Lou Andreas-Salomé
Das Haus
Lou Andreas-Salomé

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XVII.

Und heran kamen die letzten Wochen der Ferienzeit, und anders waren sie als die lichten des Anfangs; im engen Raum des Fischerhäuschens durchlebte jeder sie doch so ganz mit sich allein.

Nur für Gitta erhob sich daraus bis zuletzt ein Leben der Herrlichkeit, von dem sie sich nie hätte träumen lassen.

Überhaupt, so meinte sie jetzt: schon der anfängliche Stumpfsinn hier am Strand, der konnte gar nichts anderes bedeutet haben, als daß ihr die ganze Seele bereits entwichen war ins Meer, und ihr armer Leib hatte zusehen müssen, wie es sie immer weiter von ihm forttrieb mit jeder Welle. Das machte jedoch nichts, denn es war, als wisse das große Meer um alles, was je in ihr gelebt. Als ob es ihr nur größer wiederbrächte, was sie so ganz dran verloren – als ob Teilchen für Teilchen der ins Unendliche verschollenen Seele ihr daraus wiederkäme. – »Singt ihr für mich? Singt ihr mich?« fragte sie staunend, schüchtern diese Wellen, die, aus Grenzenlosem dem Strand zueilend, vor ihren Füßen verschäumten. Aber wieviel sie auch zu ihr sprachen: festhalten ließ es sich nie, es schäumte zurück in die Flut: – es blieb des Meeres. Wenn Gitta jetzt noch einfiel, wie sehr sie sich erst vor kurzem um Zusammenfabuliertes ereifert, ja den ärgsten Skandal darum gemacht hatte, so erschien ihr das ganz fern, ganz drollig. Ein Ding aus Tinte und Papier, das, in der Heide vollendet, jetzt in ihrer Koffertiefe lag, erschien ihr wie irgendeine Versteinerung in der See: uralt und sehr unscheinbar. Nie mehr würde sie vergessen können, wie sandkornklein das versank im unermeßlichen Großen.

War nicht, damit verglichen, auch das andere nur sandkornklein, was sie zur Liebe und was sie von der Liebe fortgetrieben? Sie wußte es nicht. Nur daß sie davon nicht einmal im Koffer mehr was mit sich herumtrug. So mochte es doch am Ende nicht ganz dieselbe Seele sein, die ihr ins Meer entschwunden war und die ihr nun wiederkam.

Selten nur, hier und da, wenn Gitta am glückseligsten stillag unter jagenden Wolken und Licht und Dunkel hinging über die See, dann dachte sie wohl unversehens daran, daß sie nie noch mit Markus unter einem so weiten Himmel gestanden, und wie das wohl gewesen wäre. Und dann geschah es, daß sie in diese elementare Landschaft sein Bild hineinzeichnete – aber schließlich zerflatterte es ihren schweifenden Gedanken immer wieder in irgendeinen Nebelstrich, der nicht die mindeste Ähnlichkeit besaß mit Markus.

Jedenfalls, als Eltern und Tochter ins Berghaus zurückkamen, wußte niemand so recht, wie es mit Gitta werden würde – es sei denn Salomo. Denn als Gitta, fast gleich nach der Ankunft, ausging, verabschiedete sie sich von Salomo, ihm in Hundesprache andeutend, daß auch sie nun zu ihrem Herrchen gehe. In ihrer gehobenen Gemütsverfassung nämlich erschien ihr einzig und allein eine ihrer würdige Aussprache mit Markus am Platz.

Salomo war, wenn er auch nicht ganz in die Tiefe ihrer Gründe eindrang, höchst unangenehm berührt davon, da er zweifellos verstand, daß sie ihn verlassen wolle. Man konnte es deutlich seinem Hundegesicht ansehen, als er sie bis ans Gitter begleitet hatte und, zum Heimbleiben verwiesen, ihr nachsah, kummervolle, fast strenge Querfalten in der Stirn, hinter der sein dreifacher Verstand von Mops, Terrier und Dackel aufgeregt arbeitete.

