Lou Andreas-Salomé
Das Haus
Lou Andreas-Salomé

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Zweiter Teil

XI.

Das Obst blühte spät in diesem Jahr.

Für Gitta fast zu spät, zu ihrer Hochzeit stand das meiste noch in Knospen. Sie mußte sich endlich entschließen, mit den Kirschbäumen vorliebzunehmen, und die beeilten sich denn auch programmgemäß.

Dann aber hob ein Blühen an, verschwenderischer, als es je gewesen – eine wahre Hinterlassenschaft von einem Hochzeitsfest: so nahm der Garten sich aus –, eine nicht enden wollende Nachfeier, die sich immer noch nicht genug tun konnte in ihrem Überfluß, die von ihren Blüten den Menschen über den Weg streute, wo sie gingen und standen, und schimmernde Kronen hochhielt über ihren Häuptern.

Frau Lüdecke sagte jeden Tag etwas Gefühlvolles darüber und Herr Lüdecke was Philosophisches. Und sogar Branhardt, ungeachtet vermehrter Arbeit infolge der zeitraubenden Hochzeitstage, ging morgens selten zur Klinik hinunter, ohne ein paar Gänge durch seinen unnatürlich schönen Garten zu tun – von dem er übrigens einigermaßen poesielos geäußert hatte: all die Herrlichkeit schmecke jetzt verflucht nach Resteressen hinter der Hauptmahlzeit. Denn etwas fehlte ihm an der Obstblüte: das war Gitta mit ihrem leidenschaftlichen Entzücken daran, und Gitta überhaupt.

Mehrmals schon war Balduin Branhardts Begleiter durch den Garten gewesen, ohne doch anders als einsilbig neben ihm herzugehen. Ein besserer Seelenkünder aber hätte bemerken müssen, daß Balduin den Vater dabei fortwährend innerlich umkreiste wie ein Haus, um das man herumgeht, unschlüssig, ob man durch das Haupttor sich Eingang schaffen soll oder doch lieber hinten herum. Branhardt bezog es naiv auf die Fruchtbäume. Eines Morgens aber, als die Obstblüte sich schon zu bräunen anfing und in der sonnenwarmen Luft zu sinken, entfuhr Balduin wie aus einer Pistole geschossen folgende Mitteilung:

»Man sollte nach dem Süden wandern. Immer tiefer. Am besten vielleicht bis nach Ägypten.«

»Nur?!« fragte Branhardt und lachte. Er schien gar nicht übermäßig erstaunt. »Auch ich ginge Gitta gern nach Venedig nach. Und Ägypten? Sagte sie nicht: am liebsten würde sie ihre Hochzeitsreise in die Wüste machen und Araber in weißen Gewändern tanzen sehen? Weißt du: etwas von der Exaltation der ganzen Festgeschichte steckt uns noch in den Gliedern – mir ja auch! Es fliegt auch wieder ab von uns wie die Blüten vom Baum, wenn die Zeit um ist.«

Balduin wußte gut: es flog nicht wieder ab, und es kam nicht von Gitta und war keine »Exaltation«. Die hatte höchstens mitgeholfen, ihm endlich die Lippen zu lösen.

Aber er sagte jetzt etwas anderes, nicht sehr laut und mit nicht gerade deutlicher Stimme: »Vater, es ist dies: daß ich, anstatt zu studieren – es ist für eine große Arbeit, daß ich gern fortginge.«

Die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf etwas hoch, blickte Branhardt stehenbleibend stumm vor sich hin in die Bäume. Als höre er scharf auf die knapp verständliche Mitteilung; allein er überlegte nur scharf. Auch noch als Balduin schwieg. Dann bemerkte er, gleichsam mit einem Tadel wider sich selbst:

»Ja – zweifellos ist das ein Fehler gewesen, ein schwerer Fehler. Festbleiben hätt' ich sollen, dich noch einmal zurückschicken, als du vor Weihnachten heimkamst – als du gleich dableiben wolltest und Hals über Kopf loslegen mit dem Studieren.«

»Nein, nein! Das war kein Fehler!« fiel Balduin eifrig ein, beinahe gerührt, und gerade als ob er ihm den väterlichen Selbstvorwurf erlasse. »Gut war es – alles ist gut, alles ordnet und entschleiert sich ja jetzt so wunderbar in seinem Sinn! Gut war es, denn ohne dies eine Kolleg zum Beispiel –«

Branhardt folgte seinem eigenen Gedanken.

