Lou Andreas-Salomé
Das Haus
Lou Andreas-Salomé

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XV.

Schon hinter der letzten Bahnstation, wo Branhardts übernachteten, wurde es meereseinsam im Lande. Aller Wechsel von Menschen und Zeiten trat zurück hinter Alleinherrschaft dessen, was ewiggleich standhält. Wie einst breiteten struppige Ebenen sich um sie aus, bedeckt mit Riedgras, worin schnurgerade Linien enger Kanälchen sich verloren, an deren Rand tiefblau Enzian stand, sie hier oder da allein lieblich unterstreichend. Struppig wie einst weideten kleine braune Ziegen dazwischen, im Umriß hölzern, wie von ungeschickter Hand zurechtgeschnitzt, und noch in ihren Sprüngen, ihrem Gemecker so sonderbar automatenhaft, daß auch sie kaum abgelöst erschienen vom bloß Landschaftlichen.

Noch weiterhin, über Dünenrücken, schimmerte Grün: schmale Striche Strandhafers, der Jahr um Jahr aufs neue, Halm bei Halm, rieselndem Boden eingepflanzt wurde, damit seine winzigen Hälmchen das noch Winzigere: Körnchen der großen Versandung, aufhalten möchten. Und endlich, hinter der Rettungsstation, deren Nebelhorn nach wie vor seine heulende Warnung hinausschrie – hinter deren trügend sanftem Ufer nach wie vor treppenartige Klippenriffe Schiffen auflauerten, betraten Branhardts des Landes äußerste Spitze: wo zwischen Nord- und Ostsee letzte Scheidewand fällt. Schauspiel freilich, das ihnen an Größe eingebüßt zu haben schien, beinahe wie Augen Erwachsener der Schauplatz ihrer Kindheitseindrücke sich verkleinert. Denn damals, in sturmreicher Vorfrühlingszeit, donnerten beide Meere mit ganz anderer Wucht gegeneinander als in diesen Hochsommertagen. Atemberaubt hatten sie – fliegenden Gewandes, an Händen einander festhaltend, als entfliege sonst einer dem andern ins Unendliche – davorgestanden: und es brauste ihnen ins Blut, und es durchbrauste ihre Tage und Nächte, daß auch ihre beiden Leben sich, wie noch nie, umfangen und ineinander verströmt hatten, ledig allerletzter Menschenschranken.

Wo sie damals gehaust, da empfing sie die zweite Veränderung, und hier entgegengesetzte: nichts Geringeres als ein Riesenhotel anstatt des Hüttchens erhob sich im Rohbau; im Nebengebäude eröffnete es vorläufig bereits seine Gastwirtschaft. Doch fand sich hart am Strand ein helles, steinernes Fischerhäuschen, das ihnen gastlich wurde. Die Fischersfrau, deren Mann um diese Jahreszeit nur selten den entfernten kleinen Hafen anlief, um heimzukehren, siedelte mit ihrem Brustkind in Giebelraum über; in Kammer und Stube richteten Branhardts sich ohne Säumen ein.

Ein herrlicher Tag war es; das Meer lauter Lockung, hineinzuspringen. Aber obgleich ein tiefer Dünenkessel neben dem Haus zu so paradiesischem Gebaren förmlich einlud, schienen ein paar neu entstandene Badekabinen – offenbar schon vorgeschobene Posten des Hotels der Zukunft – mit ihren ehrbaren Mienen davon abzuraten. Man fügte sich denn auch dem fortgeschrittenen Geist der Zeit, was Branhardt jedoch alsbald bereute: denn zu seiner außerordentlichen Überraschung wurde Anneliese nach ihrem ersten Bad in ihrer Kabine ohnmächtig.

