Lou Andreas-Salomé
Das Haus
Lou Andreas-Salomé

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II.

Wenn Branhardt abends heimkam, klang ihm schon eine Strecke vor dem Hause Musik entgegen.

Er freute sich eines jeden Males, wo er so empfangen wurde, und er wußte manchen Grund dafür. Vor ihrer Verheiratung, die seine Frau schon in ihrem siebzehnten Jahre schloß, hatte sie sich zur Musikvirtuosin ausbilden wollen, und ihr Mann empfand sehr wohl, daß die frühe Gebundenheit Anneliese von einer schönen Entwicklung abhielt. Wohl trat er niemals fordernd gegen etwas auf: doch sie, gegen sich selber, tat das –. Vielleicht aus Furcht, daß gar zu weit die Seele sich ihr verlieren könnte – zu weit fort vom Pflichtenkreis eines materiell sehr beengten und daher strengen Lebens, in das sie beide ziemlich lange Zeit hindurch gebannt blieben.

Als deshalb Anneliese, zögernd erst, dann immer länger und ernsthafter, ihren damaligen Stutzflügel wieder in Gebrauch nahm – als sie, von Jahr zu Jahr unbekümmerter und voller, den Unterstrom ihres inneren Lebens musikalisch freigab, da galt ihm das einer köstlichen Liebeserfahrung gleich: einer endgültig gefestigten Gebundenheit aneinander – einem Lautwerden gleichsam alles dessen, was sie und Branhardt verband. Anneliesens Musik: das war noch einmal Anneliesens Vermählung.

Trat Branhardt abends ins Haus, dann nahm er gewöhnlich gleich den Weg ins noch unerhellte Wohnzimmer; mit seinem leichten, nie lauten Gang kam er fast unmerklich, blieb fast unmerklich in einem der tiefen Sessel, aus denen er sich nicht weit heraushob. Dies war ihm das liebste Ausruhen, das er kannte.

Selbst unmusikalisch, auch durch Zeitmangel dem Hören von Musik ferngehalten, wurde er mit ihr nahezu ausschließlich durch Anneliese vertraut. Deshalb wirkte so vieles daran auf ihn allmählich wie eine Wesensäußerung Anneliesens selbst. Daß Musik ihm in gewisser Weise ebensoviel von seiner Frau erschloß wie diese von jener, darin bestand eigentlich der musikalische Reiz für ihn.

Und Anneliese lernte immer mehr und besser, sich auch noch anders, als er wußte, dessen zu bedienen: auf solchem Wege bis zu ihm zu gelangen mit manchem, was ihm sonst Überschwenglichkeit gehießen hätte. Sie verbrauchte einen starken Gefühlsschwung und war frisch und froh genug, um ihn sicher zu bewältigen. In ihres Mannes Schweigen, während der Flügel sprach, genoß sie nicht ohne seine Schalkhaftigkeit ein wortloses Ihn-Überreden, sein besiegtes Sie-Umfangen.

Rief dann Frau Lüdecke mit überbehutsamem Türöffnen zum Mittagsmahl und blickte in der unvermittelten Helle der Eßstube Branhardt auf seine Frau, dann lag auf ihrem Gesicht jedesmal das Herzensfreudige, Lebenleuchtende, das noch die schwermütigste Musik darüber zu breiten pflegte.

Und einem solchen Gesicht gegenüber erzählte es sich noch einmal so gut von des Tages Mühe und Arbeit.

Mit der ihr eigenen Unbedingtheit vergötterte Anneliese ihres Mannes Beruf, verwechselte ihn gewissermaßen mit ihm selbst; ob er nicht am Ende auch einen andern hätte ergreifen können, das hatte längst keinen Zugang mehr in ihren Vorstellungskreis. Zudem verknüpfte ja sein Berufsleben sich gleichzeitig mit seinem Eheleben so sehr, daß in allen entscheidenden Vorkommnissen der Frauenschaft oder Mutterschaft die Autorität des Mannes von der des Arztes sich nicht mehr trennen ließ. Und gern legte Anneliese sich die Dinge so zurecht, als ob in Branhardts ärztlichem Dasein wiederum etwas Feinstes, Menschlichstes ihm erst als eine Frucht erwachse ihres persönlichsten, gegenseitigen Verhaltens.

Jetzt, während der Abwesenheit der Kinder, konnte ihre Unterhaltung sich noch unbehinderter als sonst ergehen. Dennoch vermißten sie Tag für Tag »ihre beiden«, wenn sie sich so gegenüber saßen zu zweien, gerade wie einst als junge, kinderlose Leute.