»Handelte es sich auch bloß ums Studieren allein dabei!« sagte er. »Aber: daß du absolut nicht durchzuführen weißt, was du selber um jeden Preis gewollt, errungen hast – und nicht einmal ein einziges Halbjahr lang! Sieh – dies macht alle Wünsche, die sich neuerdings aufdrängen, zu denkbar schädlichsten Versuchungen eines ungefestigten Willens.«

»Vater!« entfuhr es Balduin ganz verzweifelt. Gerade von seinem gefestigten Willen hatte er jetzt sprechen wollen, und daß er nur scheinbar willenlos etwas liegenließ – und daß er im Gegenteil zum erstenmal lebe wie unter einem Gesetz – seinem Gesetz –, daß es ihn sonst ja auch niemals forttreiben würde ins Fremde, allein, ihn, den Unschlüssigen.

Überhastet nahm er einen Anlauf, sich gleich genau und ausführlich darüber zu erklären.

Es gelang auch staunenswert genau, bis in jede Einzelheit begründet: so eilig und erregt er auch sprach, so logisch fest ineinander versponnen war alles, was er sprach. Mit dem dringenden Wunsch begann er, erschloß die Notwendigkeit für seine Arbeit und endete ungefähr damit, daß alles verloren sei, wenn es ihm nicht gelang, bis nach Ägypten zu entkommen.

Unter den breitästigen Apfelbäumen hin, die allein noch ihren weißrosigen Schmuck unverkürzt trugen, schritt Branhardt neben dem Sohn dem Haus entgegen – langsam, in Gedanken, so daß er von den tief über den Weg hängenden Zweigen im harten Vorüberstreifen achtlos die Blüte brach. Es war Zeit, zur Klinik hinunterzugehen, doch auch darauf achtete er nicht, und die ihm fast unwillkürlich gewordene rasche Bewegung nach der Uhr unterblieb.

Beim Gartenausgang sagte er:

»Du selber solltest mißtrauisch gegen dich werden in solchen Fällen – gerade um deiner lückenlosen Beweisführungen willen – ja, gerade deshalb!« Und an des Sohnes lange Rede denkend, lächelte er leicht mitten in seinem Ernst. »Was normal vor sich hinwächst, das weiß natürlich gar nicht so verblüffend Bescheid mit seinem verborgenen Wurzelwerk. Wo aber in uns etwas ohne rechten organischen Zusammenhang aufbegehrt, da zimmern wir uns gern so kunstvoll was zurecht, um doch Boden zu bekommen.«

Branhardt blieb stehen; allein jetzt war seine Zeit in der Tat um. Er schaute auf seinen großen Jungen, zu dem er hinaufsehen mußte! So still und blaß stand der bei ihm, die mattbraunen Augen, deren großer Schnitt den Ausdruck darin fast überdeutlich machte, vor Traurigkeit beinahe leer im Blick. Da vergaß Branhardt noch einmal seiner Eile.

Mit der Hand über die Wangen wäre er ihm gern gefahren: wie einem Kinde in körperlicher Not. Denn wie eine Not solcher Art empfand er des Sohnes Angelegenheit; sachlich war sie gar nicht erst zu umstreiten.

Allein um so sachlicher sammelte sein ganzer Wille sich, der Beistand sein wollte und Hilfe, und nicht beeinflußt oder beirrt durch klagenden Wunsch.

Er legte Balduin die Hände auf beide Schultern.