Gitta ging am noch hellen Nachmittag, indem sie berechnete, daß sie, falls Markus sie etwa hinauswürfe, bequem bis zum Abendbrot wieder zurück sein könne, andernfalls aber auch das Gepäck sich noch gut abholen ließe. Unterwegs dachte sie jedoch nicht über sich und Markus nach, sondern über ihre Eltern, die ihr beide Sorgen machten. Denn daß da etwas zwischen ihnen in Unordnung geraten war, sah sie wohl, und wenn sie's auch wunderte, wie sie mit kleinen, irdischen Herzenskämpfen sich abgeben mochten, hatte sie doch von ihren eigenen her noch Verständnis und Nachsicht für dergleichen übrig. Ja, die Armen, die noch nicht darüber hinaus sind! dachte sie mitleidig. Dies war ihr Gedanke vor Markus' Tür.

In der Tür zu den Wohnräumen steckte der Drücker. Ein Beweis, daß der Hausherr anwesend sei. Gitta drehte möglichst geräuschlos den Drücker im Schloß, unwillkürlich betrat sie auch noch auf den Fußspitzen den schon halbdunklen Vorflur. Gerade dies aber mochte den, der bei offener Tür in der Eßstube saß, aufmerksam machen.

»Thesi?« sagte Markus' Stimme fragend.

Und da – sie begriff bis an ihr Lebensende nicht, wie das kam, konnte sie sich nicht enthalten zu stottern:

»He–he–rrr – Dh–ohoktor!«

Jemand sprang auf. Ein Stuhl fiel um. Sekundenlang Schweigen. Gitta verflog aller Scherz – ihr war ja überhaupt nicht im mindesten scherzhaft zumute gewesen.

Markus trat auf die Schwelle, die Hand ausgestreckt – aber das war nur, um das Licht anzudrehen –, hell erstrahlte der Vorflur – unerhört hell erschien es Gitta, heller als die ganze Strandsonne. Sie sah Markus' Gesicht, etwas blaß, etwas starr, und fühlte darüber, daß sie in sein Gesicht sah, große, lebhafte Freude – aber stärker war ihr Schreck über sich selbst, den dummen Witz, und ganz entsetzt stellte sie sich in die äußerste Ecke hin.

Im nächsten Augenblick hatte Markus ihr die Hand gereicht, ganz einfach, so, als käme sie von kurzem Ausgang zurück. »Ich bin eben beim Nachmittagstee – komm herein mittrinken –; dein Gepäck?«

Sie sagte, es sei noch im Berghaus. Da er sie einlud, mitzutrinken, wollte er sie augenscheinlich nicht hinauswerfen. Deshalb nahm sie nun den Hut ab, denn Hüte waren ihr so ungewohnt geworden.

»Thesi muß jede Minute heraufkommen, dann soll sie gleich nach dem Gepäck schicken.«

Sie setzten sich im Eßzimmer an den Tisch, und Markus holte eine zweite Tasse; er goß ihr Tee ein und versorgte sie mit allem, eigentlich wie einen lieben Gast. Das rührte sie ungeheuer, aber sie selbst wagte auch kaum, sich was heranzulangen, gerade wie ein Gast.

Man hörte Thesi kommen, Markus ging hinaus und erledigte draußen, was zu besprechen war. Als er zurückkam, fragte er nach Einzelheiten, und Gitta antwortete, so daß er vom Äußerlichsten doch erfuhr. Gern hätte sie ihm auch vom Innerlichsten gesagt und von den großen Eindrücken, die sie ganz umgewandelt hatten. Allein sie wußte nicht, wie das zu bewerkstelligen sei. Vom Meeresstrande wollte sie gerade zu erzählen anfangen und von den wunderfarbigen Quallen, als ihr störend einfiel, daß sie zergehenden Liebesschicksalen geglichen. Dann erzählte sie aber doch etwas von ihnen.

Vielleicht hatte auch Markus ebenso Großes durchlebt? Ob er in den Bergen gewesen, fragte sie, er habe öfters geäußert, in die Berge gehöre man eigentlich allein.

Nein, dort sei er nicht gewesen, aber doch wiederholt fort – zu wissenschaftlichen Rücksprachen mit Kollegen, in Wien, München, Straßburg. Immer nur Tage.

Er sagte nicht, ob das immer nur für so kurz geschehen wäre, um sie für alle Fälle nicht zu verfehlen, und Gitta dachte auch nicht so unverschämt.