Nach der Mahlzeit, als sie noch bei Tisch verweilten, meinte Branhardt deshalb einmal:

»Was groß wird, rückt aus! Kleiner Nachwuchs tät uns eigentlich not, Lieselieb! Sieht man so eine wie dich, denkt man sich am liebsten: ein Volk von Söhnen sollte sie umstehen!«

Anneliese schwieg. Dankbar froh war auch sie gewesen, als sie vor einigen Jahren noch einmal ein Kind erwartete. – Zwillinge waren es, die dann infolge unglücklicher Lageverwicklung unter entsetzlichen Leiden der Mutter tot zur Welt gebracht wurden.

Trotzdem sie sicherlich nicht nervenschwach heißen konnte, blieb ihr von jener einzigen ernsthaften Erkrankung ihres gesunden Lebens ein unverwindbarer Eindruck zurück. Andererseits freilich hatte dieses Geschehnis erst sie mit einem Schlage eingereiht ihnen allen, denen Branhardt sein Leben widmete, und sie in schweren Krankenerfahrungen ihrem Mann auf eine ganz neue Weise verbunden.

Sie unterdrückte einen Schauer. »Da es doch nicht mehr möglich sein könnte, Frank –«

Fragend blickte er sie an: »Wie denn, nicht mehr möglich?«

»Seit damals.«

»Ja, damals! Aber seitdem – bist ja doch immer noch jung – glaubst 's wohl gar nicht mehr, weil du die Großen hast! Jung bist du und in blühender Kraft. Verzichten tut da nicht gerade not.«

Sie stützte die Arme auf, zuseiten des Gesichts, um es ihm zu entziehen, und sah vor sich hin auf das weiße Tischtuch. Verzichten nannte er das! Hätte er – er also wirklich wünschen können – er, der sie so entsetzlich, unmenschlich leiden gesehen – ja, als Arzt notgedrungen leiden gemacht –. War sie denn feige – war er brutal in seinen Wünschen? Liebte er sie denn nicht zu sehr für eine solche Wiederholung – genügte nicht schon ein wenig, klein wenig, sorgende Liebe dazu?

Branhardt warf einen halben Blick auf sie, die, den Kopf noch auf die Hände gestützt, schweigend dasaß. Vielleicht kam ihm eine Ahnung von dem, was in ihren Gedanken umging. Er sagte rasch:

»Ein vereinzelter Unglücksfall, einer unter zehntausenden, dergleichen ist doch in keiner Weise ausschlaggebend! Daran darfst du überhaupt gar nicht mehr zurückdenken – nur voraus! Eine so Tapfere wie du: tapfer würdest du immer wieder sein – dafür kenn' ich dich doch! Die geborene Mutter, Lieselieb: und das ist ausschlaggebend.«

Sie hatte aufgeblickt – aber auch ohne hinzublicken, sah sie, wie er da vor ihr stand – in seinem Ton, seiner Haltung, so frei und überzeugt. Nicht an den Worten lag das Überzeugende, sondern an weit unmittelbarer Überredendem – ja, beinahe Körperlichem, an ein paar Bewegungen, einer Sicherheit, die wie Anmut wirkte – Anmut bei aller Unbeträchtlichkeit der etwas kleinen, gedrungenen Gestalt.

Noch ehe er ausgeredet hatte, ja noch während etwas in ihr sich auflehnte gegen seine Worte und ihre Seele sich zu verbergen trachtete vor ihm, wußte sie dennoch: schon gab sie ihm recht – schon stand sie bereit, mitzuwünschen mit ihm, inbrünstig zu wünschen alles, was aus seinem Leben das ihre werden ließ.

Wenige Minuten später sprach man von anderm. Branhardt vergaß bald das kurze Gespräch. Wenn ihm in den nächsten Tagen sich etwas hätte aufdrängen können, so wäre es nur dies gewesen, daß aus der Musik im dämmerdunklen Wohnzimmer noch mehr Musik zu ihm sprach als sonst.

*

Branhardt pflegte sich abends nach Tisch in seine Zimmer zur Arbeit zurückzuziehen, wenn er nicht telephonisch abgerufen wurde, was oft geschah, oder wenn nicht etwas Besonderes vorlag. Eigentlich stand fest, daß er dann nur noch ganz kurz zum Tee zu Frau und Kindern ins Wohnzimmer käme. Meistens aber geriet er in eine aussichtslose Klemme zwischen diesem Grundsatz, an dessen Durchsetzung ihm was lag, und seinem Temperament, das sich in den lebhaftesten Anteil an allen Familienvorkommnissen verstrickte.

