Joseph Roth
Reise in Rußland
Joseph Roth

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VI. Der auferstandene Bourgeois

Frankfurter Zeitung, 19. 10. 1926

Aus den Trümmern des zerstörten Kapitalismus steigt der neue Bürger hervor (nowij burjuj), der Nep-Mann, der neue Händler und der neue Industrielle, primitiv, wie in den Urzeiten des Kapitalismus, ohne Börse und Kurszettel, nur mit Füllfeder und Wechsel. Aus dem absoluten Nichts entstehen Waren. Aus Hunger macht er Brot. Aus allen Fensterscheiben macht er Schaufenster. Eben ging er noch barfuß – schon fährt er in Automobilen. Er verdient und zahlt Steuern. Er mietet vier, sechs und acht Zimmer und zahlt Steuern. Er fährt im Schlafwagen, fliegt im teuren Aeroplan und zahlt Steuern. Der Revolution scheint er gewachsen zu sein – sie hat ihn ja selbst geboren. Das Proletariat steht vor seinen Schaufenstern und kann seine Waren nicht kaufen – als wär's ein kapitalistischer Staat. An vielen Gefängnissen streift der neue Bürger vorbei – in mehreren hat er schon gesessen. Der Verlust der »bürgerlichen Ehrenrechte« kann ihm gleichgültig sein; denn er besitzt gar keine. Er will nicht befehlen, er will nicht regieren, er will nur erwerben. Und er erwirbt.

Diese neue russische Bourgeoisie bildet noch keine Klasse. Sie hat weder die Tradition noch die Stabilität, noch die Solidarität einer sozialen Klasse. Sie ist eine dünne, lockere Schicht aus sehr beweglichen und sehr verschiedenen Elementen. Unter dem Dutzend neuer Bürger, die ich kenne, war einer früher Offizier, ein anderer ist ein grusinischer Edelmann, eine Art »Häuptling«, der dritte war Bäckergeselle, der vierte Staatsbeamter, der fünfte Kandidat der Theologie, Alle tragen die Zufallskleidung, die sie äußerlich proletarisiert. Alle sehen aus, als hätten sie sich auf der Flucht vor einer Katastrophe angezogen. Alle tragen die russische Hemdbluse, die ebenso nationales Kostüm wie revolutionäre Manifestation sein kann. Diese Kleidung des neuen Bürgers ist nicht nur die unmittelbare Folge seines Willens, nicht aufzufallen, sondern auch seiner besonderen Wesensart bezeichnender Ausdruck. Denn er ist nicht ein Bürger, wie wir ihn kennen, wie er etwa in Frankreich vorbildlich und für literarische Verwertung reif von Gott und den Verhältnissen jeden Tag erschaffen wird. Der neue russische Bourgeois hat keinen Familieninstinkt, kein intimes Verhältnis zu seinem Haus, seiner Abstammung und seinen Nachfolgern, keine »Prinzipien«, die er ihnen vererben könnte, und keine materiellen Güter, die er ihnen vererben dürfte. In seiner gutausgestatteten Wohnung ist er selbst und seine Familie nicht zu Hause, sondern wie heimische Gäste. Ein Sohn ist kommunistisch gesinnt, ein Komsomol; mit feindseligem Blick betrachtet er sein Elternhaus, morgen wird er fortziehen, heute schon lebt er von eigener Hände Parteiarbeit. Die Tochter geht ohne eine Kopeke Mitgift, ohne väterliche Begleitung zum Standesamt und heiratet in drei Minuten einen Rotarmisten. Der bürgerlich gesinnte Sohn findet keinen Platz an der überfüllten Hochschule und rüstet zu ungesetzlicher, also gefährlicher Abreise ins Ausland. Das Geld, das man verdient, wird nicht »angelegt«, sondern ausgegeben, verlebt oder vergraben oder gegen hohe Zinsen an gute und verschwiegene Bekannte verliehen. Die Familie – Urzelle und Festung des bürgerlichen Lebens zugleich – ist nicht mehr vorhanden. Dafür kennt der neue Bürger aber auch nicht jene lauwarme bürgerliche Atmosphäre, die schützt, aber auch schwächt; keine Fürsorge, die Liebe weckt, aber auch Enge erzeugt; keinen Opferwillen, der heroisch sein kann, aber auch belanglos ist; keine Sentimentalität, die rührend ist, aber auch falsch. Der neue Bürger ist ein revolutionärer Bürger. Er ist in seiner Art mutig, weil von Rücksichten frei; er ist hemmungslos, weil ohne Prinzip; er ist auf alles gefaßt, weil er das meiste schon erlebt hat. Er war zum Teil aktiv an der Revolution beteiligt. Das ist der Bürger, von dem Lenin 1918 schrieb: »Wie kann man so blind sein und nicht sehen, daß unser Feind der kleine Kapitalist und der Spekulant ist? Dieser fürchtet mehr als jeder andere den Staatskapitalismus; denn sein erstes Ziel ist ja, alles Mögliche an sich zu raffen, alles, was nach dem Sturz der Großgrundbesitzer und großen Spekulanten übriggeblieben ist. In dieser Beziehung ist er sogar noch revolutionärer als der Arbeiter – denn er ist auch rachsüchtig. Er leistet willige Beihilfe im Kampf gegen die Großbourgeoisie – – um die Früchte des Sieges für seine eigenen Interessen zu ernten.« Acht Jahre sind seit damals vergangen. Der Spekulant erntet die Früchte des Siegs und er ist auf dem Weg, selbst ein Großkapitalist zu werden.