»Nicht die Flinte ins Korn werfen, Junge! Nicht gleich von der ersten Unlust sich zurückwerfen lassen und alles umwerfen! Sondern dieses gerade: einmal absehen davon, ob etwas Lust oder Unlust macht. Zunächst alles beiseitetun, was dich abzieht vom einmal Begonnenen – einfach studieren. Sagen wir: ein halbes Jahr, ohne dich nach dir selber umzusehen. Dann reden wir weiter.«

Balduin kam eine höhnische Antwort: »Danke für Diagnose und Rezept!« Aber die trockenen, spröden Lippen öffneten sich nicht.

Stumpf und vergrämt sah er dem Vater nach, wie er von ihm fortging. Wie er aus dem Garten hinausging und einbog in die lange Allee hinab zur Stadt; mit rascheren Schritten jetzt, die Zeit einholen wollten. Balduins Augen hafteten daran fest: gar nicht hastig nahm sich das aus, sowenig wie etwa ein ruhiger Vogelflug Eile verrät. Er war überzeugt, daß der Vater sich dabei alle Zeit ließ, das Nächstfolgende, was zu tun sei, zu erwägen, und schon ganz gegenwartsvoll darin lebte, wenn es an ihn herantrat.

Und er dagegen war schon jetzt, am Morgen, müde. Nach all den Wochen hoffnungbeflügelter Arbeit, einer vielleicht zu starken Anspannung.

Wie dürftig war sie nun im Sande verlaufen, die große, langvorbereitete Unterredung, und wie erhebend hatte Balduin sie sich doch gedacht. Eines bezwingenden Pathos voll, das – den Bäumen gleich da im Garten – mit Blüten redet und von Früchten überzeugt! Wie oft hatte er sich jede einzelne Äußerung im Geist vorgeführt – sie laut sich vorgesprochen, wohl auch, jedoch öfter, weit öfter noch, sie geflüstert –, ja, sie gebetet fast, zu ihm, seinem Vater auf Erden, dem guten und dem klugen. –

Balduin lehnte an der Steinmauer, hinter deren knospendem Buschwerk man den Bergwald hinauf ein paar Städter bedächtig ihren Morgenspaziergang machen sah; weiterhin näherte sich singend ein Trupp Studenten.

Unbeweglich verharrte er da, trotzig und verzagt. Erbittert durch die lustigen Stimmen, die sich entfernten, wie auch durch das trübe Schweigen hinterher. Ebenso unfähig zur vorgeschriebenen Arbeit, dem Morgenkolleg, wie zur eigenen – zwischen beiden ein Ausgestoßener.

Das Haus unter den Blütenbäumen lag still und stumm. Nicht einmal Anneliese schaute nach ihm; sie machte sich in der Stadt zu schaffen, in Gittas einzurichtender Wohnung.

*

Balduin hatte sich Gittas Heimkehr von der Hochzeitsreise ungeheuer aufregend gedacht und sich schon davor geängstigt. So gedrückt war seine jetzige Stimmung aber, daß sogar dies große Ereignis sich ihm vom Alltäglichen kaum unterschied. Einer der Wagen, die man bei schönem Wetter den Bergwald heraufkommen sah, enthielt einmal statt anderer Leute Markus und Gitta, das war alles. Weil sie um einen Tag verfrüht und nicht angemeldet kamen, blieben allerlei Empfangsvorbereitungen unvollendet, und Gitta konnte sich den Spaß machen, im Berghaus den halbfertigen Willkommkranz aus dunkelroten Kletterrosen über ihre Wohnungstür zu Ende winden zu helfen – zum abergläubischen Schrecken von Herrn und Frau Lüdecke.

Balduin, wenn auch mit gesunkenen Seelenkräften, betrachtete sich Gitta ganz genau; das einzige aber, was ihm als neu an ihr auffiel, war eine schon wieder veränderte Haartracht, und zwar trug sie plötzlich tiefe Madonnenscheitel, deren Demut ihr so wenig zu Gesicht stand, daß er draus schloß, weder die Demut noch die Tracht werde von Bestand sein.