So hatte er sich gleich anfangs seiner Frau in einer Fürsorge zuzuwenden, der diese Gesunde, Starke selten genug bedurft und die er doch zu leisten verstand wie kein zweiter. Wenn Anneliese sich auch lachend dagegen wehrte, so »huckepack« genommen zu werden wie ein auf den Rücken geladenes Kind, gefiel ihr doch das enge Füreinanderleben, das sich so besonders betont daraus ergab. Allmählich ward sie mit Erstaunen gewahr, daß sogar ihr Verlangen nach Kunde von ihren Kindern sich leise abschwächte, und noch einmal erlebte sie es, wie Glück doch etwas ist, was in seinen Steigerungen heraushebt aus allem. Vormals freilich hatten die Kinderbriefe hier dennoch eine große Rolle gespielt, denn nur zögernden Herzens hatte Anneliese ihre drei Schulpflichtigen fremder Obhut überlassen. Täglich durchwanderte man den Sand nach der entfernten kleinen Poststation, um etwas eher in Besitz der Briefe zu gelangen: der rasch und zärtlich hingeklecksten von Gitta, der oft so verblüffend anschaulichen und anregenden vom Balder und dann noch der dritten: ehrfürchtig hingemalt in sehr großen Buchstaben, mehr Kalligraphie als Inhalt – Lottis erste und letzte Briefe. Sie redeten von diesen Gängen miteinander, ohne jetzt gleiche Gänge zu tun. Bei allem sprach ihnen die Erinnerung mit hinein in die Gegenwart und, selber schön, verschönte sie ihnen noch die erneuten reichen Tage und machte sie doppelt heimisch darin.

Inmitten des fremdsprachigen Volkes lebten sie wie auf einer Insel allein. Sie sahen die Frau, mit der sie sich nur in Zeichen und Wortbrocken verständigen konnten, an ihnen vorbei ihrer Arbeit nachgehen, stricken, Netzwerk knüpfen, Kind und Küche versorgen und den kargen, anspruchsvollen Feldstreifen unweit davon – oder hinaushorchen in das Wetter: ihres und ihres Mannes Schicksal. Auch noch das tote Meer, an Landwindtagen, war hier das wahrhaft lebendigste, was dem Menschen nicht still hielt wie dem Landmann seine Felder – das jedes Schicksal unberechenbar tückisch oder gnadenvoll aus sich selber emporwühlte gleich Äußerungen eines Urwelt-Ungeheuers.

Kehrte der Mann dann zurück bei widrigem Nordost, der gegen den Hafen trieb, dann ward ihm ein Ausruhen in dem, was das Weib geschaffen, und so wuchtig selbstverständlich sprach in diesem Außen und Innen der Geschlechtergegensatz sich aus wie Naturgeschehen.

Des Nachts bisweilen, wenn der Sturm sich erhob, oder wenn oben im Giebelraum das Brustkind weinte und die Fischersfrau es in den Schlaf sang, vielleicht an den Mann denkend, dessen Boot im Sturm schaukelte – dann kam über Anneliese sehr stark das Gefühl von dieser sie umkreisenden, eigentlichen Wirklichkeit, und dann wollten ihr die beiden kleinen Stuben unten mit ihrem Muschelkram und den fremden Betten vorkommen wie ein bloß geliehenes Glück – Glücksobdach für kurze, ganz kurze Ferienwochen.

In solcher Nacht erwachte sie einmal aus schweren Träumen, aus denen sie nur langsam, mühsam zu sich kam. Ihr hatte von Lotti geträumt, die gekommen war – über das Meer, als es am wildesten war –, während viele Leute am Strande sich drängten, neugierig, denn groß war Lotti geworden, ganz und gar erwachsen, als habe sie inzwischen weitergelebt. Oder war es nicht Lotti? »Bist du Lotti?« fragte die Mutter, bebend vor Verlangen, doch hatte sie in Lottis unsäglicher Menschenherrlichkeit, Zug um Zug, das Kind, ihr Kind von ehedem wiedererkannt, und die Leute am Strande staunten alle, denn niemand hatte so Schönes je gesehen. An diesem Morgen erhob Anneliese sich sehr blaß, von Schwindel befallen.

Als dies sich wiederholte, entsann Branhardt sich der Ohnmacht nach dem Meerbad, dem Anneliese keine weiteren hatte folgen lassen dürfen. Eine Mutmaßung durchflog ihn – und da wollte ihm scheinen, als ob der gleiche Gedanke schon eine Weile mit Anneliese gehe.

Nicht gleich sprachen sie ihn gegeneinander aus. Aber gleich breitete sich über die Innigkeit ihres Beisammenseins etwas seltsam Neues, das sie eher wahrnahmen als jeder die Vermutung des andern: etwas wie ein feines, heißes Glück der Erwartung, das fast an ihren Brautstand mahnte.