Einsilbiger wurde sie. Den Tee, der so angenehm beschäftigte, hatten sie ausgetrunken bis auf den letzten Tropfen. Markus blickte aufmerksam Gitta zu, die dasaß in ihrem graugrünen Reisekleid mit Gürteljäckchen und aus Brotkrumen Seesterne legte. Ihr Haar war merklich gewachsen, locken wollte sich's nicht, lag jedoch in seiner Blondheit ganz lieb und weich um den runden Kopf.

Unerwartet bückte Gitta den Kopf gegen ihre Teetasse und schluchzte los.

Markus erhob sich, ging aber nicht zu ihr, sondern hin und her im Zimmer.

Es schien ihm angenehm zu sein, daß sie so weinte.

Da sagte sie und schluchzte ganz fürchterlich: »Ich hab' mich versprengt, du weißt ja: wie ein Pferd.«

Er nickte bestätigend: »Equus morbus. Du bist mal so, ich finde nur das Wort nicht gleich, wie du bist.«

»Ungebärdig!« half sie ihm aus unter strömenden Tränen, dem Wort gleich auf der Spur.

»Richtig! Aber es vergeht schon wieder.«

»Wie wirst du mich denn aber zurückfinden, wenn mich's mal so ganz versprengt?« sagte sie plötzlich furchtsam.

»Bist ja nur hinter ein paar Bäumen versteckt!« tröstete er mit einem Lächeln, aber sie fand, im Ton seiner Stimme klang was, als fürchte auch er, es sei ein ganzer großer Wald.

Er konnte ja auch erst urteilen, wenn sie ihm all ihre neuerrungenen Einsichten offenbarte, und warum sie nun so abgeklärt, aller Selbstsucht und Schreibsucht fremd geworden, hier bei ihm saß. Aber freuen konnte ihn das eigentlich nicht, denn dabei war sie ja miteins auch ihre Liebe zu ihm losgeworden.

»Ich sagte dir schon immer: ich bin treulos – wenigstens gegen Menschen, nur zu Tieren gut!« beichtete sie und zerfleischte ihr Herz.

Markus machte halt. »Ach so! Ja richtig: Salomo. Nun, ein Hund ist schon immerhin was: mehr als eine Qualle. Werde nur nicht rückständig, Gittl.«

»Scherze nicht!« rief sie, bange, ob er ihre Beichte verstehe. »Einem Nichts, einem Spatz, könnt' ich treu sein! Nicht als ob ein Spatz mich total ausfüllen könnte – ich meine nur: manchmal, da ist er wie was Großes – alles, was lebt, ist plötzlich drin – verstehst du das wohl? Es ist gewiß unrecht und grauenhaft.«

»Warum denn grauenhaft? Aber vielleicht anfängerhaft. Noch beim Abc. Deine Tiere, die geben für dich nur so eine Art Versuchstiere ab, glaub' ich – wenn auch ein bißchen anders als für mich im physiologischen Institut –, damit noch mal was Wunderfeines für die Menschen dabei herauskommt.« Er hatte sich hinter ihren Stuhl gestellt, die Hände auf dessen Rücklehne. »Tiere sind das leichter Ersetzbare, weil für uns Typischere – doch gibt's das auch unter Menschen. Man liebt aber um so treuer, je individueller man liebt: das schlechthin Unersetzliche, Unwiederholbare. Vielleicht kommst du noch einmal auch dahinter! Es bringt ja allerlei Unbequemlichkeiten mit sich, ist aber doch ganz schön.«

Gitta kehrte sich halb um nach ihm, sich zu vergewissern, ob er noch scherze? Dann irrte jedoch ihr Blick wieder zurück in die leere Teetasse, und sie bemerkte unsicher:

»Daß du so – daß du aber auch gar keine Vorwürfe machst.«

»Vorwürfe? Wem denn?« Markus' Finger hatten an ihr Haar gerührt und gingen über ein paar aufrechtstehende Büschelchen auf der Scheitelhöhe, die sich noch nicht entschließen konnten, nach welcher Seite sie sich legen wollten. »Nach meinem Dafürhalten ist das Dasein eine recht unvollkommene Angelegenheit, alle Fehler und Schwächen unsererseits höchst harmonisch mit einbegriffen. – Würdest du denn deinem Spatz Vorwürfe machen?«

Jetzt drehte sie sich ganz herum, fast erschrocken, um nachzusehen, ob er das da sehr lieb oder sehr grob meine.

