Lou Andreas-Salomé
Das Haus
Lou Andreas-Salomé

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IV.

Der kleine Anbau mit Holzveranda über der »Truhenstube« lag neben Branhardts Studierzimmer, durch Doppeltür davon getrennt und mit großen, vielscheibigen Schiebefenstern versehen, die von allen Seiten Sonne einließen, sowie den schönsten Blick freigaben gegen die Höhenzüge jenseits des Tals. Auf Borden und Bänken pflegten hier Pflanzen zu überwintern, ihrethalben stand auch ein eisernes Öfchen darin. Daneben öffnete die Tür sich auf die überdachte schmale Veranda – nur eben groß genug für einen bequemen Sessel –, von der das Holztreppchen steil in den Garten sprang.

Anneliese fand, hier solle Balduin tagsüber sein Eigenreich haben, und da man seine Heimkehr für den folgenden Tag erwartete, war sie dabei, es ihm einzurichten. Sie ließ die Pflanzen und meisten Gestelle forttun, seine Bücher aber auf deren Hauptbord unterbringen, nahm den blaßgrünlichen Ölanstrich der Wände feucht auf, deckte über den alten Gartentisch dunkelgrünen Wollfries, zog etwas getupften Mull längs den unteren Scheiben und holte endlich noch ein paar Korbsessel heran, die sommers auf dem Altan dienten. Für ein Bett blieb kein Platz.

Während sie sich jedoch damit beschäftigte, den kleinen Raum schön und behaglich zu machen, wünschte sie dabei im stillen, all dies möge nicht nötig sein. Sie bekannte sich's, wie sehr sie einen Sohn ersehnte, der heiter und stark neben ihr gestanden hätte, in aufblühender Männlichkeit, des Vaters Jugendbild, und einst ihr die bekannte »Stütze im Alter«, wie man es sich so ganz trivial wünscht.

War's denn natürlich, daß sie ängstlich darauf bedacht sein mußte, Störungen fernzuhalten von ihm? Daß ihr schon schien: seine Schlafkammer oben bei ihnen, die läge zu nahe der Treppe und allem Kommen und Gehen – zu nahe jetzt auch der Gaststube, für die sich soeben ein Gast angesagt hatte, Anneliesens Kindheitsgespielin Renate, die etwas lebhaft auftrat und im ganzen mehr Rücksichten erwartete als nahm.

So frischen Herzens Anneliese ihre Arbeit begonnen, so müde hatten solche Erwägungen sie gemacht, als sie fertig war und hinaufstieg, um Staub und Schürze von sich zu tun.

Oben bei ihr im Schlafzimmer stand der elterliche große, sehr alte Sekretär, den die Kinder wegen seiner vielen verschmitzten Fächer, Schlösser und Federn »Geheimniskasten« nannten. Da lagen auch die Briefschaften ihrer Mutter und noch ältere Briefe. Anneliese dachte wieder daran, was sie kürzlich gegen Branhardt geäußert hatte über eine angebliche Geisteserkrankung ihres Großvaters mütterlicherseits. Sie zündete ihre Lampe an und öffnete ein Fach.

Branhardt, der sonst um diese Zeit eintraf, befand sich unterwegs zu ärztlicher Beratung in eine zwei Bahnstunden entfernte Stadt und kehrte über Nacht nicht mehr heim; Gitta besuchte, nach der längeren Abwesenheit, die »besten« ihrer Freundinnen. So blieb sie in aller Muße über ihren Briefen und fand bald, wonach sie gesucht: beruhigenden Aufschluß in den Niederschriften ihrer Großmutter, die, nach des ersten gemütskranken Gatten Tode, sich nochmals vermählt hatte. Diese Schriftstücke selber jedoch fesselten Anneliese bald derartig, daß ihr darüber der ursprüngliche Anlaß zu ihrer Lektüre aus dem Sinn schwand. Da gab es Tagebuchblätter, gerichtet an den geistesumnachteten Mann, und die ganze Qual, erlitten um ihn, der »nicht mehr verstand«, zitterte noch in ihnen; das ganze leidenschaftliche Bemühen auch, ihn sich herauszuretten aus der Wirrnis seiner selbst – seine Spur nicht zu verlieren, die aus glücklicheren Tagen heraufführte –, mit der Gewalt der Sehnsucht und Erinnerung so viel Schönheit auszugießen über ihn, daß sie das Dunkel um seine Gestalt hinwegzulöschen schien.

Anneliese saß und las von Seite zu Seite in immer steigender Ergriffenheit.