Aus Italien machte sich Gitta gar nichts. Der heimische Frühling sei tausendmal schöner! Die Farben und die Menschen dort schrien, Venedig sei ein Theater, und die Lagunen röchen schauderhaft. Sie hatte nicht geruht, bis sie ans Meer gingen. Markus hingegen rühmte die düstere Pracht alter Paläste, diesen Traum von Vergangenem in der südlich-ewigen Gegenwart. – »Woraus man gleich sieht, wie wenig wir zueinander passen!« bemerkte er dazu. Und dann gab er zum besten, wie Gitta, jedes leisesten Ortssinnes bar, sich zwei Schritt vom Gasthof hoffnungslos verlaufen hatte und schon verzweifelt durch die Lagunen schwimmen wollte. Es schien ihm angenehm zu sein, daß sie sich ohne ihn gar so kläglich verlief.

Zweimal hatten sie Bekanntschaften geschlossen: einmal mit einer jungen Nonne, deren Schönheit Gitta so ergriff, daß sie eine Zeitlang nur noch mit Bitterkeit davon sprach, warum man denn nicht auch sie dem Kloster geweiht habe. Das zweitemal mit einem schwermütigen Jüngling, den vielerlei Unheil betroffen, was er Gitta beichtete. In dieses vielgestaltige Unglück dachte sie sich dermaßen mitfühlend hinein, daß sie noch verschiedene arge Bestandteile darin entdeckte, die er selbst bislang zum Glück übersehen, und daß sie kaum davon abzuhalten gewesen war, ihm mitzuteilen, wieviel unglücklicher er noch sei, als er wisse.

Markus erzählte es in humorvollem Ton, und demzufolge herrschte am Teetisch die denkbar lustigste Stimmung. Nur Anneliese wollte es einen Augenblick lang vorkommen, als sei es eine zu lustige.

Beim Empfang der Tochter war ihr Gefühl ein so glückliches und tiefbewegtes gewesen, daß sie es nicht gleich zu bergen wußte, wie eine, die alle Hände voll hat und nicht weiß, wen beschenken. Als Markus mit Gitta am Abend fortging, blieb sie bei der Gartenpforte stehen. Außerhalb sogar. Wollte sie etwa hinterdrein gehen? Sich überzeugen, wie sie jetzt waren, wenn sie allein beisammen waren? Ein verrückter Gedanke! Aber enttäuschte sie nicht etwas? Oder lag das nur wieder an ihrem »Überschwang«?

Auch Branhardt stand noch an der Gartentür, er hielt sie für seine Frau offen. Über jedes Erwarten hinaus befriedigt fühlte er sich. Gitta hatte jedenfalls nicht ausgeschaut, wie junge Frauen manchmal von Hochzeitsreisen kommen: mit gleichsam gefühlsverheerten Gesichtern, mit Schatten unter den Augen, als seien sie durch alle Aufregungen hindurchgejagt. An Gitta war etwas unbeirrt Mädchenhaftes haftengeblieben. Sollte ihn das nicht freuen dürfen, als Vater wie als Arzt? Er fühlte, wie er sie liebte.

Als Anneliese jetzt zu ihm in den Garten zurücktrat, scherzte er:

»Gar nicht so einfach, zur Schwiegermutter aufzurücken – etwas übermenschlich hoher Rang, was?«

Und als sie keinen Gegenscherz fand, setzte er auf seine eindringliche Art hinzu, die ihrer Wirkung stets so sicher war:

»Lieselieb, nicht mehr wollen als die beiden jungen Menschen selbst.«

Sie hörte nur die sachliche Überlegenheit heraus und richtete sich daran auf, ihn bewundernd, wie immer, obschon sie auch jetzt stumm blieb.

