Joseph Roth
Reise in Rußland
Joseph Roth

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V. Die Wunder von Astrachan

Frankfurter Zeitung, 12. 10. 1926

In Astrachan beschäftigen sich viele Menschen mit Fischfang und Kaviarhandel. Der Geruch dieser Tätigkeit ist in der ganzen Stadt verbreitet. Wer nicht nach Astrachan kommen muß, der vermeidet es. Wer einmal nach Astrachan gekommen ist, der bleibt nicht lange dort. Zu den Spezialitäten dieser Stadt gehören die berühmten Astrachaner Pelze, die Lammfellmützen, der silbergraue »Persianerpelz«. Die Kürschner haben viel zu tun. Sommer und Winter (der Winter ist hier auch warm) tragen Russen, Kalmücken und Kirgisen Pelze.

Man erzählt mir, daß reiche Leute vor der Revolution in Astrachan gelebt hätten. Ich kann es nicht glauben. Man zeigt mir ihre Häuser, von denen einige im Bürgerkrieg vernichtet wurden. An den Trümmern erkennt man noch ihre gewesene geschmacklose und prahlerische Größe. Von allen Eigenschaften eines Bauwerks erhält sich die Prahlsucht am längsten, und noch der letzte Ziegelstein protzt. Die Erbauer sind geflüchtet, sie leben im Ausland. Daß sie mit Kaviar gehandelt haben, ist begreiflich. Aber weshalb wohnten sie hier, wo der (schwarze, blaue und weiße) Kaviar wächst und wo die Fische so unbarmherzig stinken? In Astrachan steht ein kleiner Park mit einem Pavillon in der Mitte und einer Rotunde in der Ecke. Am Abend zahlt man Eintrittsgeld, geht in den Park und riecht die Fische. Weil es dunkel ist, meint man, sie hängen in den Bäumen. Die Kino-Vorstellungen finden unter freiem Himmel statt, die primitiven Kabaretts ebenfalls. In einigen Kabaretts spielen Musikkapellen heitere Lieder aus vergangenen Zeiten. Man trinkt Bier und ißt die billigen rosaroten Krebse. Es vergeht keine Stunde, in der man sich nicht nach Baku sehnen würde. Leider verkehrt der Dampfer nur dreimal in der Woche.

Um intensiver an den Dampfer denken zu können, gehe ich zum Hafen. Vom Hafen Nr. 18 wird man nach Baku fahren dürfen. Übermorgen. – Wie weit ist Übermorgen! – Kalmücken rudern in Booten, Kirgisen führen Kamele am bekannten Halfterband in die Stadt, Kaviarhändler lärmen im Kontor, ahnungslose Bauern lagern im Grün, zwei Tage, zwei Nächte, und warten auf das Schiff, Zigeuner spielen Karten. Weil man hier so deutlich sieht, daß noch kein Dampfer kommt, ist die Stimmung im Hafen trauriger als in der Stadt. Eine entfernte Ahnung von Abreise gewährt eine Droschkenfahrt. Die Droschkensitze sind schmal, ohne Rückenlehne, lebensgefährlich, ohne Dach, die Pferde tragen lange weiße Ku-Klux-Klan-Gewänder gegen den Staub als gingen sie zum Turniere. Die Kutscher verstehen sehr wenig Russisch und hassen das Pflaster. Sie fahren durch die sandigen Straßen, weil ja das Pferd bekleidet ist. Der Fahrgast, der in einem dunklen Anzug abfährt, kommt in einem silbernen an. Wer einen weißen angezogen hatte, trägt am Ziel einen taubengrauen. Die für Astrachan ausgerüstet sind, tragen wie die Pferde lange Staubmäntel mit Kapuzen. In der spärlich beleuchteten Nacht sieht man, wie Gespenster von gespenstischen Pferden gefahren werden.

Ungeachtet dessen gibt es eine technische Hochschule, Bibliotheken, Klubs und Theater in Astrachan, Gefrorenes unter einer schaukelnden Bogenlampe, Früchte und Marzipan hinter bräutlichen Gazeschleiern. Ich betete um eine Linderung der Staubplage. Am nächsten Tag schickte Gott einen Platzregen. Die Decke meines Hotelzimmers, von Staub, Wind und Dürre verwöhnt, fiel erschrocken auf den Fußboden. Um so viel Regen hatte ich nicht gebetet. Es donnerte und blitzte. Die Straße war nicht mehr zu erkennen. Die Droschken rollten stöhnend bis zur Mitte der Räder im Schlamm, von den Felgen troffen graue, schwere, weiche Klumpen. Die Gespenster schlugen die Kapuzen zurück und spannten wohlbekannte menschliche Geräte auf. Auf dem Pflaster der Hauptstraße konnten zwei nicht aneinander vorüber. Einer mußte umkehren und mindestens fünf Meter zurückgehen, damit der andere passiere. Die Straße überquerte man in periodischen Sprüngen. Es war ein Glück, daß es nur eine nennenswerte Straße gab, in der sich die notwendigsten Einrichtungen befanden: Hotel, Schreibpapier, die Post und die Konditorei.

