Joseph Roth
Reise in Rußland
Joseph Roth

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XII. Die Frau, die neue Geschlechtsmoral und die Prostitution

Frankfurter Zeitung, 1. 12. 1926

Wer von einer häßlichen Verwirrung der Sitten in Sowjetrußland spricht, verleumdet es; wer den Anbruch einer neuen Geschlechtsmoral in Sowjetrußland sieht, ist ein heiterer Optimist; und wer hierzulande gegen alte Konventionen mit den Argumenten des braven Bebel kämpft, wie z. B. die Frau Kollontaj, ist das Gegenteil von revolutionär – nämlich: banal.

Die angebliche »Sittenlosigkeit« und die »neue Geschlechtsmoral« beschränken sich auf eine Reduzierung der Liebe zu einer hygienisch einwandfreien Paarung zweier durch Schulvorträge, Filme und Broschüren sexuell aufgeklärten Individuen verschiedenen Geschlechts. Ihr geht in den meisten Fällen keine »Werbung«, keine »Verführung« und kein seelischer Rausch voran. Die Sünde ist infolgedessen in Rußland langweilig, wie bei uns die Tugend. Die Natur, aller Feigenblätter beraubt, tritt unvermittelt in ihre Rechte, weil der Mensch, vor lauter Stolz über die soeben gewonnene Erfahrung, daß er vom Affen abstamme, sich der Sitten und Gebräuche der Säugetiere bedient. Das schützt ihn ebenso vor der Ausschweifung wie vor der Schönheit; es erhält ihn fromm und natürlich-tugendhaft, er bewahrt die doppelte Keuschheit des medizinisch beratenen Barbaren, er hat die Moral der sanitären Maßnahmen, die Anständigkeit der Vorsicht und die Genugtuung, mit dem Genuß eine hygienische und soziale Pflicht erfüllt zu haben. Im Sinne der »bürgerlichen« Welt ist das alles höchst sittlich. Minderjährige werden in Rußland nicht verführt und nicht mißbraucht, weil alle Menschen den Stimmen der Natur gehorchen und die Minderjährigen, die das Gefühl haben, keine Minderjährigen mehr zu sein, mit Ernst und der sozialen Aufgabe eingedenk, sich freiwillig hingeben. Die nicht mehr umworbenen Frauen verlieren ihren Reiz – nicht infolge der völligen Gleichberechtigung vor dem Gesetz, sondern infolge ihrer politisch fundierten Bereitwilligkeit, des Mangels an Zeit zur Lust und der vielen sozialen Pflichten, der unaufhörlichen Arbeit in Büros, in Fabriken, in Werkstätten, der unermüdlichen öffentlichen Betätigung in Klubs, Vereinen, Versammlungen, Konferenzen. In einer Welt, in der die Frau so sehr »öffentlicher Faktor« geworden ist und in der sie so selig darüber zu sein scheint, gibt es natürlich keine erotische Kultur. (Außerdem hat die Erotik bei den Massen in Rußland schon immer einen derben, ländlich-utilitaristischen Beigeschmack gehabt.) Man fängt in Rußland dort an, wo bei uns Bebel und Grete Meisel-Heß und alle ihre belletristischen Zeit- und Gesinnungsgenossen gestanden haben.

 

In Rußland glaubt man ungemein »revolutionär« zu sein, wenn man den Befehlen der Natur und den Forderungen des einfachen Verstandes wörtlich gehorcht. Aber durch einige »revolutionäre« Kultur-Reformationen ging nicht der große Geist Voltaires, sondern der durchsichtige Schatten Max Nordaus. Statt der überlieferten Heuchelei kam die theoretische Pedanterie, statt der komplizierten Sitte die banale Natürlichkeit, statt der kultivierten Sentimentalität der simple Rationalismus. Man riß alle Fenster auf –, um eine muffige Luft hereinzulassen ...

