Joseph Roth
Reise in Rußland
Joseph Roth

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XVI. Öffentliche Meinung, Zeitungen, Zensur

Frankfurter Zeitung, 28. 12. 1926

Es gehört zum Wesen einer reaktionären Diktatur (etwa Mussolini), daß sie in der Hauptsache »verbietet«. Es gehört zum Wesen der proletarischen Diktatur in Rußland, daß sie (heute schon) mehr diktiert als verbietet, mehr erzieht als bestraft, eher prophylaktisch als polizeilich wirkt. Deshalb – und weil überhaupt in Rußland vor der Revolution eine breite öffentliche Meinung nicht bestanden hat – hemmt die kommunistische Zensur in diesem Lande vielleicht den Gelehrten, den Künstler, den Philosophen, den Schriftsteller: dafür erzieht sie die Massen überhaupt erst zu der praktischen Anwendung einer Meinung. Die Zeitung steht im Dienst der Zensur: nicht dadurch, daß sie die Wahrheit unterdrückt, sondern dadurch, daß sie den Willen der Zensur propagiert. Den Willen der Zensur: das heißt den Willen der Regierung. Die Zeitung wird das Organ der Zensur, weil sie das Organ der Regierung ist. Der Zensor selbst könnte sie redigieren. Infolgedessen hat sie auch eine gewisse Freiheit der Meinungs-Äußerung. Zensor und Journalist stehen (wirklich oder angeblich) auf dem Boden derselben Weltanschauung. Sie verstoßen zumindest nicht gegen die Staatsreligion, die in diesem Staat der Atheisten: kommunistische Ideologie heißt. Wer sich zu dieser bekennt oder ihr mindestens sympathisierend gegenübersteht, hat ein Recht zur Kritik, die allerdings niemals den Rahmen sprengen darf. Und sie sprengt niemals den Rahmen. Weshalb?

Man sehe sich einmal die vielen Zuschriften aus dem Publikum an die russischen Zeitungen an. Diese öffnen bereitwillig, höchst erfreut ihre Spalten der Kritik. In keinem Lande der Welt wird so viel öffentlich kritisiert. Es wird sogar scharf kritisiert. Man spart nicht mit Vorwürfen und Angriffen, Anprangerungen und öffentlichen Anklagen. Und dennoch wird diese Schärfe niemals staatsgefährlich, niemals der Staatsideologie gefährlich. Warum? Weil der Staat, weil die Zensur, weil ihre Organe: die Zeitungen die Massen zur Kritik erziehen und selbst die Losungen ausgeben, gewissermaßen die Leitmotive der öffentlichen Meinung für die nächsten paar Monate. Es ist ein geistiger, sehr kluger, sehr staatspolitischer Angelsport. Von oben wird der Haken mit den fetten »Mißständen« ausgeworfen und die kritik-hungrigen Massen schnappen danach. Es scheint mir, daß die Sowjetregierung die einzige ist, welche die Kritik als einen Naturtrieb des Menschen und der Massen erkannt hat. Sie beeilt sich, ihn sich dienstbar zu machen, indem sie ihn selbst pflegt und leitet. Ihre Methode ist – auch vom historisch objektiven Standpunkt aus – deshalb gerechtfertigt, weil die russischen Massen heute noch eine solche Aufsicht brauchen; weil sie ohne diese Leitung von oben noch lange nicht eine »öffentliche Meinung« zu bilden begonnen hätten. Überflüssig zu sagen, daß dieser kluge Ausweg auch ein glänzendes Propagandamittel für den Sowjetstaat ist, daß man jeden Vorwurf einer Unterdrückung der Kritik durch einen einfachen Hinweis auf die Zeitungen widerlegen kann.

Man muß schon in Rußland leben und die (sehr seltene) mündliche, private Kritik der Einzelnen gehört haben, um zu erkennen, wodurch sich die offen sichtbare, die gedruckte öffentliche Meinung von der Meinungsfreiheit eines kulturelleren Landes unterscheidet. Die öffentliche, laute, staatstreue Kritik ist eine Kritik der Parolen, der Losungen, der Schlagworte. Die erkennbare »öffentliche Meinung« im heutigen Rußland ist die gewaltige Summe (nicht die Potenz) addierter Echos auf eine den Massen zugerufene Formulierung. Der geübte Hörer erkennt am Echo den Rufer. Der Rufer steht oben.

Daher die auffällige Häufigkeit druckreifer, beinahe schon typographisch durchdachter, fix und fertiger Definitionen der »öffentlichen Mißstände«. Alle paar Monate gibt es eine andere Definition. Man kehrt die natürliche Entwicklung um, während bei uns, in allen westlichen Ländern, zuerst die Kritik sich regt, dann sich häuft und schließlich in einer schlagenden Formulierung ihre gesammelte Kraft vereinigt und mit ihr vorstößt – ist in Sowjetrußland zuerst das Schlagwort da, dann häuft es sich, dann wandelt es unter die Massen und weckt schließlich und zuletzt die Kritik.