Und schien das nur noch tiefer in die gemeinsamen Erinnerungen zurückzuführen, so erlebte es sich doch nicht erinnerungsmäßig: nicht mehr an Vergangenes dachten sie, nicht mehr mit früheren Erlebnissen verglichen sie ihren Aufenthalt wie bislang. Aus sich selber rollte auf einmal das Rad ihrer Zeit, und die kurzen Ferientage rollten nicht ab daran: sie fielen ins Ewige.

Endlich kamen doch Briefe an. Der erste war von Renate und nicht gerade weitläufig.

Renate schrieb:

»Liebe Liese,

mit dem ›Heim und Frieden‹ (siehe Sekttoast!) ist es nichts. Mich hätten schon vorhergehende Fälle darüber aufklären können, daß der Teufel sich nicht austreiben läßt durch Beelzebub. Die Sache ist die: meine Beelzebuben wechseln, der Teufel aber bleibt. Sei's drum! Warum auch Frieden? Nein! Kampf.

Renate.«

Dieses Schreiben hätte viel mehr Aufregung und Sorge hervorgerufen, wäre ihm nicht schon mit folgender Post eins von Gitta gefolgt. Bereits der Poststempel machte Anneliese stutzig, der Inhalt aber fassungslos. Gitta schrieb aus einem Ort inmitten der Heide, wo sie mit den Eltern einmal um Ostern gewesen war und wohin sie sich der »dortigen Einsamkeit« wegen zurückgezogen hatte, »um einmal allein zu sein«. Doch nun empfand sie allmählich Heimweh nach der Mumme, nach dem Vater, und so verkündete sie ihnen denn, daß sie sich auf den Weg zu ihnen begebe.

Von Markus kein Wort. Kein Wort, was dieses mystische »Alleinbleibenmüssen« bedeute? Warum sie nicht längst im Gebirge seien oder Markus mit ihr auf dem Wege hierher?

Branhardts einziges Bedürfnis schien sich Luft machen zu wollen in einem so kräftigen Donnerwetter, wie es noch nie über Gittas Haupt niedergegangen war. Als er sich jedoch Anneliese näher ansah, zog er sanfte Saiten auf und predigte Ruhe: man wisse absolut nichts, könne augenblicklich gar nichts tun, denn Gitta sei mutmaßlich schon unterwegs zu ihnen; es gelte also, der Phantasie Zügel anlegen und sich einfach gedulden.

Das fiel Anneliese schwer. Je ungewisser die sonderbare Angelegenheit zwischen harmlos und folgenreich, zwischen Bagatelle und Katastrophe zu schwanken schien, desto aufregender wirkte sie. Diese unvermutete Beängstigung gerade jetzt von Anneliese nicht abwenden zu können, brachte Branhardt am allermeisten gegen die Tochter auf. Dennoch enthielt die Zeit peinvoller Erwartung durch einen besonderen Umstand seltsame Süßigkeit für ihn: er erlebte, wie Anneliese auf sein bloßes Geheiß, seinen Wunsch, seinen Willen hin, wirklich innerlich ruhig ward. Er wurde, wie noch nie, seiner vollen Gewalt, sie zu bergen und zu schützen, inne: das heißt, wie noch nie, ihrer Liebe zu ihm.

*

Das nächste, was von Gitta eintraf, war von der dänischen Grenze ein Telegramm, noch erstaunlicheren Inhalts als der Brief: »Sitze fest, weil Salomo von Dänemark abgelehnt, habe Minister depeschiert, verlasse Salomo nicht. Gitta.«

Zum Glück erwies der Minister sich ritterlich gegen Salomo, und nach Tag und Nacht des Harrens durfte Gitta weiterreisen, wenn sie dadurch auch unangemeldet ankam und keine Fahrgelegenheit für sich bestellt fand. Sie benutzte den Omnibus eines auf dem Wege gelegenen Badeortes, ließ ihr Gepäck dort zurück und ging zu Fuß weiter. Unterwegs machten die Kopfbedeckungen der weiblichen Badegäste ihr Eindruck: höchst malerisch geknüpfte, buntbedruckte Tücher – und da auf ihrem noch sehr unzulänglichen Haar der Hut sich im Winde wie eine Wetterfahne um sich selber drehte, erwarb sie alsogleich ein derartiges Tuch, und so kam sie, die roten Bindezipfel über dem Scheitel flatternd, Salomo an der Leine, an wie eine, die längst hier zu Hause war.