Eigentlich hätte sie nicht gedacht, daß das Dasein eine so üble Sache sei. Allein Markus' praktische Anwendung davon auf die augenblickliche Lage sagte ihr außerordentlich zu. Und nun erst erlahmte ihr einseitiges Interesse für die gekrümelten Seesterne neben der Tasse.

*

Am nächsten Vormittag suchte Markus den Schwiegervater in der Klinik auf. Etwas unsicher im Benehmen, weil er nicht recht wußte, wie »Gittas Flucht« schwiegerelterlich wohl gedeutet worden sei.

Doch Branhardts prachtvolle Stimmung half bald darüber hinweg. Wie Männer nach Ferienreisen zu tun pflegen, sagte auch er: »Das Allerbeste daran ist doch die Rückkehr zur Arbeit!« Aber er sagte es nicht nur, die aufgespeicherte Ferienkraft schoß ihm gleichsam sichtbarlich aus allen Poren. In der Tat war ihm ein neuer Plan, und diesmal ganz vorzüglicher, gekommen, wie die zeitraubende Praxis zu vereinigen sein werde mit einem wissenschaftlichen Werk, um das Markus wußte. Hindernisse, insbesondere hinsichtlich des Zeitaufwandes, blieben zwar, allein für Branhardts Temperament bedeuteten solche ja vor allem nur Anregungen, Erneuerungen zukunftsicherer Jugendlichkeit. Markus fand das an seinen neuen Gedanken ebenso bestätigt wie an Blicken und Gebaren.

Branhardts Erfülltsein hielt ihn indessen nicht ab, Markus mit dem lebhaftesten Anteil auf dessen Broschüre anzusprechen, die sich aus dem Kongreßvortrag entwickelt hatte und ihm von unberechenbarer Wichtigkeit schien. Die Art, wie er sich an etwas mitfreuen konnte, es in seine eigensten Lebenserfahrungen miteinbezog, verfehlte nie, den andern zu elektrisieren, Mut und Lust zu steigern. Branhardt, der im gewöhnlichen Sinn ehrgeizig kaum jemals gewesen war, begriff doch aus seiner Freude am Wirken auch jeden Ehrgeiz gut und traute ihn hochgradig dem Jüngern zu, den er bei angespanntem Wettbewerb gesehen hatte, trotzdem er ja gerade von seiner Tatkraft nicht allzuviel hielt.

Markus war es am angenehmsten, den Schwiegervater in dieser Auffassung zu belassen – schon um nicht der verwunderten Frage zu begegnen: »Weshalb sich sonst dermaßen abrackern, den andern immer möglichst um eine Nasenlänge voraus?« Denn die Antwort darauf gab er nur sich selber, schwermütig-stumm: »Weshalb? Weil unsereins für alle Brüder mitschaffen muß an freier Bahn; weil, wo unsereins versagt, sie alle es mitbezahlen müssen; weil ein Jude bei nichts privatisieren darf.«

Schließlich kam Branhardt gar nicht mehr auf das persönlichste Thema; die Verwirrung, die Gitta mit den Ferienplänen angerichtet hatte, mochte er wahrhaftig nicht besprechen. Nachdem das Ganze sich so offensichtlich als bloße Laune herauszustellen schien, erschien nämlich nun hinterdrein Markus' abwartende Haltung als eine geflissentliche und nicht mehr unrichtig, sondern als das beinahe raffiniert Richtige. Aber es reizte Branhardt jetzt weit mehr als es ihn freute, sich einzugestehen, daß sein Kollege und Schwiegersohn in gar so überlegener Sicherheit mit Gittas Schwächen zu rechnen wußte.

Nicht ohne Humor fühlte Markus etwas heraus von dieser gleichzeitigen Über- und Unterschätzung seiner dem Schwiegerpapa immer noch recht wenig bekannten Persönlichkeit, und er fühlte, daß sich da eine sehr intime Schranke aufrichtete. Trotz aller freundschaftlichen Worte, die beide Männer wechselten, trotz beider hohen, wissenschaftlichen Schätzung füreinander, war es nicht mehr ganz wie einst: ihr Verkehr hatte irgendwann einmal gleichsam alle Möglichkeiten enthalten, und jetzt fehlte dies dem Blick Unbegrenzbare, was an Markus am wertvollsten gewesen war. Ein gedämpfter Ton blieb.