Wir sehen also in Rußland das primitive Anfangsstadium einer öffentlichen Meinung, die von oben gelehrt und genährt wird. Je nach Zeit und Bedürfnis lauten die Losungen: Verachtet die Verräter! Schmarotzer hinaus! Krieg den Chuliganen! An den Pranger mit den Bestochenen! Tod der Anarchie! – Dabei unterstützt die starke Neigung der kommunistischen Theoretiker zur populären Formulierung diese Methode des Meinungs-Diktats. Aus Lenins Schriften allein lassen sich unzählige akustisch wirksame Parolen herausklauben. Man wirft sie auf die Filmleinwand, in die Spalten der Zeitungen, auf Plakate. »Die Industrialisierung ist die Grundlage des sozialistischen Staates.« »Wir bauen den Sozialismus.« Diese und andere Sätze wiederholen sich fortwährend, Resolutionen wandeln sie ab, schaffen neue, auf Parteitagen werden Invokationen geboren. Allmählich setzt sich die Losung im Gehirn fest und ersetzt das Argument. Es entsteht eine Uniformität – nicht so sehr der Gesinnung, wie der Betrachtungsweise. Ich habe es in hundert Diskussionen mit jungen Menschen, Arbeitern, Studenten, Beamten, sogar obdachlosen Kindern (die ja bestimmt keine Broschüren lesen) erlebt, daß mir die verschiedensten Individuen, Berufe, Naturen, Gemüter, daß mir Melancholiker, Sanguiniker, daß mir Proleten und Kleinbürger, Begabte, Dumme und Klügere, daß mir alle diese Menschen wörtlich dasselbe auf meine Einwände erwiderten, so, daß ich schon nach den ersten Antworten den ganzen Verlauf der Unterredung auswendig wußte. Manchmal hörte ich wörtliche Wiederholungen aus einem jüngst erschienenen Zeitungsartikel. Ich habe mich deshalb allmählich daran gewöhnt, die Menschen in Rußland nicht nach ihrer geistigen Qualität einzuschätzen, sondern nach den Quellen ihrer Argumentationen. Das ist auch heute charakteristischer als etwa individuelle Begabungs-Unterschiede. Es entsteht eine allgemeine Nivellierung, eine höchst einfache psychologische Landschaft mit ein paar deutlichen Orientierungstafeln. Es gibt eine offizielle Gesinnung und eine approbierte Dialektik, die es auch dem weniger Klugen gestatten, auf komplizierte Fragen zwar nicht treffend, aber doch allgemein zu antworten. Und wer noch nicht gelernt hat, Argument von Rhetorik und eine Kehle von einem Grammophon zu unterscheiden, ist von der Schlagfertigkeit des Durchschnitts verblüfft.

Je mehr man die Zeitungen liest, desto größer wird der Respekt vor dieser gewaltigen Mobilisierung der Federn, der Schreibmaschinen, der Zitate und vor der Mechanisierung der Gehirne. Nicht journalistische Fachleute machen die Zeitungen, sondern gute zuverlässige Handhaber und Handlanger der Ideologie. Das was man »journalistische Kleinarbeit« nennt, was das eigentliche Gerüst der Zeitung ist, der Bericht des Tages und sein Spiegelbild, die nackte dramatische Fabel des Lebens: das ist in den russischen Blättern primitiv, dilettantisch, unbeholfen. Von den sechs Seiten einer Zeitung sind meist drei für Resolutionen, Konferenz- und Versammlungs-Berichte bestimmt. An den Tagen der Parteikonferenz bleibt kaum eine Seite für wichtige politische und andere Nachrichten aus dem Auslande. Dazu kommen obligatorische Artikel – auch wenn sie unaktuell und unwichtig sind – aus der Feder dieser oder jener Parteigröße, die gedruckt werden müssen. Es gibt dafür Artikel, die nicht geschrieben werden dürfen – wie zum Beispiel die des einzigen bedeutenden Journalisten der Partei: Karl Radek. Über den großen Brand in einer der größten Moskauer staatlichen Kinofabriken berichten Moskauer Blätter anderthalb Tage später. Es ist nicht die Geringschätzung des »Ereignisses«, die eine solche Unterlassung zu einer journalistischen Pflichtverletzung stempelt, sondern die gewaltige Unterschätzung des wirklichen, täglichen, blutvollen Lebens, die sich in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Tag äußert und die gewaltige Überschätzung der rhetorischen, beinahe schon geschwätzigen, phrasenreichen und billigen Konferenzen-Didaktik, der blutleeren »Debatte«, die sich obendrein noch einbildet, lebendig zu sein, weil sie von Daten, Zahlen und Fakten ausgeht. Man geht in einen Saal, schließt die Fensterläden, zündet Licht an, nimmt Berichte zur Hand, paßt ihren Inhalt der Theorie an, oder (je nachdem) die Theorie dem Inhalt des Berichts und glaubt, mitten im Tag zu stehn, indes draußen, an den geschlossenen Fenstern vorbei der lebendige Tag abrollt. Und die Zeitung berichtet, was in den Zimmern vorging.