So standen sie schweigend noch minutenlang nebeneinander an der Pforte, und keiner wußte vom andern, worüber er schwieg.

*

Markus hatte am Ende der bergabwärts führenden Anlagen im neuen Villenviertel ein einstöckiges, kleines Haus gemietet, ziemlich gartenumgeben, mit Untergeschoß für Küche und Kammern und all den zeitgemäßen Bequemlichkeiten, die dem Berghaus alle fehlten. Als Anneliese am folgenden Morgen vorsprach, fand sie ihn noch mit der Einrichtung beschäftigt, wobei nagelneue Möbel und altgediente, von denen er sich nicht trennen konnte, sich fremd gegenüberstanden, als seien sie einander noch nicht recht vorgestellt. Gitta ging umher, die Hände am Rücken, und sah mit einer gewissen Neugier zu, wie »so eine Ehewohnung« eigentlich entstehe. Das letzte Zimmer, hübsch ins Grüne nach hinten gelegen, blieb noch leer; es hatte ihr Privatzimmer sein sollen, allein davon wollte sie nichts wissen: das war ja eben gerade »die Ehe«, daß man nichts privat besaß – wie die Mumme ja auch nichts für sich allein gehabt, als in der gemeinsamen Schlafstube ihren alten geheimnisreichen Sekretär und in der gemeinsamen Wohnstube ihren noch weit geheimnisreicheren Flügel: zwei Dinge, die um so mehr enthielten.

»Ich werde das Zimmer symbolisch abschließen als meine hingeopferte Mädchenstube. Man muß sich den weiblichen Existenzbedingungen eben anpassen!« erklärte Gitta gewählt.

Markus riet ihr dringend, diese erhöhte Sprache beizubehalten. Er stand auf einer kurzen Trittleiter und ordnete seine Bücher ein. Was das leere Zimmer anbeträfe, so werde er ein goldenes Schlüsselchen dazu machen lassen, wie Blaubart; seine Frau dürfe dann erst hinein, nachdem sie eine zukunftsvolle Rätselfrage, wer es mal bewohnen werde, praktisch gelöst habe: »sie wohnt nicht drin, er wohnt nicht drin, und dennoch wohnen sie und er darin«.

Anneliese behagte an diesem Morgen sein humorvoll ruhiges Wesen; aus dem ehemaligen Zwiespalt der Verlobungshalbheit befreit, gab er sich natürlicher und auch überlegener. Und – war nicht selbst der Humor an ihm vielleicht auch nur noch eine letzte Art, sein Gefühl in Zaum und Zügel zu behalten, gerade wie es einst seine steife Zurückhaltung gewesen? fragte Anneliese sich.

In der Schlafstube, einem hübschen Halbrund, das zwischen weißem Bade- und ebensolchem Ankleideraum gelegen war, wo Gitta ihre Koffer entleerte, hatte Salomo es sich auf etlichen ihrer Röcke bequem gemacht, diese sichtlich als sein hiesiges Hauskissen betrachtend. Aber Salomo sollte nicht in die Villenstraße mit einziehen, entschied Gitta. Es fiel ihr zwar entsetzlich schwer, fast wie eine Preisgabe von zwölf Kindern aus erster Ehe, allein ein kleines, feines Gefühl ließ sie herausfinden, daß ein Hundetier Salomo nicht zu den Mandelsteins hineingehöre. Und schließlich ließ sie ja weit mehr als nur zwölf ihr ans Herz gewachsene Kinder im Berghaus, Hausgarten und Bergwald zurück.

Ihr erstes intimes Zwiegespräch mit der Mutter drehte sich deshalb ausschließlich um Salomo.

Dann aber, mit der Offenherzigkeit, die sie der Mumme gegenüber gewohnt gewesen, ging Gitta zu vertraulicheren Eröffnungen über: – daß sie sich so wenig aus Italien mache, das war, weil sie sich auf was ganz Besonderes gespitzt habe. Sie habe freilich schon manchmal bei sich gedacht, daß mit den Flitterwochen nicht gar so viel los sei –. Allein so wenig, das hätte sie doch nicht gedacht.