Trauerumrandete Gedenkblätter folgten, doch eines Inhalts, der mehr dem Wiedersehen galt als einem Verlust: denn dem frommen Glauben der Witwe war der Heimgegangene wiedererstanden zur Geistesklarheit – war er nun wieder nahe dem Erleben all ihrer Tage, das sie vertrauensvoll vor ihm ausbreitete. Und in der Tat trat er gerade aus diesen Blättern dem Lesenden ganz besonders lebensvoll vor den Blick: enthoben dem Kampf und Schmerz, aber auch der Überspannung, die zu angstvoll an seinem Bilde gemalt hatte – überzeugend geschaut wie in festem, ruhigem Goldumriß seines wahren Wesens.

Spätere Jahre brachten noch einmal dieser Frau spätes, großes Glück. Doch auch dann, ja am Tage selbst, da die zweite Ehe geschlossen wurde, wandte sie ihm, mit dem sie alles geteilt, voll Unschuld ihre ganze Seele zu, und man konnte nicht lächeln über die Naivität, womit es geschah, über die kindliche Kühnheit der Vorstellungen, die dies Erdenglück wie selbstverständlich bis in den Himmel trugen, ohne daß es einbüßte an seiner warmen Erdenkraft. Das blieb fortan so: an allen Erinnerungsfeiern, Gedenkfesten, Geburtstagen der Kinder – immer gab sie ihm, der darauf herniedersah, rückhaltlos ihres Herzens Erlebnis her. Allein er selber erschien hier nicht mehr in so zwingend deutlichem Bild wie zuvor – aufgegangen schien er im Strahl, womit er das ihre umleuchtete – erloschen schon, während es ihr noch leuchtete –, nur noch Glanz und Weihe über ihrer Erde: ihrer eigenen Schönheit nur noch ein Teil.

Dieser dunkle Unterton unter dem glaubenshellen, hindurchwirkend gegen den Willen der Schreibenden, hatte eine Einfalt und Macht, wie beabsichtigt von einem großen Dichter. Von Dichterblut gewesen war die Frau, die da, was sie lebte, dem Toten schrieb.

In Anneliesens Geist spukte nichts mehr von den schwarzen Vererbungsschatten, denen sie kleinmütig hatte nachspüren wollen. Sie stand, dankbar, ganz still unter dem starken Licht, das aus dieser Vergangenheit brach – und auch über ihren Kindern ruhte.

Gitta, als sie kam, wunderte sich, ihre Mumme im Schlafzimmer aufsuchen zu müssen.

»Ach, so alte Briefe – so gelbe schon –, von wem denn?« fragte sie.

»Von deiner Urgroßmutter.«

»Du siehst ja aber aus, Mumme, als ob sie sie dir eben geschrieben hätte. Hast du's denn nie gelesen?«

»Wohl nicht – oder mit lässigen Augen, vor denen, was schön ist, sich zurückhält«, sagte Anneliese. Sie zog Gitta, die sich darüber gebückt hatte, an sich.

»So schön ist es? Ach, laß mich mitlesen, Herzensmumme! Ich bin ja die Urenkelin.«

»Hoffentlich bist du's.« – Anneliese mußte denken, wie wunderlich das war und wie fein, daß im Ton vieler dieser Blätter etwas lag, was in seiner kindlichen Reinheit zu einem so jungen Mädchen sprechen konnte – und daß doch auch daran hätte weit werden können das Herz eines Menschen, der alles in sich durchrungen hat.

Sie gab der Tochter viele von den Blättern.

Gitta befaßte sich sofort mit der Lektüre, mit einer Gründlichkeit, die Anneliesens noch weit übertraf. Jede Wendung beachtete sie, vieles las sie zweimal, und Anneliese hatte sich anzustrengen, um in ihrem Gedächtnis all dem nachzuforschen, was Gitta von der Schreiberin dringend wissen mußte. Zwischendurch unterbrach sie sich mit dem Ausruf: »Nein, diese Urgroßmumme!« Und bei kleinsten Zügen hielt sie sich mit einem Eifer auf, der leise das rein Gefühlsmäßige in den Hintergrund schob.

Wer das mit ansah, diesen sachlichen, fast strengen Ernst, dies stillhaltende Verstehen, der verfiel wohl nicht leicht darauf, Gitta für den gedankenlosen Taugenichts zu halten, als den sie sich erst vor Tagen hervorgetan hatte, sagte sich Anneliese im stillen.