Man scheint nicht zu verstehen, daß die Liebe immer heilig ist, daß ein Augenblick, in dem zwei Menschen zusammen kommen, immer eine Weihe hat. Man bemüht sich, das Standesamt sehr demonstrativ einfach zu machen. Es ist der Ortspolizei angegliedert, enthält drei Tische, einen für Heiraten, einen für Scheidungen, einen für Geburten. Eine Eheschließung ist einfacher als eine Anmeldung bei der Polizei. Man hat eine groteske Angst vor Formen. Eine kurze Zeit war die »kommunistische Taufe« von einer gewissen zeremoniösen Feierlichkeit. Man schaffte sie aber ab – oder sie ist zumindest sehr selten geworden. Die Durchschnittsehe beschränkt sich auf ein gemeinsames Nachtmahl in später Abendstunde (nach der üblichen Versammlung oder Konferenz oder »Berichterstattung« oder dem »Kurs«) und einige Stunden Schlaf. Mann und Frau arbeiten und konferieren den ganzen Tag in gesonderten Betrieben. Wenn sie zufällig an einem Sonntag oder bei einer gemeinsamen Demonstration entdecken, daß sie nicht zueinander passen –, oder wenn dem einen oder andern ein Fremder besser gefällt, läßt man sich scheiden. Mann und Frau kennen einander noch weniger als die Partner der kapitalistischen Mitgift-Ehe. Scheidungen sind häufiger als bei uns, weil die Ehen »leichtsinniger« und mit weniger Bedacht geschlossen werden. Auch der Betrug ist seltener, die Sauberkeit also größer. Aber nicht weil das Ethos so tief, sondern weil die Beziehungen so locker und die Form so simpel ist. Wir sind alle Säugetiere. Von den vierfüßigen unterscheiden wir uns durch die sexuelle Aufklärung.

Das alles schließt den Bestand einer alten spießigen »Moral« nicht aus. Denn der Mensch in Rußland ist ein Bestandteil der Straße, sie sieht in sein Schlafzimmer. Und weil man nur ein Auge zudrücken kann, aber nicht tausend, ist die Straße kleinbürgerlicher, spießiger, sauertöpfischer als jede Tante.

Viel revolutionärer als die Sitte ist das Gesetz. Es macht keinen Unterschied zwischen ehelichen und unehelichen Müttern und Kindern. Es bestimmt, daß einer arbeitenden schwangeren Frau nicht gekündigt werden dürfe; daß ihr zwei Monate vor, zwei Monate nach der Entbindung Urlaub gegeben werde; daß der Monat, in den die Geburt fällt, doppelt entlohnt werde; es bestimmt, daß die Alimente der Vater zahle (wenn er nicht ohne Einkommen ist), daß eventuell einige Männer sich in die Alimentenlast teilen, wenn die Mutter es vorzieht, einige Männer als eventuelle Väter anzugeben; es gestattet den künstlichen Abortus, es befiehlt die Trennung der Ehe, auch wenn nur ein Teil sie lösen will, es stellt das sogenannte »Konkubinat« der vor dem Standesamt geschlossenen Ehe vollkommen gleich; es berechtigt theoretisch auch den Mann unter gewissen Bedingungen, auf materielle Unterhaltung Anspruch zu erheben; es anerkennt keine Gütergemeinschaft in der Ehe; es fördert die vielen Mütter- und Kinderheime, Schutzkommissionen, Säuglingsfürsorgestellen. Es ist ein im modernen Sinn humanes Gesetz, das allerdings in der Praxis ebenso zu Schwierigkeiten wie zu Lächerlichkeiten führen kann. Die Gerichte, die vor kurzer Zeit noch mit Alimenten-Prozessen überlastet waren, sind heute immer noch mit ihnen beschäftigt. Zu einigen gründlichen Reformen geht man allmählich auch auf dem Gebiete des Eherechts über wie auf allen anderen Gebieten. Die Theorie ist gerade daran, sich dem Leben anzupassen, die Menschen sind gerade auf dem Weg, sich den Gesetzen anzupassen. Deshalb tritt der gerechte Wunsch nach einem endgültigen Urteil hinter die Notwendigkeit zurück, sich auf Betrachtungen und Beobachtungen zu beschränken. Westeuropa kann von den neuen russischen Gesetzen manches, von seiner sozialen Fürsorge alles, von seiner angeblichen neuen Geschlechtsmoral und Sitte gar nichts lernen. Denn sie ist alt und manchmal reaktionär. Es ist zum Beispiel reaktionär, den Handkuß zu verpönen – aus Furcht, man könnte die Frau zur Dame degradieren. Es ist reaktionär, wenn bei den vielen Blumenhändlern, die in allen russischen Städten in den Straßen stehen, nur die jungen Mädchen Blumen kaufen, um sie ihren Geschlechtsgenossinnen zu schenken – indes die jungen männlichen Begleiter ungeduldig abseits stehen, erhaben in ihrem »Komsomol«-Stolz über derlei »bourgeoise Sentimentalitäten«. Es ist reaktionär, die Frau durch Gleichstellung ins Neutrum zu verwandeln, es wäre revolutionär, sie durch Achtung weiblich sein zu lassen. Es ist reaktionär, sie nur frei zu machen – es wäre revolutionär, sie frei und schön zu machen. Die wirkliche Degradation ist nicht die vom »Menschen« zum »Weib«, sondern vom freien, erotisch kultivierten, mit der Fähigkeit zu lieben ausgestatteten Menschen zum sexuell funktionierenden Säugetier. »Darwinismus« ist reaktionärer, als die guten russischen Revolutionäre glauben, und das Metaphysische, vor dem sie eine genau so große Angst haben wie Bürger vor der Kapitalsenteignung, ist revolutionärer als die atheistische Spießigkeit. Eine »konventionelle Lüge« kann tausendmal revolutionärer sein als eine flache, banale Aufrichtigkeit. Und sogar die Prostitution, den preußischen Königinnen ebenso verhaßt wie manchen Kommunisten, ist eine humane und freie Einrichtung – verglichen mit der sauertöpfischen, naturwissenschaftlich begründeten Geschlechtsfreiheit.