Ob Markus denn was davon wisse, fragte Anneliese.

Darüber befielen Gitta Lachkrämpfe. Aber nein! Unmöglich konnte sie ihm doch mitteilen, daß »nichts damit los sei«?!

Übrigens – einmal, da wäre es fast schön gewesen. Als sie vom Lido wieder nach Venedig kamen, vor der Abreise. Da habe sie in den Nächten wohl etwas gefühlt wie noch nie – eine Innigkeit und ein stürmisches Glücksgefühl wie noch nie. Und jedenfalls galt das doch jetzt Markus? Daher hätte sie es ihm wohl gern mitgeteilt – des Nachts, im Dunkeln. Aber sie lagen, Bett an Bett, jeder umzogen vom großen Moskitonetz, und als sich ihre Hand nun zu ihm hinsuchte, geriet sie beständig anderswohin als an die Eingangsspalte zu seinem Netz. Denn die war ja natürlich auf das verschmitzteste geschlossen, und Markus erwartete wohl auch nur noch Moskitos. So sah sie ihn denn im Halbdunkel im Musselinnetz schlafen, betrachtete ihn hingegeben, und weiter wurde nichts. – »Dafür wurden wir freilich auch nicht gebissen!« schloß Gitta. »Aber die schönsten Nächte blieben es doch.«

Anneliese versuchte mit ihr zu lachen; sie waren munter zusammen, zärtlich und einander froh. »Nicht mehr wollen, als die Kinder selbst wollen!« wiederholte Anneliese sich entschlossen ihres Mannes Wort. Und sie gestand sich von ihrem eigenen Liebesglück, dem glückesschweren, daß Enttäuschungen vernichtend darauf hätten wirken können. Gitta dagegen schien dergleichen von sich abzuschütteln wie ein Pudel das Wasser. War das nicht besser so?

Anneliese verschloß ihr Ohr verzweifelt tapfer der Stimme, die ihr ins Herz raunen wollte: Vom Vollglück zum Unglück, da gibt's eben nur eine Station – gleich ist man da! Von einem Halbglück bis dahin gibt es dagegen viele Haltestellen und Aufenthalte – immer noch einen –. Aber anlangen beim Unglück tut man doch, nur viel müder.

Später erschien Balduin, obzwar mit einer Miene, in der Gleichgültigkeit und Langeweile sich lieblich um den Vorrang stritten. Bereits am Ankunftstage war es Markus aufgefallen, daß sein Schwager noch schlechter aussähe als sonst, schlaffer noch als sonst in Haltung und Wesen sich gehen lasse. Manchmal bezweifelte er im stillen, ob Branhardt seinen Sohn wohl richtig anfasse, denn seiner Meinung nach wirkte Branhardt erziehlich zwar sehr stark, jedoch weit mehr durch das, was er an sich selber besaß an Kraft, Gleichgewicht und Fülle, als durch forschendes Eingehen in seelische Notstände anderer, die mit dergleichen Gütern minder gesegnet waren.

Da die beiden Frauen sich noch miteinander zu tun machten, fragte Markus Balduin ohne weiteres nach seinem Ergehen aus. Dieser fand das nicht angenehm – aufregend, an »Ärztliches« mahnend, an den Vater. Nein, Markus überhaupt, behäbig jetzt zwischen seinen vier Wänden, ein Ehemensch, der konnte ihm ja längst nicht mehr derselbe sein, mit dem er sich so frei auf dem Bergwald ergangen, und dem er fast noch mehr Gefühle anvertraut hatte, als er eigentlich besaß.

Und so ging Balduin ganz als Fremder zwischen den vier Wänden herum und betrachtete hier und da einen Gegenstand in dieser wohleingerichteten Arbeitsstube, darin es noch ein wenig nach Terpentin und Tapezier roch.