In jenen Astrachaner Tagen schien mir die Konditorei die wichtigste Institution zu sein. Sie wurde von einer polnischen Familie betrieben, die ein unerbittliches Schicksal von Czenstochau hierher verschlagen hatte. Ich beschrieb den Frauen ausführlich die Kleider, die man in Warschau trägt. Auch über die polnische Politik wußte ich divinatorisch viel zu sagen. Bedenken, die man in Astrachan in bezug auf einen Krieg zwischen Polen, Rußland und Deutschland hegte, konnte ich mit beredter Geschicklichkeit zerstreuen. In Astrachan bin ich ein amüsanter Plauderer.

Ohne diese Konditorei hätte ich nicht arbeiten können, das wichtigste Schreibmaterial ist Kaffee. Fliegen aber sind überflüssig. Und dennoch waren sie dabei, morgens, mittags, abends. Die Fliegen, nicht die Fische, machen achtundneunzig Prozent der Astrachaner Fauna aus. Sie sind ganz nutzlos, kein Handelsobjekt, niemand lebt von ihnen, sie leben von allen. In dicken schwarzen Schwärmen lagern sie auf Speisen, Zucker, Fensterscheiben, Porzellantellern, Überresten, auf Sträuchern und Bäumen, auf Kotlachen und Misthaufen und selbst auf kahlen Tischtüchern, auf denen ein menschliches Auge nichts Nahrhaftes sehen kann. Verschüttete Suppen, längst trockene Bestandteile des Stoffes, können die Fliegen aus den Molekülen schlürfen wie aus Löffeln. Auf den weißen Hemdblusen, die hier die meisten Männer tragen, sitzen tausende Fliegen, sicher und versonnen, sie fliegen nicht auf, wenn sich ihr Wirt bewegt, sie sitzen zwei Stunden auf seinen Schultern, sie haben keine Nerven, die Fliegen von Astrachan, sie haben die Ruhe großer Säugetiere, etwa der Katzen, und ihrer Feinde aus der Insektenwelt, der Spinnen ...

Es wundert mich und ich bedaure es, daß diese intelligenten und humanen Tiere nicht in großen Scharen nach Astrachan kommen, wo sie nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden könnten. Zwar leben acht Kreuzspinnen in meinem Zimmer, stille, kluge Tiere, freundliche Genossen durchwachter Nächte. Am Tag schlafen sie in ihren Wohnungen. In der Dämmerung beziehen sie ihre Posten – zwei, die wichtigsten und die gefährlichsten, in der Nähe der Lampe. Lange und geduldig sehen sie ahnungslosen Fliegen zu, mit feinen haardünnen Beinen klettern sie an Stricken aus Nichts und Speichel, flicken und geben acht, umkreisen ein Tier auf weiten, weiten Umwegen, klammern sich geschickt an vorspringenden Sandkörnchen der Wand, arbeiten schwer und geistreich – – aber wie gering ist der Lohn! Tausend Fliegen summen im Zimmer, ich wünsche mir zwanzigtausend giftige Spinnen her, eine Armee von Spinnen! Bliebe ich in Astrachan, ich würde sie züchten und ihnen mehr Sorgfalt zuwenden als dem Kaviar.

Aber die Menschen in Astrachan kümmern sich nur um diesen. Sie fühlen die Fliegen gar nicht. Sie sehen zu, wie diese mörderischen Insekten auf ihrem Fleisch, ihrem Brot, ihren Früchten herumnagen, und rühren keine Hand. Ja, während auf ihren Bärten, Nasen und Stirnen Fliegen spazieren, reden sie gemütlich und lachen. In der Konditorei hat man jeden Kampf gegen Fliegen aufgegeben, man schließt nicht einmal die Glaskästen, nährt sie reichlich mit Zucker und Schokolade, man verwöhnt sie geradezu. Das Fliegenpapier, das ein Amerikaner erfunden hat und das ich von allen Segnungen der Kultur am tiefsten haßte, erscheint mir in Astrachan als ein Werk edler Humanität. Aber es gibt in ganz Astrachan kein einziges Stück jener köstlichen gelben Materie. Ich frage in der Konditorei: Warum haben Sie kein Fliegenpapier? Die Menschen gebrauchen Ausflüchte und sagen: Ach, wenn Sie doch Astrachan vor dem Krieg gesehen hätten, noch zwei Monate vor der Revolution! – Der Gastwirt sagt es und der Händler. Aus passiver Resistenz unterstützen sie die reaktionären Fliegen. Eines Tages werden diese kleinen Tiere das große Astrachan aufessen, die Fische und den Kaviar.

Den Fliegen von Astrachan ziehe ich die Bettler vor, deren es hier mehr gibt als in jeder anderen Stadt. Sie wandeln, laut schluchzend, singend, ihre Leiden ausschreiend, langsam durch die Straßen, gleichsam hinter ihrer eigenen Leiche, ergießen sich in alle Bierhallen, bekommen nur von mir eine Kopeke – und von dieser einen Kopeke leben sie! Von allen Astrachan-Wundern sind sie das erstaunlichste ...


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