Zu zweien war das besser: sie glitten dann unwillkürlich in die alte Gewöhnung von früher hinein, auch abends im Studierzimmer neben der Bibliothek zusammen zu bleiben und dort auch den Tee zu nehmen. Und während Anneliese an ihrer eigenen Lampe mit ihrer eigenen Arbeit bei ihm saß, konnte Branhardt sich an freien Abenden bis in die Nacht hinein in Theoretisches vertiefen, wozu er in dem ganz von praktischen Forderungen erfüllten Tagesleben nicht gelangte.

Anneliese hatte ihr Nähzeug beiseitegetan und sich ein Buch mitgebracht von Balduins Bücherbord in seiner Schlafkammer oben. Einen Dichter, den sie sonst weder las noch auch zu kennen sich sehnte; war ihr der Sohn aber fern, dann trieb es sie bisweilen, zu tun, was er selbst etwa täte, um sich so gemeinsam mit ihm zu beschäftigen.

Manche Stellen gewährten ihr Genuß um hoher sprachlicher Schönheiten willen, vieles erschien ihr fremd – anderes wiederum erinnerte sie eigentümlich an ihren Balder selber, mit seinem ungleichen, unbeherrschten, den Eltern Sorge bereitenden Wesen.

Gitta, die groß war in Namenerfindung, hatte ihn wegen seiner starken Stimmungsschwankungen schon in der Kindheit nie anders benannt als den Prinzen Nimm-von-mir oder den Kaspar Habenichts. So lange her also schon bestand dies Aufflackern und Verglühen, Alleskönnen und Nichtsvermögen . . .

Von wem hatte er Krankhaftes?! Sie dachte an ihre Familie, an Branhardts. – Sein Vater, oben an der Nordsee, war als Landarzt hochbejahrt gestorben; die Mutter, eine dunkle Schweizerin aus dem Tessin, starb früh an einem toten Kinde, aber seine Erinnerungen an sie waren lauter Heiterkeit und Schönheit.

Als der Abendtee gebracht wurde und Anneliese ihn bereitete, bemerkte sie unvermittelt:

»Entsinnst du dich der alten Briefschaften, die ich nach dem Tode meiner Mutter vor ein paar Jahren aus Kurland empfing? – Da waren solche, wo vom Leiden des Großvaters die Rede war – ich las das wohl nie recht durch. – Du weißt, er starb in geistiger Umnachtung.«

»Ja. Infolge eines Absturzes in den Keller, als er Wein holen ging, oder so etwas. – Gehirnerschütterung. – Warum denn?«

Branhardt erhob sich, nahm seinen Tee, erblickte dabei Balduins aufgeschlagenes Buch und erriet unschwer den Gedankengang seiner Frau.

»Weißt du, Lieselieb, selten haben Kinder gesundere Eltern und Voreltern hinter sich als unsere beiden. – Und nun euer Leben gar, generationenlang im köstlichen Landfrieden, in eurem kurländischen Winkel da! Mit den Majoraten, die so viele Geschwister arm lassen, habt ihr's euch dort dumm eingerichtet, aber den Landfrieden, den hast du noch auf dir, Geliebte. Und ich kann ihn gut brauchen!«

Er sprach heiter, stimmte auch Anneliese so. Den Kopf gegen das Polster ihres Korbsessels drückend, meinte sie nur:

»Gitta, die hat ja auch noch ein kleines Stück Landruhe abbekommen – wenigstens sofern man eine Vorstadt vor der Hauptstadt so nennen kann. – Manchmal wünsch' ich aber: wär' nur auch der Balder uns noch dort geboren worden, am Waldrand, bei Kiefern und Heide, anstatt in der besseren, bequemeren Wohnung! Anstatt inmitten der Stadt, zwischen Kasernen und Kliniken, Lärm und Staub. Standen die Fenster offen, um ein wenig Sommer zu ihm hereinzulassen, und sausten die Elektrischen um die Ecke, dann zuckte er im Schlaf. Das seh' ich noch sooft vor mir, wenn er nervös ist. Und selbst du warst es damals – Jahre der gehetztesten Überbürdung waren's ja –, darum allein zogen wir ja herein –«

Branhardt fuhr sich über die steil gebaute Stirn, über der das kurzgeschorene Haar immer weiter zurückwich, ohne über diesen steilen Stirnansatz täuschen zu können, der sich sooft fest abgrenzte, als wolle er sich sein Recht wahren, nicht erst von der Jahre Gnaden da zu sein.