»Mein Gott! Wer nicht selbst in Kampf mit den Seinen gewesen ist – ach, übrigens, ja, du bist es ja mal gewesen, bist ihnen sogar davongelaufen – aber das ist zu lange her. Da bist du schon mit deinen Mitgefühlen heraus.«

»Heraus? Wie denn? Ich habe noch zwei Brüder. Habe es also noch zweimal vor mir«, sagte Markus. Er saß und rauchte, was Balduin verabscheute zu tun.

»Ach: für andere! Ist das zu vergleichen? Sogar wenn man der selbstloseste aller Menschen wäre, so viel Wut und Sehnsucht bringt man nicht auf«, erklärte Balduin ablehnend.

»Nein. Da hast du recht«, gab Markus zu und dachte: Mögest du nie erfahren, um wieviel schrecklicher das noch ist – das Kränkenmüssen bei vollem Verstand.

Sie wußten sich nichts zu sagen.

Dann kam Branhardt herein und mit ihm Leben.

Bei Tisch wartete Markus' junger Diener auf, ein schmaler, brünetter Rumäne, den er sich aus ganz ähnlichen Gründen von Hause mitgenommen hatte wie die nirgend hereinpassenden Möbel, und der im übrigen ebenso geschickt war wie unzuverlässig. Branhardt fand die Sachlage, besonders für die vielleicht zu erwartenden nervenschwachen Patienten, überaus erheiternd, da Thesi nur stotternd und der Rumäne nur höchst exotisch sich auszudrücken verstand. Ihm aber wollte Gitta das Rumänisch und Markus Thesi das Stottern abgewöhnen. Daß Markus gerade dies an Thesi als besonders interessant erachtete, hatte vermutlich Frau Baumüller bereits mit den weitgehendsten Hoffnungen auch auf sonstige Urteilseigenarten bei den jungen Mandelsteins erfüllt.

Nach dem Essen mußte Branhardt bald fort. Kaum nahm man es wahr, als Balduin sich bei der Gelegenheit unmerklich mitempfahl, nachdem er schon bei Tisch dagesessen wie unter einem Trappistengelübde.

Am Abend ließ Anneliese sich und Salomo von den Kindern heimgeleiten.

Es war heiß, ein schwüler Abend, der Gewitter versprach. Als Markus und Gitta zurückkamen, stand der Duft des Blumenflors, der zum Empfang ihre Wohnung geschmückt hatte, fast drückend in den Stuben.

»Man möchte das alles hinauswerfen!« erklärte Gitta recht undankbar. Sie streckte sich weit aus einem der Fenster. »Es gibt eine Zeit, wo man Frühling gern ins Zimmer stellt, um ihn zu bergen, zu schonen – wo im Zimmer mehr Frühling ist als draußen im wüsten Wetterwechsel. Und dann kommt eine Zeit, wo man das nicht mehr mag, wo der Frühling zu groß ist für das Zimmer. – Den Sommer in Vasen sperren, das ist eigentlich mehr was für Frau Lüdecke.«

Markus schwieg und rauchte. Der wenig liebevolle Erguß konnte recht gut einer plötzlichen, etwas nervösen Gefühlsfülle entspringen – dem ersten Fortgehen der Mumme von hier? – Vielleicht gar Salomos?! – Auf der Hochzeitsreise hatte er vorwiegend Heimweh nach Salomo bemerkt. Gitta konnte manchmal durch das Unmerklichste jählings kopfscheu werden wie ein Pferd, das ganz unversehens scheut und steigt und sich versprengt, der Himmel weiß, wohin. Mit ihrer höchsten Genehmigung hatte er es ihre »Pferdekrankheit« betitelt: Equus morbus. Gitta erschien ihm stets überraschend empfindlich und kraftderb zugleich.