Es gibt in Rußland aber nicht nur diesen aktiven, sichtbaren neuen Händler und Industriellen. Es gibt viele stille, maskierte, sozusagen passive Bürger. Ihnen ist es gelungen, bares Gold mitten in der Revolution zu verbergen oder sich anzueignen. Heute gehen sie in Stellungen, leben in proletarischer Enge, geben vor, mit hundert Rubel im Monat auszukommen und verleihen ihr Geld gegen hohe Zinsen an furchtlosere Freunde – die in zwei, drei Jahren ebenfalls Kapital haben werden, um es zu verleihen. So spielt sich unter der Decke ein regelloses kapitalistisches Leben ab, ein Kaufen und Verkaufen, ein Borgen und Verzinsen, ein gefahrvolles Leben, das dem modernen tüchtigen Nep-Mann die wesentlichen Züge eines Räuberhauptmanns verleiht.

Das alles ist nicht imstande, das Proletariat zu beunruhigen. Die reichen Leute – so rechnet man – werden von den zunehmenden Staatsbetrieben erdrückt. In fünf Jahren sind sie nicht mehr vorhanden. »Es ist eine Übergangszeit« – sagen die Arbeiter. Sie meinen, es wäre ein Übergang zum sozialistischen Staat.

Aber auch die Bürger sagen: »Es ist eine Übergangszeit« und sie meinen, es wäre ein Übergang zur kapitalistischen Demokratie. Beide warten auf das Kommende und stören einander vorläufig nicht merkbar. Wenn es wahr ist, daß das Proletariat die herrschende Klasse ist, so ist sicherlich das neue Bürgertum die genießende Klasse. Das Proletariat hat alle Institutionen des Staates. Die neue Bourgeoisie hat alle Institutionen der Bequemlichkeit. Es gibt beinahe kein Übereinander. Es gibt ein Nebeneinander. Das Theater gehört dem Arbeiter. Aber in der Loge sitzt der Bürger. Der Arbeiter hat das Bewußtsein, Hausherr und Vermieter der Loge zu sein. Den Bürger stört die Umgebung, die revolutionäre Aufmachung, der Gedanke, ein Transport würde beschlagnahmt, eine Steuer erhöht werden. Der Proletarier geht in den Klub, sieht einen Film, spielt Domino, hört einen Vortrag, trinkt einen Tee am Büfett für zehn Kopeken und weiß, daß dieses Haus, in dem sich der Klub befindet, einmal einem Kapitalisten gehört hat, der jetzt enteignet ist. Das ist ein greifbarer Erfolg. Der enteignete Kapitalist – oder ein anderer an seiner Stelle – geht am Abend in die Halle des großen Hotels, wo zwar ein Bild von Lenin hängt, aber auch eins von Fragonard, der »Combat de la Flute« aus dem Speisezimmer meiner Tante, und wo die unvermeidliche Appetitspalme fünfzig teure Liköre beschattet. Hierher haben selbst die Bettler, die überall hinkommen, keinen Zutritt. Es ist eine ganz großbürgerliche Welt, wie im Westen Europas. Da das Trinkgeld nicht gesetzlich abgeschafft, sondern nur unwürdig geworden ist, nehmen es die Kellner mit untertänigem Dank. Hierher kommt kein Proletarier. Vor acht und neun Jahren hat er diese »Paläste« gestürmt. Heute erwartet er, daß sie eines Tages geräumt werden.

Der neue Bürger ist nicht gesonnen, sie zu räumen. Auch er wartet – daß die Arbeiterklubs eines Tages geräumt werden. Beide haben Geduld ...


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