Felix Salten
Olga Frohgemuth
Felix Salten

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Zwölftes Kapitel

Zu Hause saß er still und in sich verschlossen, aber er war nicht mehr allein. Hermine und Anton hatten ihm die Hand geküßt, als er ins Zimmer gekommen war, blieben in seiner Nähe und weinten, wenn es sie wieder überfiel, ohne ihren Kummer vor ihm zu verbergen. Er fühlte, daß die Seinigen wieder zu ihm herangerückt waren; er war nicht mehr ausgeschlossen aus ihrem Kreise und nicht mehr von Bitterkeit gequält. Es war nun überhaupt jede Bitterkeit in ihm erloschen, und er ruhte aus von ihrem jahrelangen Druck. Tief unten auf dem Grunde seines Wesens aber lag ein Schmerz, der noch nicht aufgewacht war, der sich leise zu rühren und zu heben anfing.

Die Mutter ging mit nassen Augen hin und her in ihrer häuslichen Arbeit, die sie nicht lassen konnte. Manchmal aber brachen ihre Tränen heftiger hervor; dann kam sie heran, setzte sich dem Professor zur Seite und wurde bei ihm ruhiger.

Das Dienstmädchen steckte den Kopf zur Türe herein. Der Schuldiener sei hier gewesen und habe vom Herrn Direktor eine Bestellung gehabt. Der Professor solle unverzüglich ins Gymnasium kommen, es sei etwas vorgefallen.

106 Auf seinem Weg zur Schule dachte er plötzlich: Warum lassen sie mich rufen? Sie müssen doch wissen, daß meine Tochter gestorben ist. Und er kam sich mit einem Male sehr schonungsbedürftig vor. Er schritt durch die schweigenden Korridore, vorbei an den Klassentüren, hinter denen nun alle die Knaben saßen und lernten. Dies alles betraf ihn jetzt nicht, und er war auch nicht neugierig, was ihm der Direktor sagen werde. Er war jetzt bemüht, in seiner Erinnerung ein blasses Antlitz festzuhalten, das auf weißem Atlaskissen lag; er suchte danach, wollte es Zug um Zug vor sich sehen, aber es verschwamm in einem trüben Dämmerlicht und er konnte es nicht erreichen.

Der Direktor trat ihm entgegen, bot ihm die Hand und begann: »Ich muß Ihnen zunächst meine Teilnahme aussprechen . . . der schwere Verlust, den Sie erlitten haben . . .«

Dem Professor fiel es jetzt ein, daß weder der Direktor noch die anderen Lehrer jemals ein Wort über Olga zu ihm gesprochen hatten. Niemals war sie vor ihm erwähnt worden. Sie wußten es also, daß sie ihm davongelaufen war und daß er sie verstoßen hatte. Jetzt aber redete der Direktor auf einmal geradezu von ihr, sprach von Teilnahme und Trauer. Auch er nahm also an, daß Olgas Schuld gebüßt sei.

107 Die beiden Männer schauten sich an und verständigten sich mit einem einzigen Blick.

»Leider . . .,« fuhr der Direktor mit inhaltschwerer Stimme fort, »leider bin ich genötigt, Sie trotz Ihrer Trauer zu inkommodieren . . ., es ist ein peinlicher . . ., ein tief betrübender Vorfall . . .« Er biß sich auf die Lippen, richtete die Augen fest auf den Professor und sagte leise: »Adalbert Klinger hat sich erschossen.«

Der Professor horchte auf, aber sein Staunen war kraftlos. »Furchtbar . . .«, sagte er unsicher und in leerem Ton.

»Jawohl . . . furchtbar«, wiederholte der Direktor, und an seinem hörbaren Atem konnte man merken, wie erregt er war. »Ein hoffnungsvoller Jüngling«, sprach er weiter und schüttelte den Kopf . . . »der Stolz seiner Eltern . . .« Er brach ab und zuckte die Achseln; er fand keine anderen Worte.

»Ich kann es mir nicht erklären . . .,« begann der Professor Frohgemuth mit mühsamem Interesse. ». . . nämlich bei mir stand er sehr gut . . . Griechisch und Mathematik . . . soviel ich weiß, ungefähr zwischen lobenswert und vorzüglich . . . Hat er vielleicht in einem anderen Lehrfach Schwierigkeiten gehabt . . .?«

Der Direktor sah durchs Fenster hinaus und kämpfte 108 mit einem Entschluß. »Adalbert Klinger«, sagte er zögernd, »ist ein ausgezeichneter Schüler gewesen . . . es war eine andere Ursache, die . . .« und nun wandte er sich herum: ». . . leiden . . . ich muß es Ihnen sagen . . . Adalbert Klingers Selbstmord steht in einem gewissen Zusammenhang mit . . . mit . . . mit dem Trauerfall in Ihrer Familie . . .«

Der Professor hob erschrocken das Gesicht, denn jetzt fühlte er, daß etwas Schweres ihn treffen würde.