Allerdings entsprach die Miene unter diesen lustigen Tuchzipfeln dem behaglichen Gesamteindruck nicht; vielmehr war es, hiernach zu schließen, Gitta für ihre Ankunft im Fischerhaus sehr peinlich, daß sie Markus – sozusagen unterwegs – verloren hatte und nur noch das Unwesentlichere, Salomo, mit sich führte. Aber die soeben erst seinetwegen ausgestandenen Ängste an der Grenze beherrschten das allererste Gespräch und Wiedersehen ganz unwillkürlich – so daß ein Unbeteiligter die schwierige Frage, weshalb Gitta überhaupt hier sei, vielleicht dahin gelöst hätte, sie sei Salomos halber in ein Seebad geschickt worden.

Wenigstens erzählte sie hinreichend lebhaft von ihm, während ihre Blicke zugleich, angezogen und neugierig, über Riesenmuscheln auf der Kommode, getrocknete Seesterne auf dem Wandbord und korallenartige Schwämme in den Vasen wanderten.

»Wer hätte auch denken können, daß in diesem unbegreiflichen Lande die Einfuhr von Hunden verboten ist – angeblich, weil ein auswärtiger einen einheimischen einmal in der Tollwut gebissen hat. Es mußte erst noch von wer weiß woher ein Tierarzt herbeigeschafft werden – um Salomo auf seinen Verstand zu prüfen! –, und der meinte lachend, für Verstand bürge doch schon der Name. Er sprach zum Glück Französisch. – – Ach, die vielen, vielen Muscheln, Mumme! Und eine so rosenrote.«

»Den Köter wenigstens hättest du wahrhaftig dort lassen können«, bemerkte Branhardt.

»Ich hab' ihn doch bei mir in der Heide gehabt. Und er ist doch das einzige, was ich noch habe«, erklärte Gitta mit bewunderungswürdigem Übergang von der Schale auf den Kern der Sache.

»Aber Kind, was soll denn das nur heißen? Was ist denn geschehen, daß du nicht mit Markus zusammen bist?« fragte Anneliese unruhvoll.

Gitta zupfte an Salomos Leine, was er aber ganz richtig als bloße Verlegenheitsäußerung auffaßte, denn er blieb mit gefurchter Stirn ruhig sitzen.

»Ich glaube, Mumme, Markus und ich haben uns getrennt.«

»Du glaubst es nur?!«

Branhardt jedoch unterbrach Anneliese: »Du bist hier am Platz und in unserm Schutz, mein liebes Kind, falls Markus dir irgend etwas angetan hat, was –«

»Markus?! Nein!!« fiel Gitta ihm ins Wort. Sie schien ganz entsetzt, daß man Markus was Übles zutrauen könnte.

»Dann wirst du wohl jetzt die Freundlichkeit haben müssen, uns deine Handlungsweise zu begründen.«

Gitta gab kleinlaut, übrigens dramatisch wortgetreu, Bericht über den letzten Abend, neuneinhalb Uhr, in der Villenstraße.

Das Donnerwetter, das sich Branhardt nach dem dunklen Brief sanftmütig aufgehoben hatte, kam jetzt zur denkbar vollsten Entladung, die durch die Wetterpause nur um so kräftiger und rückhaltloser wurde. Blitz und Schlag folgten sich, und für reichliches Wasser dabei sorgte Gitta auch sofort. Ihr kam es vor, als ob mit ähnlicher Gründlichkeit der Vater nur ein einziges Mal sie ausgescholten habe – in annähernd gleichem Ton sogar –, obwohl sie sich seltsamerweise nicht darauf besinnen konnte, wann das gewesen sei. Denn das wenigstens stand doch fest, daß sie zum erstenmal einem Mann fortgelaufen war?