Gitta war auch nach der Lektüre noch nicht fertig: sie fing im Gegenteil erst an. Denn nun verlangte sie von den Kindern der Urgroßmumme zu wissen, dann von Anneliesens Elternhaus, um das sie sich bisher nicht im geringsten bekümmert.

Anneliesens Mutter, Brigitte, nach der Gitta hieß, war von anderm Schlage gewesen wie die Urgroßmutter: eine richtige einfache Gutsfrau, tüchtig und nüchtern, heimlich vom dringenden Wunsch beseelt, auch ihre fünf Töchter so zu erziehen – aber eine warme Güte vereitelte es stets und ließ sie jede hausbackene Arbeit selbst übernehmen, damit die Mädchen ihren geistigeren Neigungen frönen könnten, auf die sie keinen Pfifferling gab. Darüber merkten ihre Töchter den mütterlichen Lebensplan nie so recht, den sie nicht genügend auseinanderzusetzen verstand, regten sich jede auf ihre eigene Art, und allzeit ging vor ihnen her durch das Haus die Freude.

Diese unpraktische Liebe der Praktischen hatte sich vortrefflich bewährt: von den Töchtern schlug eine immer besser ein als die andere. Und obgleich die Mutter ihren verschiedenen Geistesneigungen stets so fern gestanden wie nur möglich, so haftete doch an jeder der ihnen gewidmeten Stunden unverwischbar ihr Bild: das einer weißhaarigen Frau, liebevoll gebückt über irgendein Tun, das gar nicht ihr zukam, vielmehr zehn jungen Händen und Augen, denen sie es schenkte.

Es ließ sich nicht bezweifeln, daß Gitta gerade hiervon Mitteilung zu machen, ganz bedeutend unpädagogischer genannt werden mußte als alles, wovon bei der Urgroßmutter zu lesen stand. Doch Anneliese gab sorglos her aus dem Liebesschatz ihrer Mutter, überzeugt, was so schön sei, verhelfe jedem jungen Leben auch nur wieder zur Schönheit. Von solchen Erfahrungen konnte sie nicht vorsichtig berichten, erziehlich berechnend und mit Nutzanwendungen: ihr schien, sie seien zu kostbar dazu.

*

Gitta hatte das noch während ihrer Schulzeit neu angegliederte Mädchengymnasium schlecht und recht, in aller Gemächlichkeit, durchgemacht, nur weil sogar der Vater dies für ganz ersprießlich hielt. Im übrigen konnte ihr »geistige Interessen« eigentlich niemand nachsagen, trotzdem sie sich gerade mit der Musterschülerin des Gymnasiums, einer Pastorstochter aus dem nahen Hasling, befreundet hatte; wie sie versicherte: aus lauter selbstloser Freude an deren Vollkommenheit und aus wirklicher Zuneigung zu so vielfachen Tugenden. Von sich behauptete Gitta ebenso unbeirrt, geistvoll sei sie nur des Nachts – was sich beweiskräftig schwer feststellen ließ, da sie mit den Hühnern schlafen zu gehen pflegte. Wachte sie aber auf, dann schien ihr immer, als besitze sie nicht nur Geist, sondern obendrein ein wahrhaft hervorragendes Zeichentalent: so greifbar deutlich, in jedem Umriß, konnte sie Köpfe, ganze Gestalten vor sich sehen. Doch auch ein Abreißheft von rauhem Papier und schöne, weiche Bleistifte – darunter bunte, wie für Kinder – führten zu gar nichts.

Einmal machte sie eilig Licht und entschloß sich, was gezeichnet nicht herauskommen wollte, auf dem rauhen Papier mit den bunten Stiften ungemein farbig in Worten auszudrücken. Sogleich stellte Salomo in seinem Polsterkorb sich gähnend auf – den ernsthaften Hundeblick, trotz Schlaftrunkenheit glänzend und pflichteifrig wie immer, auf sie heftend: als assistierende Muse gleichsam.

Noch blinkten ins Fenster die Sterne hinein, man sah in die Luft wie gegen einen zugezogenen Vorhang. Nur von der Stadt her schimmerte es schon aus vielen Lichtern talaufwärts: der ungeduldige Tag der Menschen.

Da rollte ein Wagen langsam die Landstraße hinan – hielt. Die Gartentür knarrte.

»Der Vater!« sagte Gitta zu Salomo. Branhardt kehrte von der kurzen Berufsreise heim.

Sobald Gitta an seine berufliche Tätigkeit dachte, faßte sich für sie alles in dem einen zusammen, daß er Menschen ins Leben hineinverhalf. Sie stellte sich nicht vor auf welche Weise. Sie dachte einfach dabei an die ausgestreckte Hand Gottvaters in der Decke der Sixtina, wie sie den Menschen anrührt: »Lebe!«

Nun dämmerte es schwach. Vor dem Fenster stiegen Nebel auf und nieder.