Das Gewitter blieb aus. Beim Schlafengehen wurde die Tür zum kleinen Altan weit aufgelassen, der in den Hintergarten hinauslag. Sie plauderten von der ärgeren Hitze, an die Italien sie gewöhnt, und planten in Gedanken neue Reisen. Dies war eine der Lieblingsbeschäftigungen Markus': merkwürdigerweise hatte er, seit er Gitta liebte, viel weniger von ihrem zukünftigen Heim geträumt als von Reisen, die sie unternehmen wollten – von seltsamen und wundersamen Landschaften, die sie sehen würden, und die ihnen zu sagen haben würden, was sie noch niemandem gesagt.

Dann wurde es still. Nur einmal, schon am Einschlafen, trug Gitta noch eine Reiseerinnerung nach:

»Weißt du noch, die zwei alten Engländerinnen in Venedig, sie hielten dich für einen Italiener, glaube ich, den es freut, der Frau seine Heimat zu zeigen! Aber – deine Heimat hast du mir gar nicht gezeigt.«

»Nein«, sagte Markus. Er lag unbeweglich und machte auch nicht einmal seine Augen mehr auf.

»Also wann denn?« fragte Gitta, herzhaft gähnend, doch als er darauf nicht einging, stieß sie ihn der Deutlichkeit halber ein bißchen an. »Wann denn?«

»Auf der Hochzeitsreise, denke ich.«

»Wann?! –« Gitta lachte und dachte: daß man so schlaftrunken reden kann.

Sie selbst konnte noch nicht so bald Schlaf finden. Die Nachtluft kam schwül durch die Tür, die großen Ahornbäume lispelten. Ob deren Wipfel wohl so dicht geworden waren, daß man die häßlichen Hausmauern gegenüber gar nicht sah –? Darauf hatte sie am Tage ganz zu achten vergessen. Zuletzt nahm es ihr Interesse so in Anspruch, daß sie sich leicht aus dem Bett gleiten ließ und hinausschlich auf den kleinen Altan.

Über dem Himmel lag etwas Helle, die Sache mit den Hausmauern war gründlich aber doch nicht festzustellen. An den Hintergarten stieß der des Hinternachbars, man konnte sich einbilden, in eine ganze Welt von Bäumen hineinzusehen.

Eine große Stille herrschte draußen; Nachtigallen schlugen nicht mehr; die Vögel saßen jetzt auf der Brut. Am Berghaus, da kannte sie die verschiedenen Laute der Nacht, den Schrei der Eule, die in der alten Steinmauer nistete und von den brütenden Vögeln gefürchtet war wie das Wiesel auf seinen nächtlichen Schleichwegen. So viel Furcht und Frieden zugleich hatte in solchen Wochen den Garten zwischen den Bergwäldern erfüllt – Akazien dufteten dann schwer, die Lindenblüte knospete.

Gitta begriff mit einem Male, warum sie auf die armen Vasenblumen gescholten: nur weil sie selber hinausgeworfen werden wollte aus der dumpfen Stubenluft!

Um sie stand die Juninacht, die heimische Nacht, in die sie sich gesehnt aus dem Süden. Und doch schien es nicht dieselbe mehr zu sein, an die sie dabei gedacht. Sie wußte nicht, woran es lag – allein es stand etwas um ihre Nacht wie ein Hemmnis – ein gleiches, wie die unsichtbaren Hintermauern da.

Und als sei sie noch in Italien und nicht in der Heimat, begann sie wieder zu gedenken »der« Nacht, »ihrer« Nacht, aus der Träume quollen und Erinnerungen, nicht wie an ein Leben, sondern gleich an tausend, in denen sie tausendfach lebte.

Gitta versank in eine so rege, innige Beteiligung an diesen einstmaligen Träumen und Nächten, daß sie bei der Umkehr ins Zimmer einen Augenblick fast erstaunt schien: da stand im dämmerdunklen Halbrund des Raums ein breites Doppelbett, aber drin schlief schon jemand.

Und doch nahm sich Markus im Nachtkostüm noch am ehesten so aus wie damals auf dem Kostümfest als Araber.


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