Der Direktor hatte die Blicke gesenkt, spielte wie abwesend mit einem Lineal, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und sagte es leise, bestürzt und verlegen vor sich hin: »Klinger hat sich erschossen . . . aus Liebe . . . aus Gram . . . wegen . . . wegen des Ablebens Ihrer Tochter . . .« Dann zuckte er die Achseln und schwieg.

Der Professor wankte. Ein Sturz von Einfällen und Gedanken, von Schrecken, Beschämung und Kummer fegte über ihn her und machte ihn schwindeln. Da war Olgas Bild, das er bei Klinger gefunden; da war sein Glaube von damals, Klinger habe ihn damit verhöhnen wollen; da war dieser Augenblick, in dem er sich an dem Knaben vergriffen hatte, und jener Glaube von damals war nun beiseitegeschleudert von der plötzlichen Erkenntnis, daß alles 109 etwas anderes bedeutet habe, daß alles anders und schlimmer gewesen sei; und da war nun ein jäher Verdacht, der Olga und Adalbert Klinger umspannen wollte, schmählich und schmerzhaft.

Die Stimme des Direktors schnitt dazwischen. Sie war von angestrengter Sanftheit, aber ein Ton von Empörung zitterte in ihr: »Wir wissen noch nichts Näheres . . . es ist heute vor Tag geschehen . . . man hat ihn im Rathauspark gefunden, ich glaube, vor dem Hause Ihrer Tochter . . . Ihre Tochter hat doch dort gewohnt?«

Dem Professor klang diese Frage wie ein niederschmetternder Vorwurf, und er schwieg.

». . . es soll ein Brief da sein, in welchem der Unglückliche das Motiv seiner Tat ausspricht . . . Jedenfalls wird die Sache . . . ich meine das öffentliche Aufsehen . . . alle diese peinlichen Dinge . . .« Er zuckte wieder die Achseln und wandte sich ab.

Wie geschlagen ging der Professor hinaus. Als er jetzt durch die leeren Korridore schritt, kam er sich geschändet vor und schuldbeladen. Er hatte Angst, eine dieser verschlossenen Türen könne aufgehen und die Kinder, die da behütet wurden, könnten ihn erblicken.

Scheu und wie im Rücken bedroht schlich er durch 110 die Straßen. Konnte das möglich sein? Hatte sie diesen Knaben aus seiner Kindheit gelockt und ihn dann noch mit in ihren Tod gerissen? Was für Dinge gab es in dieser bösen Welt, in der Olga gelebt hatte.

Er mußte stehen bleiben und die Hände auf seine Brust legen. Jetzt tauchte vor seinen umflorten Augen ihr Antlitz auf; nicht wie er es heute im Sarge gesehen, lächelnd und hold sah er sie vor sich, wie auf dem Bildnis, das er Klingers Händen entwunden hatte. Er schrie gequält in sich hinein; er rang eine Zärtlichkeit nieder, die sich voll Wunden in ihm regte, und er hörte auf, irgendetwas zu begreifen. Mußte er sich noch einmal von dieser Tochter abwenden, sie im Tode noch einmal verstoßen? Sein Denken und sein Empfinden ertranken in einem Jammer, der wie eine dunkle Welle über ihm zusammenschlug.

Als er zu Hause in das Wohnzimmer trat, war ein fremder Herr da, saß auf dem Sofa neben der Mutter und hatte ihre Hände gefaßt. Der Professor erkannte ihn sogleich an der Ähnlichkeit. Das war Adalbert Klingers Vater; das war dieses selbe stolze Gesicht, das waren dieselben brennenden Augen. Der Professor zitterte, als er ihn erblickte, und ihm wurde zumute, wie wenn er nun vor seinen Richter treten 111 und Rechenschaft ablegen solle. Unheil ist von mir ausgegangen, dachte er bei sich und hielt die Augen zu Boden gesenkt. Da redete ihn eine gebrochene Stimme an, aus der wie entstellt und von ferne Adalbert Klingers Tonfall herausklang: »Wir sind alle beide . . . alle beide von einem schweren Schicksal heimgesucht worden . . . Herr Professor . . .«

Er schaute auf und sah in ein bleiches, zuckendes Gesicht, das in allen seinen Zügen gealtert und verstört war und nach Fassung rang.