Der arme Vater mochte wohl müde und hungrig sein und wärmebedürftig, und er mußte so bald wieder zur Klinik.

Gitta besaß eine blühende Phantasie; die half ihr, ebenso lebhaft wie ihre Köpfe und Gestalten auch dies vor sich zu sehen, wie sie jetzt sogleich aufstehen werde, für den Vater sorgen, zusehen, daß er auch alles richtig bekam – wenn auch Frau Lüdecke Bescheid wußte mit solchen Fällen, ganz anders schmeckte es jedenfalls, bereitet von der Tochter Händen: so las man immer –. Überdies wurde es nun ohnehin Zeit aufzustehen, dachte Gitta noch, worauf sie einen langen Schlaf tat.

Von ihr wußte man schon, daß sie zwar mit den Hühnern ins Bett stieg, keineswegs aber es mit ihnen verließ.

Bei ihrem dementsprechenden Erscheinen am Frühstückstisch fand sie zu ihrer größten Überraschung Balduin vor. Sein Wagen, nicht Branhardts, war vor Morgengrauen herangerollt. Obgleich die Bahnentfernung nur wenige Stunden betrug und er aufs bequemste mittags hätte eintreffen können, war er doch bei Nacht und Nebel aufgebrochen, um ganz plötzlich da zu sein, denn dafür hatte Balduin eine Liebhaberei. Er erwartete von jeher etwas ganz Absonderliches davon, was indessen nie eintraf.

Am Heimkehrglück verschlug's nichts: das strahlte ihm so vom Gesicht, als ob er nach tausend Fährlichkeiten gelandet sei aus Australien. Bei seinem Anblick hätte man meinen können, zu bedrücken vermöge hinfort ihn nichts mehr, seit er wieder da war, »zu Hause«.

»Nun bist du wieder der Prinz Nimm-von-mir!« sagte Gitta lachend, doch ein wenig beschämte es sie auch. Sie, wenn man sie reisen ließ, hatte am Wechsel so unbändige Lust – natürlich blieb's auch schön, dann heimzukehren, aber so ein bißchen selbstverständlich schön: ein Glück hinzu zum andern. »Freilich: wenn man aus solcher Strafanstalt erlöst wird!«

Sie folgte ihm in sein neues Privatreich, den kleinen Anbau bei der Holzveranda, wohin er sich schon hocherfreut sein Gepäck hinübertrug. Lebhaft erzählte er dabei von der Anstalt, wie langweilig und anstrengend gleichzeitig es dort gewesen sei; das Stichwort dafür – »Strafanstalt!« »Erlöst!« – hatte ja Gitta bereits gegeben. Mit der verblüffenden Sicherheit eines Schnellzeichners auf bestelltes Thema entwickelte er daraus ein ganzes Album von Karikaturen des Personals, der Gäste, der Ärzte – aber obgleich es ihn unter Gittas beifallsfröhlichem Gelächter zu immer tolleren Ausfällen trieb, blieb doch, vom Ausgang der Stichworte her, fast künstlerisch etwas dran haften von nicht zu Karikierendem, Erlösungsbangem – das noch ungerechter als Spottlust sich an der Wirklichkeit vergriff. Es war wie eine plötzliche Rache, gar nicht beabsichtigt, nur aus der übermütigen Sicherheit des Zu-Hause-Glücks heraus und eingegeben von der Minute.

Von der Hoffnung auch, dorthin nicht mehr zurückzugehen. Denn das wußte er ja: kaum würde er dort einen von ihnen wiedersehen, die in Wahrheit alle gut zu ihm gewesen – so kam ihm die Scham. Eine ärgere Scham, als wenn er sich vor ihren Augen ungebührlich benommen hätte und es durch doppelten Anstand vergessen machen müßte. Und an dieser Scham konnte dann jeder ihn beliebig packen, wehrlos und hilflos, ihn sich zu eigen machen, bis Balduin sich selber hineinredete in eine übertriebene Hingebung – oder bis er zuletzt in einer solchen viel zu vertraulichen Minute wieder einen andern vielleicht preisgab.

