Lou Andreas-Salomé
Das Haus
Lou Andreas-Salomé

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VI.

Seit acht Tagen beherbergte die Gaststube oben ihren Gast. Renate, die Jugendfreundin, deren elterlicher Landsitz dem Familiengut Anneliesens benachbart gewesen, kam aus ihrem Standquartier in der Hauptstadt auf einer Fahrt nach dem Süden des Landes vorbei, wo sie etwelche Vorträge halten sollte. Sie hatte Bibliothekwissenschaft studiert, nahm häufig Aufträge entgegen für alte Privatarchive oder zu ordnende Büchereien und oblag daneben gewissen historischen Spezialstudien, die ihr durch eine sehr bemerkte Dissertation zum Doktorgrad verholfen hatten. Trotzdem war sie weniger Gelehrte als ein organisatorisches Talent, und nicht bloß in bezug auf außer Rand und Band gegangene Bücher. Wie sie schon als junges Mädchen in der großen Welt eine Gesellschaft zusammenzuhalten verstanden hatte, so wußte sie später innerhalb verschiedenster Menschenelemente eine Idee suggestiv zu machen, sammelnd zu wirken, und ihre Vorträge, glücklich unterstützt durch ihre aristokratische Erscheinung, machten nicht selten Aufsehen.

Auch Branhardt, dem alles Tüchtige zusagte, bewunderte diese Aktivität einer fast kränklich zarten Frau, »an der freilich ein Mann verlorengegangen sei«, wie er sich ausdrückte. Aber nur Anneliese war es bekannt, um wieviel bewunderungswürdiger noch dies alles in Wahrheit sei, denn nur sie kannte an Renate die müden Nerven, ihr hinterlassen von einem alten, aussterbenden Geschlecht – kannte ihren Kampf gegen sich selbst mit dem »Rest verwirtschafteter Kraft«. Sie allein würdigte Renatens »Männlichkeit«, die dieser Freunde und Feinde eintrug, als Renatens Heldentum.

Manchmal musizierten sie zusammen. Als kleine Mädchen hatten sie ihren Anfangsunterricht beim gleichen Lehrer gehabt. Ohne nennenswertes Talent im Ausüben verstand und liebte Renate Musik über alles, und nie weilte sie auch nur einen Tag lang im Hause, ohne daß Anneliese ihr schenken mußte aus ihrem Schatz.

Dann streckte Renate ihre zierliche Figur lang aus auf einem der Sessel, einen zweiten sich unter die Füße schiebend und die Hände unter dem Kopf verschränkt, auf dem, seit einem Typhus, ihr weißblondes Haar in kurzem, feinem Gelock stand. Eine wundervolle Lässigkeit schien ihr direkt ein Haupterfordernis beim Musikhören, und manchmal auch im Leben.

Schon die ergreifendsten Konzerte hatte ein steifer Stuhl ihr verleidet – und übrigens als Backfisch zuweilen auch Anneliese auf dem Stuhl neben ihr, weil diese so selten ihre Rührung, ihren Kampf gegen das Weinen, teilte. Denn Anneliese lachte oft über das ganze Gesicht über all die Schönheit und Herrlichkeit, die sie da zu hören bekam, und beide warfen einander Lachen wie Weinen dann vor. Allmählich wurde große, ernste Musik, zu der es sie am stärksten trieb, überhaupt zu etwas, was Renate sich nur als seltensten Luxus gönnen durfte und wovon sie sich jedesmal erholen mußte wie von einer zitternd ausgehaltenen Verwundung.

Auch diesmal ging es ihr so, nachdem sie wieder und wieder nach Beethoven verlangt hatte.

»Hör auf – hör auf!« murmelte sie hilflos in die Appassionata.

»Du bist angegriffen, weil du dir zuviel zumutest«, äußerte Anneliese besorgt.