Dagegen kam Branhardt vom ersten Tage an viel öfter als früher zur Tochter. Mit einem gewissen Ärger holte er nach, was er im Seebade an zärtlichem Vergnügen, rein um dieses Markus willen, geglaubt hatte, sich pädagogisch versagen zu müssen. Das Villenstraßen-Haus wurde geradezu Nebenbuhler des Berghauses: und lebhaft unterstützte Anneliese das, denn sie wußte, wieviel Zeit es Branhardt sparen konnte, daß er bei Gitta ein so nahes Heim statt des fernen besaß.

Als sie einmal auf Branhardt in seinen Klinikräumen wartete, fand sie sogar verschiedene behagliche und schöne Sachen vor, die Gitta ihm, ganz pfiffig und listig, hineingeschmuggelt hatte. Anneliese freute sich über Gitta und für Branhardt. Es war ja auch ein drolliges Vorurteil von ihm gewesen, sich bisher gerade hier unten kein Behagen gönnen zu wollen! Fast das einzige, was stets seinem privatesten Privatzimmer dort etwas Persönliches verliehen, war ein großes Bildnis von Lotti – eine sehr vergrößerte, dadurch vergröberte Photographie nur: Lotti, ihre Puppe im Arm, einen Ball im Schoß, dem Beschauer lachend zugewendet. Eben diese Aufnahme – mit andern kurz vor dem Unglückssturz des Kindes gemacht – besaß Anneliese nicht bei sich: Tod und Leben waren ihr zu schauerlich einander nahe darauf.

Als Branhardt eintrat, überraschte er sie mit dem Bild in den Händen.

Sein langer, heller Arztblick ging prüfend über seine Frau hin, als sie es etwas zu eilig auf den Schreibtisch zurückstellte. Hatte sie dabei an den Tod gedacht oder an das Leben? Er hätte ihr oft gern in ihre Gedanken geblickt, denn er wollte, diese sollten sich jetzt um Frohsinn bemühen. Aber sie war in manchen Punkten scheu geworden wie ein Mädchen.

»Ich hoffe, du hast dich nicht zuviel zu plagen mit den Handwerkern oben!« sagte er jedoch nur, und sie besprachen häusliche Angelegenheiten, die Anneliese hergeführt hatten: Im Berghaus wurde Baufälliges erneuert, und auch mit Gittas ehemaliger Stube ging eine Umgestaltung vor. Vom elterlichen Schlafzimmer sollte direkte Tür dorthin durchgebrochen werden. Denn der Frühling sollte dort schon ein schneeweißes Babystübchen vorfinden.

Anneliese machte ihre Rücksprache mit Branhardt nicht weitläufiger als notwendig; sie setzte voraus, er habe zu tun. Auch stellte sich gleich darauf schon ein kleines Schweigen ein. Man saß hier wirklich immer ein bißchen wie irgendein Besuch.

Als sie ihren Hutschleier wieder festknüpfte, schien ihm das jedoch nicht recht.

»Hast du denn Eile?« fragte er.

»Gewaltige!« versetzte sie, über seine Frage lächelnd wie über eine Höflichkeit des Überbeschäftigten; – »du etwa nicht?! Ich denke noch bei Gitta vorbeizugehen.«

»Ich hab' dich nicht genug unter Augen!« sagte Branhardt, der wußte, daß sie öfter als in früheren Fällen körperlich litt. »Aber, nicht wahr, du benimmst dich in allem so, als hätt' ich dich unsichtbar unter Augen? – Ungefähr wie den Bösewicht der Herrgott!« schloß er mit Humor; »laß uns des Kindes froh sein, Lieselieb!«

Unter dem Schleier färbte sich ihr dunkel das Gesicht. Mit einer Anstrengung zum harmlos Heitern meinte sie:

»Natürlich wünschst du: ein Junge soll's sein!«

»Ein Junge!« bestätigte er lachend. »Das heißt zunächst. Ein Junge? Vielleicht noch einer! Und dann – und dann – nun, natürlich auch ein Frauenzimmerchen noch!«

Es sollte nicht nur scherzhaft klingen, klang wirklich herzensfroh. Und ganz kindlich sah der Mann mit dem gefurchten Gesicht, der steilen Stirn, auf einmal aus.