»– Ein Mensch gleich dir, ein so harmonisch in sich ausgeglichener – und ein Sohn wie Balduin, eingerechnet alle seine Fehler wie Vorzüge: das ist freilich ein Problem. In jedem neuen Menschenkind ist eben so viel Neues, Fremdes, davon unser Fleisch und Blut nicht weiß – und was doch wir selber weitergeben, mit blinden Händen, schuldlos, letzten Endes verantwortungslos. – Da ist ein Unberechenbares uns unzugänglich. Eine Schranke, errichtet zwischen den Generationen. – – Kinder gehen in jedem Fall und in jedem Sinn weiter, als unser Bund mit ihnen reicht.«

Er begab sich an seine Arbeit, blätterte jedoch zerstreut. Stand wieder auf, ging hin und her mit seinen leichten Schritten, als ob das Gespräch ihn noch nicht gleich losließe. So dauerte es eine Weile, bis er wieder festsaß am Schreibtisch.

Anneliese bewegte noch die Frage in ihrem Herzen:

Gehen die Kinder weiter als unser Bund mit ihnen –? Wenn man ihnen aber folgt? Würde eine Mutterseele davon verwundet und gesprengt? Und warum auch nicht –?

Und sie dachte weiter:

Schuldlos an ihnen sein, letzten Endes verantwortungslos –? Ach, was hilft das, wo man liebt?!

Stunden verrannen, die Nacht rückte vor, ohne daß Branhardt aufstand. Seine Kraft zur Sammlung, »Geschenk ausgezeichneter Nerven«, wie sie sagten, neideten Kollegen ihm oft. Gelang es einmal, daß er bei einer Sache bleiben durfte, dann fand er ein Ende nur schwer.

Anneliese hatte nicht selten solche Nächte neben ihm zugebracht, und besonders im ersten Jahrzehnt ihrer Ehe. Sie waren nicht so wie in Gesellschaft eines Bücherwurms, der sich vergräbt. Nein, oft hatten sie einen lebendigen Kampf bedeutet, weil seine Natur darauf ausging, das Leben in voller Ganzheit zu umfassen und sich zu jeder Art von Einseitigkeit nur zwang. Auf vieles verzichten, was zu solcher Ganzheit zu gehören schien, um vom gegebenen Punkt aus um so fruchtbarer allseitig zu wirken: das spielte sich in Branhardts Seele vor den feinen Augen seiner Frau wie ein tiefmenschliches Drama ab, mit Siegen und Niederlagen.

Der Schauplatz: dies Studierzimmer, blieb fast immer derselbe, denn dessen ursprüngliche Einrichtung hatten sie durch allen Wechsel mit sich genommen wie die Schnecke ihr Haus. Und im allerersten Haus, dort an der Stadtgrenze vor dem Föhrenwald, repräsentierte es auch fast die Gesamtwohnung; gegenüber lag nur noch das Schlafzimmer, die Küche aber war erhoben zu einer allerliebsten kleinen Eßstube, darin Anneliese am Herde waltete.

Entsann Anneliese sich dieser engen Behausung zu zweien, so lag für sie dennoch etwas darüber von einem fast feierlichen Alleinsein. Tagsüber hielten Branhardt berufliche Pflichten in der Umgegend und an Instituten der Stadt von ihr entfernt; und beinahe war ihr das recht so. Beinahe bedurfte sie der Einsamkeit: so überstark ward ihr das Erlebnis ihrer Liebe. Gleich allzu feurigem Wein berauschte das Glück die kaum Erwachsene, von den Ihrigen Entfernte – brachte sie um alle Fassung. Ein Instinkt sagte ihr, daß er sie nicht ebenso beobachten dürfe, wie etwa sie seinen Berufs- und Entwicklungskämpfen zusah. Die vielen Stunden ganz mit sich allein in diesen Räumen, deren Enge Poesie geworden war, halfen ihr zur glückbereiten Sammlung durch ihrer Hände schlichte, grobe Arbeit. Ließen ihr Raum, auf ihre Frauenweise an sich selbst zu arbeiten – in jenem tiefen, zitternden Ernst einer, die ihr Haus nicht nur für sich, sondern für den Geliebten schmückt mit allem Kostbarsten, davon sie weiß – ihre Seele für ihn ruft und schmückt. – Nein: Flitterwochenglück war es nicht, für alle beide nicht, dies glückesschwere.