»Angegriffen?« Renate verstummte wieder. Dann sagte sie mühsam, rauh: »Wer dem zuhört, der will plötzlich das Unmögliche. Der erträgt es plötzlich nicht, daß seiner Jugend, dieser hoffärtigen Dame, eines Tages die Erniedrigung gefiel.«

»Reni –!« Anneliese fuhr von ihrem Stuhl vor dem Flügel hoch: »Du! Denk, was du bist: stark, stolz! Wie wagst du es, von dir so zu reden! – Was liegt denn an dem« – sie sprach atemlos.

Renate hob den Kopf. »Ach, Liese, du gutes Tier! Aber nein, keine Flausen sich selber vormachen.« Und sie sagte ruhig und laut: »Ich habe ihn wiedergesehen.«

Da wandte Anneliese sich stumm zurück zum Flügel; ganz zusammengebückt saß sie davor. Wiedergesehen! Dann war es wie immer. – Ja, es war so, trotzdem ehrlichere, bessere Freunde ihr begegnet, trotzdem sie dann den Versuch erneuert hatte, zu vergessen.

Anneliesens Hände lagen schwer auf den Tasten; zornig hätten sie am liebsten hineingegriffen, zu übertönen, zu übertäuben dies Wort, das sie gehört. Daß man so selbstmörderisch sein konnte im Lieben. Ihre Renate – damals überdies das von gräflicher Mutter adels- und vorurteilsstolz erzogene Mädchen, jetzt von sich aus von noch tausendfach edlerer Vornehmheit – und er einer, dem Gattin zu sein sie nie und nimmer ertragen haben würde – der Seele nach eine Art von Reitknecht, vertraut nur mit der Peitsche.

Renate hatte sich aus ihrer lässigen Ruhelage erhoben, sie kam an den Flügel; ihre Gestalt, nicht so hinausgewachsen wie die der andern, streckte sich unwillkürlich. Aber auf ihren Zügen, die streng geschnitten und schön waren, beinahe unabhängig von Jugendreiz, lag tiefste Abspannung, und ihre Augen schwammen in Tränen.

»Immer ist es, als ob nur ich – und doch ist es in uns allen – das Stärkste in uns allen: dieser wahnsinnige Reiz der Unterordnung!« sage sie wie verloren.

Und plötzlich lag sie hingekauert bei Anneliese auf dem Teppich, umfaßte die Dasitzende fest und leidenschaftlich:

»Wenn du nachdenkst – so ganz, ganz freimütig und tief: wenn du an das Allerbestrickendste denkst – an solche Augenblicke – und wären's auch nur Augenblicke! – zwischen dir und Frank: war nicht auch in dir so etwas das Stärkste?«

Fast flüsterte sie es ihr ins Ohr. Ihre Köpfe schmiegten sich dicht aneinander, wie sie sooft in der Mädchenzeit getan. Anneliese hob eng verschränkt ihre Hände bis an die Lippen, mit tiefernster Ehrlichkeit in sich selbst suchend – nach dem suchend, was sie als Frauen zu Schwestern machen konnte.

»Wenn ich nachdenke,« jagte sie langsam, »ja, solche Augenblicke: wo etwas, was mir sehr schwer fiel, was ich aber sollte und wollte, mir geradezu hilfreich, als ein Wille von ihm kam – zwingend, beflügelnd! Ja, zwingend, aber doch mich fördernd! Niemals wäre es möglich gewesen, wo es nicht meine – nein, unsere – Förderung galt – denn meine allein – – –«

Renate schnellte vom Boden auf, als kein Schluß erfolgte. Sie ging rund um das Zimmer, die Hände am Rücken, sie ging langsam und achtsam auf dem hellern Blumenrandmuster des einfarbigen Teppichs, der die Mitte des Fußbodens bedeckte, und ihre Tritte drückten sich so absichtsvoll wuchtig in ihn hinein, als ließen Teppichblumen sich zertreten.