»Ich kann es nicht verstehen . . .«, stammelte der Professor. ». . . ich weiß nicht, wie das möglich war . . .«

Klingers Vater ächzte. »Ach Herr Professor . . .,« sagte er, ». . . was wissen wir von unseren Kindern . . .?« Er schwieg. Dann sprach er weiter, und jedes Wort kam schwer und von verhaltenem Schluchzen erfüllt über seine Lippen. »Mein Sohn . . . wir haben es . . . er war ja noch ein Kind . . . wir haben es für eine harmlose Schwärmerei gehalten . . .«

»Meine Tochter . . .«, stieß der Professor hervor. Er wollte sagen, daß es keine Gemeinschaft zwischen ihm und seiner Tochter gegeben habe.

»Ihre Tochter,« fiel ihm Klingers Vater in die Rede, ». . . hätte sie meinen armen Jungen 112 gekannt . . . hätte sie gewußt, was sie ihm war . . . sie wäre gut zu ihm gewesen . . .«

Der Professor sah den Mann mit weitgeöffneten Augen an.

»Ja . . .,« fuhr der fort, ». . . sie hätte ihm nicht zürnen können . . . er hat ihr sein ganzes Herz geöffnet . . . und wir haben es für eine harmlose Schwärmerei gehalten . . . Gott im Himmel! . . .«

Ein jäh aufleuchtendes Staunen fuhr dem Professor durch alle Sinne.

Klingers Vater aber redete weiter, stockend und dann wieder voll Hast; etwas von Bitterkeit schwoll in seiner Stimme, und die Fassung verließ ihn mehr und mehr: »Vielleicht werden Sie finden, daß Ihr Verlust größer ist als der meinige . . . so eine große Künstlerin . . . und so jung . . . aber Ihre Tochter . . . Alle Leute haben sie verehrt . . . Sie haben doch wenigstens Freude an ihr gehabt, und Ruhm an ihr erlebt . . . obwohl das jetzt doppelt hart ist . . . trotzdem . . . aber mein armes Kind . . . mein Adalbert . . . was hätte aus ihm werden können . . . nicht wahr? . . . Oh, mein ganzes Leben ist vernichtet . . .«

Er schlug die Hände vors Gesicht, und sein Schluchzen klang, als sei ihm die Seele zertrümmert und breche nun stückweise aus ihm hervor.

113 Der Professor starrte vor sich hin. Eine große Künstlerin . . . dies Wort ging vor ihm auf, stand schimmernd vor ihm wie ein Licht. Niemals war ihm Olga etwas anderes gewesen, als ein Kind, das ihm Gram bereitete, weil es seine Lehre und seine Liebe verschmäht hatte, eine Tochter, die ihm Schande machte, weil sie vor den Leuten sang und tanzte. Eine große Künstlerin . . . konnte man eine große Künstlerin sein, wenn man sich vor den Leuten zur Schau stellte und Dinge tat, die einem Mädchen verboten sind? Er hatte andere Begriffe von Kunst. Ihm war sie mit all ihren Werken in Büchern aufgestapelt, war sie ein Vermächtnis der Vergangenheit, und viele gelehrte Männer beugten sich forschend drüber hin. Er wiederholte die Worte von Klingers Vater in seinem Innern: Alle Leute haben sie verehrt . . . alle Leute . . . und das war wie eine neue Melodie in ihm. Daß alle Leute sich an ihr ergötzt hatten, war sein Schmerz gewesen. Daß diese Tochter, losgerissen von ihm, einer ungekannten und gefürchteten Welt als Spielzeug diente, war seine Beschämung gewesen und seine Qual. Verehrt . . . Adalbert Klinger . . . der vornehme, hochmütig in sich verschlossene Knabe hatte sich getötet um Olgas willen, und dort stand jetzt sein Vater und redete mit Ehrfurcht von Olga 114 und nannte sie eine große Künstlerin. Er trat zu dem schluchzenden Mann, legte ihm zart die Hand auf die Schulter und sagte mit schüchterner Innigkeit: »Herr Klinger . . . Herr Klinger . . . auch ich habe mein Kind verloren.« 115

 


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