Aus dem bescheidenen Vorstadtidyll am Waldrand, vor das gleichwohl nicht so sehr Turteltauben zu Wächtern geeignet schienen als ein Löwenpaar, erstand Gitta.

Anneliesens Gedanken, gegen den Schlummer ankämpfend, verträumten sich. Wie kam das doch nur, daß dieser Vorstadtwald so schön sein konnte, so weit und still, trotz der Scherben und Papiere, die seinen Nadelboden verunreinigten, der Menschen und Räder, die ihn durchschwirrten? – Sie meinte ihn noch wahrzunehmen, den warmen Duft des Kiefernstandes, auf den ihre paar Fenster hinausgingen – das Herüberblinken der Riesenstadt – ihr dumpfes Brausen, und wie sich langsam, immer näher, Haus an Haus zu ihnen heranbaute – und doch immer noch unberührte Stille bestehen blieb, oft hart daneben: irgendwo friedvoll ruhend unter alten Bäumen oder auf letztem Wiesenland – gleich ahnungslosen Lämmchen dicht vor dem alles verschlingenden, sich nähernden Wolf. –

Als Branhardt spätnachts einmal an die Büchergestelle trat, sich etwas herauszugreifen, bemerkte er, daß seine Frau in ihrem Korbstuhl schlummerte. Den Kopf mit dem vollen rötlichen Haar gegen das Lederkissen der Rückenlehne gelegt, schlief sie fest, einen unnennbar beglückten, lieblichen Ausdruck auf den Zügen. Denn in ihrem Traum stand ein Wald im Märchenglanz. So wie er damals bisweilen gestanden hatte bei sinkender Sonne im Winter: ganz von Silber. Und sie wußte, daß es ein Wald ohne Ende sei.

Branhardt legte sein Buch aus der Hand. Ihr Gesicht, das nicht schön war und ohne die innige Inschrift der Seele in all den Jahren in das Banale hätte verblühen können, war so beredt für ihn. Wie in der Jugend noch, so stark und herzlich liebte er es, und dann auch noch anders als nur in der Jugend: denn was darauf zu lesen stand, das trug nun auch er, vielleicht in härteren Lettern, als gleiche Lebensinschrift in sich.

Waren sie einander doch gleich im innersten Bestreben: und so auch Geschwister geworden in irgendeinem Sinne.

Einen Augenblick blieb er vor ihr stehen, und mit einer tiefen Freude überkam ihn die Gewißheit: jeder Jugendglanz weniger auf diesem Gesicht, das ist nur wie ein Schleier mehr, der abfällt vom Antlitz einer Schwester.

Anneliese fühlte sich an der Schulter berührt.

»– Laß mich im Wald!« murmelte sie.

»Dies ist kein Nachtschlaf für dich. Steh' auf, Lieselieb. Komm, ich helfe dir hinaufgehen.«

Niemand kam zurück. Die Lampen blieben brennen auf dem Schreibtisch und auf dem Nähtisch.

Morgens, kurz vor dem Hellwerden, als Frau Lüdecke sich zum Aufstehen rüstete, nahm sie sogleich den fahlen Lampenschimmer wahr über den verschneiten Gartenwegen. Mißbilligend schüttelte sie ihren Kopf im weißen, vorn getollten Häubchen, das sie des Nachts trug, weil Herr Lüdecke sich vor Haaren fürchtete, die sie im Bett verlieren könnte. Und gegen Haare war Herr Lüdecke nun einmal empfindlich.

»Ach Gott, Gottchen, so ein Überstudierter, was der treibt! Herr Lüdecke, der dürfte mir das nicht, sich so zuschanden studieren!« entschied sie bei sich und eilte hinauf – mit sanftem Vorwurf anzuklopfen, denn geheizt mußte nun werden. Sie wagte ja immer nur einen wortlosen Tadel und suchte ihn nur in den schlimmsten Fällen durch ihren Blick und einen Seufzer eindrucksvoll zu machen.

Als sie jedoch die Tür öffnete, war das Studierzimmer leer.

Frau Lüdecke behielt aber zeitlebens die heimliche Überzeugung, da habe sich jemand noch in letzter Minute vor ihrem vorwurfsvollen Blick gedrückt.


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