»Bist du nun eigentlich so unverbesserlich nachsichtig, Liese,« bemerkte sie mit einer Spur von Gereiztheit in der Stimme, »daß du mich gelten läßt, wie ich mal bin – du, die doch also so brav denkt, so – so ›familienumfriedet⁦ –, oder schätzest du nur rein um meinetwillen gelegentlich so ein bißchen Unkraut mitten in deinem ordentlichen Korn?«

Da lachte Anneliese, und es war wie eine Befreiung.

»Ganz so einfach ist es mit dem Korn gar nicht, Reni. Man muß ja alles beides in sich haben, und von beidem eine ganze Menge! Sät man doch Unkraut in ganzen Feldern, zu deren Auffrischung, weil es mehr Wurzelwert hat als Nutzkraut und die tieferen Erdschichten berührt, lockert. – Weißt du das nicht als Landkind? Wenn längst all das Bunte und Blühende dran verwelkt ist, dann fängt erst sein Sinn an: unten in der Erde bereiten die kleinen Wurzeln dem neuen Korn den neuen Boden. – ›Was ist Unkraut?‹ – spricht Pilatus – bei mir.«

»O Liese, wie wunderschön!«

Renate lag wieder im Stuhl, den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen. »Ich danke dir! Nun spiel – spiel, du Liebe, Weise, was dir unter die Finger kommt! Jetzt kann ich hören!«

*

Als sie noch Backfische waren, da hatte »Reni« auf »Liese« fast ein bißchen hochmütig herabgesehen, weil die es mit ihrer Musik so ernst nahm, daß sie ganz dafür leben wollte – und sogar davon! Dann, nachdem Renate selber eine »Strebende« geworden war, machte sie wiederum Anneliese die frühe Vermählung zum Vorwurf, als Abtrünnigkeit gegen den erwählten Beruf. So lernten sie sich während und nach der Kinderfreundschaft dicht beieinander im Grunde nicht ganz kennen – erst das Leben, fern voneinander, lehrte sie das. Und Anneliesens Glück war es, was Renate selbst in der Ferne durch Jahre weit sichtbar blieb wie ein stetiges Licht dem Boot auf der See, das sich daran auskennt.

Selten nur sahen sie sich, schrieben sich noch seltener, und mehr verlangte keine von der anderen.

War Renate aber einmal da, so beanspruchte sie von Anneliese um so mehr. Deshalb traf es sich gut, daß diese aller Geselligkeit, schon um Branhardts Zeitmangel willen, ganz entsagt hatte. Nur für die Kinder kamen öfters Einladungen in dieser Zeit, manchmal zu Tänzchen, die aber Gitta nicht annahm, seitdem Balduin sie nicht begleiten konnte, denn erst hatte er mit verbundenem Fuß gelegen, und jetzt hinkte er herum. Einmal kam gar eine gedruckte, förmliche Balleinladung mit der Nachmittagspost. Anneliese suchte die Tochter, die auch für diesen Abend ausgebeten war, vergebens im ganzen Hause. Endlich fand sie sie in Balduins Privatreich an der kleinen Veranda, angetan mit seinen großen, weichen Filzpantoffeln und im Begriff, eine Flasche mit Kirschbeermost, für den er schwärmte, zu entkorken. Der kleine, vielfenstrige Raum, jetzt mit noch mehr Büchern und mit Bildern geschmückt und von ihm in etwas pedantischer Ordnung gehalten, nahm sich ungemein anheimelnd aus.

»Balleinladung, für Sonntag!« sagte Anneliese. »Was treibst du denn hier? Trinkst du dem Balder seine Flasche aus?«

»Nur einen Schluck, Mumme. Den gönnt er mir. Muß er's erst selbst entkorken und anbrechen, dann quält er sich zu lange, ob er eigentlich will oder nicht. Oder: ob er die Flasche zum Korkenzieher tragen soll oder den Korkenzieher zur Flasche holen. Und die Filzpantoffel – ja, die möcht' ich ihm gern warmhalten, das tut ihm jetzt gut am armen Fuß, unserm hinkenden Kaspar Habenichts.«

Anneliese küßte sie. So ganz plötzlich, da konnte Gitta mal ein richtiges kleines Weib sein, fürsorgend. Dann wieder kümmerten die Geschwister sich blutwenig umeinander oder nur in der Form, daß sie beim geringsten Anlaß berserkerhaft wurden.