Anneliese verhielt sich schweigend. Auch noch, als Gitta bereits laut schluchzend, vom entsetzten Salomo gefolgt, das Zimmerchen verlassen hatte. Branhardt war erregter, als er sich eingestehen mochte, und nicht ganz ohne Gewissensbisse: es kränkte ihn irgendwie von sich selber, Markus keine bessere Musterfrau herangezogen zu haben, weil Gittas Nichtsnutzigkeiten ihm meistens reizvoll in die Augen gestochen hatten, anstatt ihn zu erzürnen. Diese innere Klemme, in die er dadurch zwischen dem »Mann« und dem »Vater« in sich geraten war, ergab eine heftige Wirkung zugunsten Markus' und vermehrte Empörung gegen Gitta.

Er hatte sich bereits hingesetzt, um an den beleidigten Ehemann zu schreiben, als Anneliese von hinten an ihn herantrat und ihm bittend die Hände auf die Schultern legte.

»Frank – diese Tage lehrtest du mich Geduld mit den Worten: wir wissen noch nichts. Frank: auch jetzt wissen wir noch nichts – zuwenig zum Beurteilen oder Eingreifen oder Entscheiden.«

Er unterbrach sie:

»Gestern und heute, das sind zwei ganz verschiedene Fälle, Lieselieb. Heute haben wir Mitverantwortung für Gittas Handlungsweise. Markus muß sein gutes Recht werden: das ist klar genug. Deshalb ist es an uns, zu handeln.«

»Noch nicht – ich bitte dich: laß vorerst die Dinge sich selbst klären, entscheiden.«

Branhardt warf die Feder hin, kehrte sich zu ihr: »Ich begreife dich einfach nicht! Überhaupt: dein Schweigen, während Gitta dastand – ich glaubte, es sei deine Übereinstimmung mit mir! Das ist auch nur die Passivität, worin du augenblicklich drinsteckst. Schlimm, wenn ich mich davon anstecken ließe, anstatt dich –«

Anneliese sagte, vorsichtig, um ihn nicht in der Reizbarkeit zu bestärken, deren Quelle sie wohl ahnte:

»Du willst doch Markus zuliebe handeln, Frank – wir kennen Markus zuwenig –, würde er jetzt so handeln?«

Mit einer so unwilligen Bewegung stand Branhardt vom Stuhl auf, daß er die rosenrote Riesenmuschel in seiner Nähe aufs äußerste gefährdete:

»Darüber sollte ein Zweifel möglich sein!?«

»Wir kennen ihn nicht,« wiederholte Anneliese in derselben sanften Art, »wir machen uns eine willkürliche Vorstellung. Das eine wenigstens versprich mir: eine Äußerung – gegen Gitta oder uns – abzuwarten von Markus selbst.«

Im allerungeeignetsten Augenblick kam die Fischersfrau, mit Betten beladen, ins Stübchen herein, um auf dem breiten, harten Sofa ein Lager für Gitta herrichten zu helfen. Für die Frau war Schlafenszeit. Sie hemmte Branhardts Antwort, und da er Anneliese gleich zugreifen und beschäftigt sah, so entfernte er sich.

Anneliese beugte sich weit aus dem Fenster, nach der Tochter spähend. Der Strand lag dunkel, aber aus der Nähe der Badekabinen ertönte von Zeit zu Zeit Salomos selbstbewußtes Kläffen. In der Tat: dort lag Gitta im Sande mit ihm. Sie war wirklich ernstlich verzweifelt gewesen, fast bis zum »Ins-Wasser-Gehen«. Dann aber hatte sie sich doch für das Meer als Badewasser entschieden. Und nun, seit sie ihm nach ausgiebigem Aufenthalt entstiegen war, fühlte sie sich geradezu neugeboren! So eine richtige Meeresbrause, die war ja unbezahlbar! Von aller Reue und Gedrücktheit hatte sie sie einfach reingewaschen. Ganz andere, kühnere, streitbare Überzeugungen füllten nunmehr diese Stelle aus, und nur natürlich wäre es Gitta erschienen, um ihretwillen sich heroisch von allem loszusagen – ganz zu entsagen: nicht nur dem Mann, sondern auch Eltern, Glück und Wohlergehen.

Dessenungeachtet fühlten Salomo und sie sich angenehm berührt, als Anneliese sie vom Fenster aus anrief. Gitta besichtigte mit Befriedigung das kunstvolle Sofabett, das sie hergerichtet fand wie ein »wirkliches«. Denn ihr körperlicher Mensch war rechtschaffen müde, und so konnte der mehr unsterbliche in ihr nur mit gewaltsam verhaltenem Gähnen der Mumme noch das Allerwesentlichste von der Umwälzung nach dem Bade mitteilen.