 

Die Prostitution ist in Rußland ein kurzes Kapitel. Das Gesetz verbietet sie. Straßenmädchen – deren es in Moskau offiziell etwa 200, in Odessa etwa 400 gibt – greift man auf, bringt man in die Polizeistelle, später in Arbeitsstellen unter. Ein paar Häuser der Liebe fristen ein bedrohtes, kümmerliches und primitives provinzielles Dasein in einigen größeren russischen Städten. Kuppelei wird streng bestraft. Infolgedessen sehen sich manche Menschen gezwungen, die wenigen Automobile, die es in Moskau gibt, dem nützlichen Bahnhofsverkehr zu entziehen. Den Chauffeuren geht es gut, eine staatliche Automobil-Verleihung hat in den Abendstunden ein ewig besetztes Telephon und es liegt eine leise Ironie darin, daß auch sie mißbraucht wird. Eine Stunde Fahrt in den nicht mit Taxameter versehenen Automobilen kostet sechs Rubel. (Während ich dieses schreibe, erfahre ich von einer neuen Verfügung, der zufolge die besetzten Automobile am Abend im Innern dauernd beleuchtet sein müssen.)

 

Rußland ist nicht unmoralisch, keineswegs, – es ist nur hygienisch. Die moderne russische Frau ist kein Wüstling, – im Gegenteil: sie ist eine brave soziale Funktion. Die russische Jugend ist nicht hemmungslos, sie ist nur maßlos aufgeklärt. Die Ehe- und Liebesverhältnisse sind nicht unsittlich, sondern nur öffentlich. Rußland ist kein »Sündenpfuhl«, sondern ein naturwissenschaftliches Lesebuch ...

 

Obgleich dieser Zustand durch eine heftige Propaganda gestützt und erhalten wird, ist er zum Teil doch auch eine natürliche Reaktion gegen die verflossene Zeit der allzu schwärmerischen, sentimentalen und kitschigen Verlogenheit der Liebesbeziehungen. Wenn die neuen Reformatoren glauben, dieses Stadium in der Entwicklung der Erotik, das ich das »naturwissenschaftliche« nennen möchte, wäre ein gesunder Übergang zu einer gesunden, neuen, natürlichen Liebe, so muß man mit ihnen hoffen. Wenn sie aber glauben, es könnte eine natürliche Liebe zwischen Menschen ohne das geben, was sie als »metaphysisch« fürchten – so irren sie sich. Die erotische Beziehung, die sich nur auf Körper und Bewußtsein beschränkt, sieht eben so aus, wie sie oben geschildert wurde. Zum Glück hat der Mensch die Fähigkeit, dem Pubertätsalter der sexuellen Aufklärung zu entwachsen und der Naivität eines aufgewärmten Materialismus. Auch wenn er ein absoluter Leugner der »Seele« ist, – in einem Punkt macht sie sich eines Tages bemerkbar: in der Liebe. –


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