Gitta überflog die Einladung.

»Wenn du nicht magst, brauchst du nicht«, sagte die Mutter.

Sehr tiefsinnig sah Gitta drein.

»Diesmal mag ich eigentlich wohl, Mumme. Und das Weiße ginge recht gut – die Lüdecke bügelt es mir auf. – Bei solcher größeren Gesellschaft wird nämlich jedenfalls jemand sein, Mumme, den ich sonst gar nicht leicht wiedertreffe.«

»Jemand? – Wer denn?«

»Ich hab' ihn noch nicht oft gesehen. Zweimal im Frack – im Straßenanzug einmal, da sah er ganz anders drin aus: nach fast gar nichts. – Aber das letztemal, damals auf dem Kostümfest, weißt du – als Araber.«

»Ja, aber wer ist es denn nur eigentlich, Gitta?«

»Er heißt Markus. Ich meine mit Vornamen. Und weiter heißt er« – sie seufzte – »Mandelstein. Ich wollte, er hieße rumänisch – von dort irgendwoher ist er. Wie schön könnte er heißen! – Von Beruf ist er Mediziner oder so was.«

»Mediziner? – Ja, dann hat Vater mir den einmal genannt. Ich glaube, habilitieren will er sich hier. Aber was liegt dran, wie er heißt? Zum Tanzen bleibt es doch wohl gleichgültig«, meinte Anneliese.

»Ja, süße Mumme, zum Tanzen wohl. – Aber noch lieber würd' ich ihn heiraten.«

»Was sagst du da –?!«

Anneliese, niedergebückt zum Öfchen, das gern verlöschte, wenn man nicht nach ihm sah, fuhr in die Höhe, als wäre ihr die Funkenglut übers Gesicht gesprüht.

»Du hast wohl ganz den Verstand verloren, Gitta?! Ich will nicht hoffen, daß der Herr Mandelstein dir hinter unserm Rücken den Hof gemacht hat?«

»Nein, Mumme.«

Anneliese atmete erleichtert auf. Worüber erschrak sie denn auch! Gitta hatte doch immer die wunderlichsten Schrullen ohne Belang.

»Also bei deiner einseitigen Verehrung für ihn kannst du ihm ja nun in Gedanken die schönsten aller Namen beilegen, das ist ja deine Leidenschaft«, bemerkte sie scherzend, ihren erschrockenen Ton zu verwischen, und fuhr Gitta übers Haar.

Diese kämpfte sichtlich mit sich.

»Siehst du, Mumme – das mit dem Hofmachen ist doch nur so – es ist nicht jedermanns Art. – Aber damit ist noch nicht gesagt – –. Ich glaube sogar eigentlich, daß – –. Das Merkenlassen, das Sprechen davon, das ist ja oft nur noch so das Allerletzte, süße Mumme. Sei mir nicht böse, aber mir scheint – ich glaube – alles kann sehr gut schon da sein – nur noch ganz dünn zugedeckt, weißt du – und oft macht das ganz unbändige Schmerzen, daß es noch nicht herauskann. Es ist ja auch so bei einem Geschwür, das schließlich nur noch platzt«, schloß Gitta mit gedankenvollem Ausdruck, und sie schien bewegt.

