und daß ihre Lippen bebten; er merkte nicht, daß Hermine trotzig nach ihm schaute und manchmal entschlossen schien, ihn anzureden; und daß Antons Gesicht ganz blaß und von 73 Aufregung verzerrt war, merkte er nicht. Nach dem Essen nahm er ein Buch zur Hand und las, wie er immer tat. Die Kinder nahmen Bücher, wie ihnen geboten war, und blickten hinein; die Mutter strickte. Um zehn Uhr befahl der Professor, wie jeden Abend, man solle schlafen gehen, und man legte sich zu Bett wie jeden Abend. Hermine und Anton beschlossen noch eilig und heimlich tuschelnd, am nächsten Morgen mit der Mutter zu Olga zu gehen. Flüsternd sagten sie es noch der Mutter und erklärten ihr schnell, sie könnten alle drei noch rechtzeitig zurück sein. Der Vater würde gewiß nichts erfahren.

Aber Olga lebte nur noch bis zum Tagesanbruch. Ihr Todeskampf war leicht und von den Schleiern mancher Ohnmacht sanft umhüllt. Als die ersten Stimmen des Tages auf der Straße unten laut wurden und sie das Rollen eines Wagens vernahm, horchte sie auf. Sie war mit einemmal ganz erleuchtet von der Gewißheit, daß nun jemand kommen und ihre Sehnsucht, die gleich einer Wunde in ihr war, heilen werde. Nun begann sie zu singen; ein lustiges Lied aus einer alten Rolle, die sie einst gespielt hatte. Das sprang plötzlich aus ihrem Gedächtnis hervor, trillernd und mit behenden, freudigen Worten. Sie sang, damit der Eintretende nicht 74 merken solle, daß sie krank sei, und damit er ihr nicht von neuem wieder böse werde. Der Arzt aber, der an ihrem Bette saß, hörte nicht, daß Olga jetzt sang; er sah nur, daß sie ihre Lippen bewegte, und konnte deshalb auch nicht wissen, welch eine große Anstrengung ihr das Lied bereitete. Olga sang weiter, und ihr Ohr war erfüllt von dem Tönen der eigenen Stimme. Die schwoll zu lautem Jubel an und umfing sie allmählich mit ungeheurem Brausen. Sie meinte zu sehen, daß jemand die Treppe heraufsteige. Wie merkwürdig war das. Ihr Bett stand draußen, auf dem Flur, und da kam Emanuel Ferdinand mit ihrem Vater die Treppen herauf, aber ganz langsam. Nun brach eine tiefe Finsternis jählings und rauschend über sie herein. Nun würde man sie nicht finden, und sie mußte sich entschuldigen. »Ich hab' leider nicht warten können«, wollte sie rufen; aber sie vermochte nur mehr zu lächeln, während sie dahinschwand. 75

 


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