Man achtet dabei sehr scharf auf die Einhaltung der »Authentizität«. Man hat alles aus der sogenannten »ersten Hand«. In den Fabriken gibt es Arbeiterkorrespondenten, in den Dörfern Dorfkorrespondenten, in den Schulen Schülerkorrespondenten. Der Leser macht gewissermaßen seine Zeitung selbst. Die »Zuschrift aus dem Publikum«, der »Bericht des zufälligen Augenzeugen« werden in den Rang der sachverständigen Berichterstattung erhoben. Jeder sein eigener Journalist. Diese Erziehung zur lebendigen Mitarbeit an der Zeitung ist von enormer Wichtigkeit, und aus dem Experiment, das Sowjetrußland zum ersten Mal macht, wird einmal die Presse aller Länder zu lernen haben. Aber die Sowjetpresse gibt sich mit dieser privaten Authentizität zufrieden, und deshalb ist ihr »Zeitungsbericht« nicht mehr wert als eine primitive »Zeugenaussage«. Das System der Leser-Korrespondenten verführt zu der falschen Überzeugung der Redaktion und auch der leitenden Politik, daß sie über alles gut unterrichtet seien. Woher diese Kenntnis? Der Leser (der Rab-Korr., der Sel-Korr. usw.) hat es ja selbst gesagt! Weiß diese junge Presse, weiß diese junge Regierung noch nicht, daß man zur Spiegelung des Lebens der Spiegel bedarf? Daß man aber keineswegs einen beliebigen Gegenstand, eine Teekanne oder eine Hacke oder ein Fleischmesser als Spiegel verwenden kann? Es ist eine physische Unmöglichkeit, sich selbst zu photographieren, das Objekt kann sich nicht durch die Linse betrachten. Deshalb gibt es in den russischen Blättern fast lauter richtige Tatsachen und fast lauter falsche Berichte; Geständnisse und keine Aufklärung; Angaben und keine Bilder. Deshalb weiß der ausländische Journalist, der die Augen aufmacht, von Rußland mehr als sein einheimischer Kollege.

Der ausländische Journalist (wie jeder Ausländer) ist übrigens Gegenstand der besonderen Aufmerksamkeit der russischen Presse. Ein Interviewer kommt. Welche Wichtigkeit! Ein Ausländer ist da! Man macht sich ein bißchen Amerika vor. Die meisten Ausländer fühlen sich gewaltig geschmeichelt. Der bourgeoise Vizedirektor einer westeuropäischen Sparkasse, zu Hause nichts mehr als ein braver Kartenspieler am Stammtisch, sieht sich im Lande der größten Revolution fett gedruckt. Er ist angekommen. Er wird eingeladen, Vorträge über Sparkassenbücher zu halten. Am nächsten Tag steht's in der Zeitung. Er bekommt eine Extra-Karte zur Besichtigung des Kreml. Am nächsten Tag kann man lesen, daß er im Kreml war. Einer der Führer der deutschnationalen Partei – bei uns nichts mehr als ein geachteter Parlamentarier und ein anständiger Professor – bekommt in Rußland einen Extra-Ehrenabend mit Bier – das wohl als ein besonderer symbolischer Respektshinweis auf den deutsch-nationalen Gedanken ist. Ja, auch zu mir, der ich doch selbst gewissermaßen »interviewen« kam, gelangten Interviewer und sie brachten dem staunenden Rußland die Kunde, daß ein Herr Joseph Roth angekommen sei – obwohl er ausdrücklich bemerkte, er sei kein Konservativer und habe gar keine Beziehungen zur deutschnationalen Partei! ...

Man sieht, was der russischen Presse fehlt: die Unabhängigkeit von der Regierung, die Abhängigkeit vom Leser und die Kenntnis der Welt. Die Rücksicht auf den Leser macht die Journalistik fruchtbar. Die Rücksicht auf die Zensur macht die Presse steril. Die voraussetzungslose, das heißt nicht: gesinnungslose Betrachtung der Welt macht einen Artikel lebendig und anschaulich. Die ideologisch gebundene Betrachtung der Welt verursacht provinzielle, kleinliche und außerdem falsche Berichte. »Provinziell« ist nicht etwa ein geographischer Begriff, sondern ein geistiger. Es ist gleichgültig, ob die Fessel enger Verhältnisse oder die eines starren Prinzips den Horizont einschränken. Und es ist auch vom Standpunkt der Sowjetpresse praktischer, die bürgerliche Welt zu kennen, gegen die man kämpft, und nicht in Entzücken zu geraten, wenn einmal ein Herr aus dem Jenseits in Moskau landet. Und man lernt nicht die Welt kennen, indem man einen Berg besteigt und sie von einem Standpunkt aus betrachtet, sondern im Gehen, indem man sie durchwandert. In Sowjetrußland aber sieht man die Welt von dem Turm aus, den die gesammelten und aufgestapelten Schriften von Marx, Lenin und Bucharin bilden ...


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