Die Mutter stand still vor ihr. Trotz des selbst für eine Arzttochter schauderhaften Vergleichs konnte Anneliese gar nicht lachen, es nicht scherzhaft wenden, die Kehle war ihr wie zugeschnürt; sie bemerkte mit angestrengter Sachlichkeit:

»Ich möchte etwas Tatsächlicheres wissen, Gitta! Irgend etwas, wenn schon nicht Hofmacherei, muß es doch sein, was dich auf so eitle Vermutungen bringt. Irgendwie muß dieser Herr sich doch wohl benehmen –«

»Es liegt nicht am Benehmen, Mumme, das ist es ja eben!« rief Gitta, und jetzt flammte ihr Gesicht vor Eifer. »Menschen gibt's, denen sieht man gleich alles an, alles, was da ist, und womöglich auch noch, warum es da ist – überhaupt alles – so wie Helmold –«, etwas zögernd sprach sie den Namen doch aus. »Und dann solche wie dieser – da sieht man nichts. Und reibt sich die Augen und denkt manchmal: Wo ist es denn? Und doch ist es da! So etwas Festliches, Mächtiges, so etwas, dessen Liebe auf einen zukommt wie mit ganz großen Glocken, oder wie Sturm oder Gesang. – Man fühlt es – man fühlt es!« wiederholte sie, und ihr kleines Gesicht mit des Vaters Charakterzügen sah ganz entzückt aus.

Anneliese hatte sie in die Arme genommen, das Herz schlug ihr in einer sonderbaren Angst, fast hastig sagte sie:

»Gitta – geh' nicht hin – auf dieses Tanzvergnügen –, Kind, geh' nicht. Du weißt noch: soeben erst vor kurzem, da hast du mit solchen Dingen gespielt – unrecht getan, gekränkt. – Du gerätst ins Spielen – und einmal kränkst du einen andern –, und einmal wächst's dir selbst über den Kopf.« Anneliese wußte nicht genau, was sie so stark dabei fürchtete, unterließ es aber, sich genauer darauf zu prüfen. In keinem Fall sollte Gitta in dies Neue verwickelt werden. – Als deshalb die Tochter zaudernd stumm blieb, ergriff sie den Entschluß an ihrer Statt:

»Du wirst mein gutes Kind sein und nicht hingehen!« entschied sie und küßte sie auf die Stirn.

Mit solchen Küssen war es nun ein wunderliches Ding. Anneliese gebot und verbot höchst selten was, es sei denn in rein praktischen Alltagsfragen; geschah es dennoch einmal, dann endgültig abschließend und mit einem Kuß. Gegen dieses Kusses Bedeutung gab es noch weniger einen Appell als gegen des Vaters strengste Miene.

Sie wechselten noch einige Worte über Gleichgültiges, über das Nachhausekommen abends. Man hörte nebenan Branhardt heimkehren, und Anneliese wollte hinübergehen. Da, wie sie schon in der Doppeltür zu seinem Studierzimmer stand, stürzte Gitta plötzlich auf sie zu und umhalste sie stürmisch.

»Mumme, Herzensmumme, laß mich von Sonntag auf Montag nach Hasling hinüberfahren, zur Gertrud ins Pastorat –«

»Natürlich, warum nicht? Warum nur gerade am Sonntag, wo Vater mit uns ist?«

»Es ist nur – wegen des Tanzfestes ist es. – Ach, laß mich lieber gar nicht hier sein, wenn er – ich meine, wenn dies Tanzfest ist.«

Ihr Gesicht erblaßte dabei.

Anneliese legte sich etwas schwer über die Glieder. – Sie tat, als bemerke sie an Gitta weiter nichts, sie war unbewußt bemüht, auch von ihrer eigenen Erregung nichts zu bemerken. Aber Gittas Gesicht, blaß mit einem Male und mit dem zitternden Mund – so rührend mit einem Male, das wich nicht mehr von ihr, wo sie ging und stand.

Bei Tisch fiel es auf, wie ungewohnt zerstreut Anneliese schien und nicht wie sonst mit ganzer Seele bei dem, was sie sprach.