Anneliese, die dazukam, hatte an diesem Tage nur Blick für das Frische, Heitere seines Wesens. Ein gesunder junger Mensch, so nahm er sich aus, trotz der schmal und lang aufgeschossenen Gliedmaßen, denen übrigens die beibehaltene knabenhafte Tracht – dazumals nur als »Radfahrertracht« üblich, obschon Balduin nie eine der betreffenden Maschinen bestiegen haben würde – vorzüglich stand. Nur seine Hände, von Natur edel geformt, wurden des Winters von Frostbeulen entstellt, gegen die nichts half. Auch an den Füßen befielen ihn die, Jahr für Jahr; das stete Bewußtsein davon beeinträchtigte seinen Gang und sogar seinen Gesichtsausdruck.

»Bliebest du doch jetzt hier, so wohl wie du bist!« sagte Anneliese mitten hinein in seinen heimlichen Wunsch, der über den eigenen Spottreden – sozusagen über dem Abbau der Anstalt – aus einem bloßen Wunsch zur verzweifelten Entschlossenheit geworden war, diese unvermutete Stätte der Zerstörung niemals zu betreten.

»Hierbleiben? Selbstverständlich doch, Mutter. Gleich sag' ich's dem Vater – suche ihn mir unten auf –, mit dem Studium geht's jetzt los! Am liebsten spring' ich ins Semester mitten hinein. – Geschichte, Literatur und – oh, du sollst mal sehen, Mutter – du wirst schon sehen!«

»Wirklich, Balder?!« Sie stand im kleinen Winkel bei ihnen, wo drei sich kaum bewegen konnten, aber sie konnte ihn ja auch gar nicht nahe genug haben. »Ich wußt' es ja – ach, du, das hab' ich gewußt! So muß er mir ja zurückkommen, froh und gesund – mein Balder, wie er leibt und lebt!«

Wer Anneliese in die Augen sah, dem mußte scheinen: vor einem ganzen strahlenden Weihnachtslichterbaum stehe sie schon und spiegle ihn wider. Aber auch dies Weihnachtliche war darin, daß man die Lichter, eins nach dem andern, in Gedanken schon hat aufflammen sehen, ehe sie alle brennen.

Gitta betrachtete mit gemischten Gefühlen die Freude ihrer Mumme, wie sie so beim Bruder saß und sie die Zukunft berieten. Was der Balder doch gleich für ein Glück brachte mit seiner Heimkehr! Sie dagegen, hatte sie nicht sofort am ersten Tag nur Unfug angerichtet und alle Welt enttäuscht? Sie mußte nun wirklich zusehen, daß sie tunlichst bald ein rechtes Glanzstück folgen ließ.

Als Balduin seine eigenen Versicherungen so unmittelbar im innigen Glauben der Mutter an ihn entgegentraten – ja, ihm eigentlich schon vorweggenommen waren durch eben diesen Glauben –, da erfaßte ihn eine eigentümliche Bangigkeit. Gewiß glaubte er an alles das – felsenfest sogar! Nie hatte er noch so fest an was geglaubt, schien ihm. Allein, indem man Anneliese damit gegenüberstand, fühlte man eine geradezu peitschende Verpflichtung, es nun auch restlos schön hinauszuführen – so wunderschön, wie es doch wohl erst wurde durch ihren Blick, der darauf fiel, durch ihr Wesen, das es aufnahm.

Er selber malte sich freilich die Dinge erst recht mit allen Farben aus, übertrieb sie sich nach Möglichkeit, doch das band ihn ja nicht! Vor ihren zärtlichen, ernsten Augen hingegen – wenn er sich da auch nur im geringsten unwahr vorkommen müßte – so einer, der sich aufhielt, protzt, heuchelt und dann versagt: wie hielte er's da noch in seiner Haut aus?

Ach ja, herrlich war's hier zu Hause! Aber eben darum – ach, eben darum nicht für ihn! Das Herrliche ihm immer wieder so fern entrückt, wenn er danach griff – so seltsam unerreichbar. Hungrig und müde trat er an eine für ihn so reich besetzte Tafel und konnte sich nichts davon nehmen.

Anneliese entging es nicht, wie im Laufe des Gesprächs sein lebhafter Gesichtsausdruck sich veränderte, gleichsam erlosch. Er fing über allerlei zu klagen an, um Kleinigkeiten, um einen Riß im Rockfutter, um sein körperliches Befinden, der eine Fuß war unterwegs schlimm geworden. – Zuletzt fehlte nicht viel, so stand er in der Tat da als ein Armer, in Lumpen gehüllt, mit Schwären bedeckt.

Auch Gitta bemerkte es: Prinz Nimm-von-mir empfahl sich, und an seiner Stelle saß bereits Kaspar Habenichts mit den Frostbeulen.


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