Mit einer seiner raschen Bewegungen schob er seiner Frau den Schleier zurück und küßte sie auf den Mund. Und empfand ihr innerliches Beben.

Wie er aber dabei den Kopf hochheben mußte zu ihr, der Größern, fiel ihr über seinem Gesichtsausdruck ein: man könnte immer wieder von ihm denken, der ist noch im Wachsen, der fängt eben wieder neu an, ein Bub.

»Möchtest du nicht doch ein wenig bleiben? Sieh, ganz wundervoll bequem mach ich's dir hier. Und ehe du dich's versiehst, bin ich auch vom Rundgang in der Klinik noch mal zurück«, versicherte er und sah noch immer so froh und knabenhaft aus den Augen.

Allein Anneliese schüttelte den Kopf.

»Die Luft draußen tut so gut.«

Da bestand er nicht weiter darauf und geleitete sie hinunter.

Aber der so rasch Fortgegangenen mußte er unwillkürlich hinterherdenken, während er zu seinen Kranken hinüberging.

Zum Beispiel: warum erzählte er ihr nicht, einfach schon weil das Gespräch mehrmals stockte – übrigens drollig zwischen Eheleuten –, von den zwei jungen Freunden, denen er seine freien halben oder ganzen oder viertel Stunden jetzt gab? Vielleicht hatte er vor Zeiten des einen Erwähnung getan: denn Branhardt schien, schon seit langem war dieser Knabe – Handwerkersohn, der sich aus unglücklichen häuslichen Verhältnissen herausrang – ihm nachgegangen, bis er begriff: hier brauchte ihn jemand weit über Berater oder Arzt hinaus. Den andern lernte er sehr zufällig kennen, als Insassen der Nachbarklinik: Beinbruch. Student in ersten Semestern, mit allen Gütern der Begabung gesegnet: dachte Branhardt nur daran und an den kühnen, klaren Jünglingskopf, dann lachte ihm das Herz im Leibe.

Vielleicht würde es bei den zweien nicht bleiben.

Nicht Ersatz für den Sohn war es und kein Vergessen des Sohnes. Aber dies machte ihn glücklich daran: daß aus einem Schmerz, den er gefühlt und fühlbar behalten, etwas merkwürdig Tatbereites sich strecken konnte – Jungem entgegenstrecken wie offene Hände –, auf Jugend Wirkung zu tun, nach ihr zu fassen, sie zu leiten, zu bereichern.

War das wohl der Grund, warum er Anneliese noch nicht Wesentlicheres davon erzählt hatte: weil dieser neue Reichtum ihm aus seiner Verarmung am Sohn quoll, diese Kraft aus einer Verwundung, um deren Art selbst sie nicht ganz wußte?

Läge das Berghaus nicht so fern, würde sich ohnehin alles unter ihren eigenen Augen abspielen.

Als Branhardt dann aber seine Privaträume in der Klinik wieder betrat, drängte sich's ihm auf: es hatte in all den Jahren doch wohl eine Spur Absicht, Bemühung drin gelegen, hier alles gar so kahl und kalt zu lassen – bloßen Aufenthaltsraum zwischen zwei Krankengängen in die Frauensäle drüben. Auf jeden Fall gut und ehrlich durchgeführte Absicht: im Berghaus allein sollte jeglichem sein einziges Heim werden. Doch nun wollte er's auch gutheißen vor sich selber, daß ein Stück Wohnlichkeit sozusagen vom Berghaus bis hierher sich versprengte – ungefähr, als habe einer von dessen unlogischen kleinen Ausbauen und Erkern zu ihm auf die Wanderschaft sich begeben. Für diesen oder jenen der jungen Menschheit wenigstens ein zeitweiliges, stundenweises Zuhause.

»Immerhin ein Stück Heimlichkeit – Heimischheit«, er fahndete nach einem richtigeren Ausdruck, als sei er seine eigene Tochter Gitta und erst mit der Namengebung die Sache in Ordnung gebracht – »zum mindesten ein Heim-Ambulatorium.«


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