Als Gitta fortgegangen war und sie mit Renate im Wohnzimmer bei der Lampe allein blieb, äußerte diese unwillkürlich:

»Kinder großzuziehen, das muß eine heillose Not sein – Glück ja freilich auch, natürlich. – Ja, wenn man ein Stück Natur sein könnte, schöpferisch, vergeuderisch, schmerzlos, skrupellos! Oder meinetwegen der Herrgott in Person, der seiner Kinder Herzen ›lenkt wie Wasserbäche‹. – Aber gleichsam in der Klemme zwischen beidem – –. Gute Eltern sind tragische Menschen.«

Anneliese blickte lebhaft auf; gegen ihre Gewohnheit saß sie müßig. Sie sagte halblaut:

»Ja – Zwittergeschöpfe, das sind wir – die gebären, ohne zu wissen was, erziehen, ohne zu wissen wen, verantworten müssen, ohne zu wissen wie, und doch weder ihre Macht noch ihre Angst lassen können.«

Sie gewahrte Renates erstaunten Blick, einen so erstaunten, daß ihr ein Lächeln kam. Da verbesserte sie sich rasch, aufleuchtenden Auges: »Dies gerade ist ja aber das Herrlichste wiederum – all dies Widerspruchsvolle aus Tiefstem heraus –, und daß wir mittun am ganzen Rätselwerk! – Wer wollte wohl aufs Leben verzichten da, wo es am meisten Leben ist.«

»Nein, du wohl jedenfalls nicht – Himmeldonnerwetter!« meinte Renate lachend. »Und da wundert man sich noch, daß es so einer wohl ergeht auf Erden!«

Schon wieder lag sie lang ausgestreckt und rauchte sogar: eine richtige Zigarre, denn Zigaretten behauptete sie nicht vertragen zu können. Übrigens tat sie es selten, bei besonderen, nur ihr kenntlichen Anlässen.

Sie war verstummt, dachte bei sich:

Wahrhaftig! Wissen und Können, Philosophie und Religion und weiß der Himmel was, wie wenig leistet das alles gegen dies Einfache: die Daseinslust des vollkommen gesunden, physiologisch harmonischen Menschen – der ich nicht bin. – Was das Leben eigentlich ist, das hat's nur ihm verraten. Man kann dem Leben trauen – wenn die Liese ihm traut.

Auch Anneliese dachte das ihre: wie so »kinderlos« Renate dahersprach, und war doch so mütterlich! Wie viele junge Menschen drängten sich um sie, empfingen Rat und Tat von ihr. Und das ging bis in die zarteste, materielle Fürsorge. Vielleicht wußte aber nur Anneliese, weshalb ihre Freundin manchmal höchst knapp bei Kasse war, trotzdem gerade sie Kassenebbe unverhältnismäßig schlecht ertrug.

Ihren Rauchwölkchen nachschauend, bemerkte Renate nach einer Weile:

»Mir wollt' es doch heute scheinen, als machten dir die Kinder Kopfzerbrechen.«

Anneliese gab es zu. Ihr tat es wohl, von Gitta zu reden, die ihr alle Gedanken einnahm. So erzählte sie einiges von ihr: aus der Helmold-Episode, wobei sie mit Verwunderung wahrnahm, wie längst vergangen das alles ihr schon schien. Dann auch von Gittas Treiben mit den alten Großmutterbriefen. Das Letzte, ihre neueste Sorge, verschwieg sie.

Renates Interesse wurde lebhaft erregt. »Und da behandelt ihr immer nur Balduin als das ›Problem‹? Wie unzeitgemäß! Ihr werdet doch nicht so vorurteilsvoll sein, bei Gitta zu denken: ›Nur ein Mädchen‹? Laßt ihr nur um Gottes willen Freiheit, sich ganz auszumausern!«

Und sie band es Anneliese auf die Seele, Gitta nicht zu früh in eine Ehe hineingeraten zu lassen.