»Eins ist mir klar: Die Ehen müssen aufgehoben werden,« sagte sie und zog sich eilig aus, »denn wenn das einem zustoßen kann, daß man plötzlich gar nicht mehr liebhaben mag –«

Anneliese ging nicht weiter darauf ein.

»Dir scheint es wohl nur so, weil du Markus über die Ursache ganz im unklaren ließest«, bemerkte sie nur und half ihr aus den Kleidern.

Allein Gitta beharrte auf der Aufhebung der Eheeinrichtung. »Ach nein, Mumme – wenn er auch alles gewußt hätte –, das hilft nicht! Das Eine, Schreckliche bleibt darum doch: daß man sich plötzlich gar nicht mehr gern hat – gar nicht. Daß ich ihn geradezu nicht mehr ausstehen konnte – ihn fast haßte. Und es war doch Markus!« setzte sie hinzu, und ihr Mund zitterte leicht, dem man, wie einem Kindermund, Erregung oder nahes Weinen so leicht ansah.

Anneliese, während sie die umhergeworfenen Kleidungsstücke auflas, sagte, Gitta möchte heute nur lieber still davon sein und jetzt schlafen.

Aber in Gitta, die schon im Sofabett lag, war noch immer das Revolutionäre wach – trotz ein paar Tränen in ihren Augen, von denen übrigens unentschieden blieb, ob es Leid- oder Gähntränen waren.

»Und eins ist mir noch klar! Selbst wenn der Vater damit recht behalten sollte, daß ich nichts tauge – denke dir, so schrecklich es ist: mir ist's eigentlich viel, viel wichtiger, daß die andern Menschen möglichst vollkommener sind als ich. Wenn sie so sind, daß ich mich an ihnen entzücken kann, dann bin ich ganz glücklich! Wenn sie aber Unvollkommenheiten haben, so leide ich daran. An den ganz kleinen sogar. Es macht mir Herzeleid. An meiner Unvollkommenheit leide ich viel weniger. Inmitten lauter Unvollkommenheiten zu thronen: so denk' ich mir die Hölle; das Gegenteil wäre lange nicht so schlimm: ich denke mir, da müßte man ganz verbrennen vor lauter Dank und Entzücken!« Ihr kleines, charaktervolles Gesicht strahlte förmlich auf bei dieser Vorstellung.

Sie hatte mit beiden Armen die Mumme niedergezogen zu sich, beim Sprechen wurden ihr aber die Augenlider immer schwerer, Vollkommenheit und Unvollkommenheit geriet ihr auf der Zunge durcheinander, und, beinah mitten in ihrer Plauderei, sozusagen den weiteren Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung noch auf den Lippen, schlief Gitta plötzlich ein.

Anneliese blickte auf sie, die da in solcher Lebensfrische vor ihr lag – vom Schlaf gleichsam geraubt.

Was soll man nur mit dir tun, du Strick? dachte sie und lächelte doch.

Sie wunderte sich selbst über die zarte Heiterkeit in ihrer Seele. Ohne daß sie der tatsächlichen Sorgen vergaß, begriff sie doch nicht mehr die phantastischen Ängste, die ihr alles vergrößert und schwarz gefärbt hatten.

Branhardt, der einen langen Weg durch die Dünen zurücklegte, war nicht wenig überrascht, bei seiner Heimkehr Anneliese bereits schlafend vorzufinden.

Ihn drängte es, nach dem unterbrochenen Zwiegespräch den Stand der Dinge mit ihr zu erörtern. Wieviel mehr wahrscheinlich noch sie mit ihm!

Aber Anneliese war schon weit von ihm. Mit einem tiefzufriedenen Gesichtsausdruck schlief sie im Bett am offenen Fensterchen unter dem Mondlicht, das erst jetzt heraufkam. Sie sah darin aus, als wandle sie im Traum über silberschimmernde Meere, sicher, nicht unterzugehen.

Da ließ Branhardt sie ruhen, war so leise als möglich, und, wachgehalten neben ihr, traf er seine Entschließungen allein.


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