Dies leuchtete Anneliese an diesem Abend ganz besonders ein.

»Sie soll für sich herumfabulieren dürfen, soviel sie nur will!« versicherte sie, viel fröhlicher geworden, denn schon verwandelten ihre Wünsche Markus Mandelstein aus einer lebendigen Gefahr zu einem bloßen Bildnis, gleich der Urgroßmumme im »Abreißbuch«, dessen abgerissene Einzelblätter übrigens meist mit hinausgefegt wurden. »Ich gönn' es ihr wahrlich, so ihren Ausdruck zu finden für alles, was auf dem Herzen sitzt – mehr davon sagen zu können als etwa: ›Ach, Frank!‹ Bei mir ist es leider bei dieser einen Kundgebung geblieben.«

Sie lachten darüber.

»Du sein und noch dies andersartige können, das wär' auch wahrhaftig mehr, als auf ein einzelnes Menschenkind an Glück kommen darf«, behauptete Renate. »Wer weiß übrigens, ob nicht ein Glück, groß wie deins, bereits recht dicht liegen mag bei Künstlerland – vielleicht nur gerade noch eine Station davor. Du mit deinem schauderhaft guten Instinkt wirst natürlich da eben rechtzeitig noch ausgestiegen sein, denn weiterhin fährt es jedenfalls vorüber am Frauenglück – falls der Zug nicht überhaupt entgleist.«

Aber von solchen Eisenbahnunglücken wollte Anneliese durchaus nichts wissen, und heftig umstritten beide noch die geographische Lage des Glücks. Sie saßen auf bis in die Nacht und redeten sich heiße Wangen an, fast wie in ihrer Mädchenzeit.

Als dann Anneliese diesmal nur kurz vor Branhardt zur Ruhe ging, der spät noch einmal hatte fort müssen, da wäre sie gern zu ihm gekommen mit dem, was sie an diesem Tage als Mutter so stark in Anspruch genommen hatte. Die ungeheure Nähe, womit die Kinder ihr ans Herz drängten, ließ sie die sachliche Überschau eher verlieren, an der Branhardt sich stets zurechtfand.

Manchmal machte es auch Mühe, alles so darzulegen, wie man es selbst empfand. Schon als sie ihm kürzlich vom Eindruck erzählte, den der Balder während des Urgroßmutterzwistes mit Gitta auf sie gemacht, fühlte sie, daß es sich mit bloßen Worten nicht recht wiedergeben ließ.

Für die Kinder allein schon müßte unsereins ein Talent sein können von Gottes Gnaden, in allen Zungen beredt! Mutter sein: das heißt wahrlich nach Begabung schreien für vieles – alles! dachte sie bei sich – und wäre gern nicht vorübergefahren an Künstlerland.

Branhardt jedoch schien diesen Abend benommen zu sein von andern Angelegenheiten, er war einsilbig und lag lange wach. Sie wußte: wenn nach so aufreibendem Tagewerk der Schlaf ihn floh, so bedeutete das meist irgendeinen sehr schweren Fall, der ihm nachging. Hinterher, wenn ihm gut ausgegangen war, was zwischen Tod und Leben hing, dann konnte er, sei es selbst mitten am Tage, für Stunden in einen fast unerweckbaren Schlaf verfallen.

Und während sie lag und lauschte, ob er nicht doch eingeschlummert sei, wichen von ihr selber leise ihre eigenen Sorgen, stellten sich nicht mehr so abgehoben und überwichtig neben jene vielen, fremden, unter denen ihre Familie, was immer sie auch betraf, doch gleichzeitig mitzählte unter den Unzählbaren.

Auch ohne sich gegen ihn ausgesprochen zu haben, kam sie so neben dem Schweigenden, Wachenden, mit Unbekanntem Ringenden bis dorthin, wo man schon, von unten her betrachtet, ganz klein aussieht, aber sehr weit sieht.


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