Joseph Roth
Reise in Rußland
Joseph Roth

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VII. Das Völker-Labyrinth im Kaukasus

Frankfurter Zeitung, 26. 10. 1926

Wir landen am Abend in Baku. Das ist die Hauptstadt Aserbeidschans und des Petroleums. Sie besteht aus einem neuen (europäischen) und einem alten (asiatischen) Teil. Die europäischen Straßen sind breit, hell und heiter. Das asiatische Baku ist kühl, dunkel und beklemmend. Vor die breiten, stolzen, schönen Bogenfenster sind dichte Drahtgitter gespannt. Jedes Haus ist ein Palast, und alle Paläste sind Gefängnisse. Junge Mohammedanerinnen tragen weiße und blaue Tücher vor dem Mund; sie sehen aus wie eingemauert: jede ihr eigenes Gefängnis. Den mohammedanischen Bettlern vor dem großen Tor der alten Stadt braucht man nichts zu schenken: sie sind Ornamente. Alte Sejiden, Nachfolger Mohammeds, im weißen, dickgeflochtenen Turban, kauen Sonnenblumenkerne. Die leichtsinnigen Schalen bleiben in den gelblichgrauen Barten hängen. Dumme, unbegabte Händler sitzen auf Steinen, zehn Blätter vergilbten Briefpapiers liegen vor ihnen, nichts tun sie für ihre Waren. Hinter finstern, langen und schmutzigen Hausfluren leuchten weiße Höfe aus Stein, mit Zierbrunnen, weit, märchenhaft, rechteckig, langweilig. Es scheint mir, daß die tausendundeins Nächte in Baku ein verlorener Posten sind: einige Kilometer weiter spritzt Petroleum aus der Erde ...

Dennoch ist der Marktplatz exotisch: viele schmale und schmutzige Gassen; Passagen, die als Markthallen verwendet werden; unzählige kleine Kaufläden mit Schildern in türkischer, persischer, armenischer Sprache. Was ist das für ein bekannter, lateinisch gedruckter Name? Wer heißt hier »Levin«? Mit Vornamen »Arvad Darzah« allerdings? Es ist ein Bergjude. Er handelt mit Sohlenleder. Obwohl er der Rasse nach ein Tatte ist, also nicht einmal Semit, spricht er dennoch ein mangelhaftes Deutsch. Vorbeiwandernden Kamelen bläst er aus einer langen Pfeife Rauch in die traurigen Gesichter. Welch unwahrscheinlich pathetische Tiere! Ihre Dummheit ist von einer ganz besonderen Art: es ist eine feierliche Dummheit. Vielleicht wirken sie in der Wüste natürlicher. Dieser exotische Marktplatz – für Kamele ist er noch immer nicht exotisch genug. Vor dem Laden des Genossen Levin sehen sie aus wie mißlungene Pferde.

Es riecht nach brennendem Fell. An der Ecke ist die »Kuschetschnaja«, ein Schnell-Imbiß. Das Fett der Lämmer wird, glaube ich, über Gebühr gewürdigt. Es schmort prasselnd über offenem Feuer. Vorläufig bohrt der Verkäufer in der Nase. Ich passiere ein Durchgangshaus. Menschen wohnen in weitgeöffneten Läden. Halbnackte Frauen schaukeln hart und hastig über zischenden Wascheimern. Greise schlummern auf den Steinen. Ein ruhiges Alter ist ihnen beschieden. Kinder spielen Karten in einem Tümpel. Achtung! Nicht zertreten! Verkäufer rufen mir nach. Was soll ich kaufen? Orientalische, flache, ungesäuerte Brote, »Mazzes« der Juden; einen grusinischen Gürtel für sechs Rubel, ein dünnes Leder, silberne Platten hängen daran, eine »Akquisition« für Engländer; einen Dolch in tulasilberner Scheide; grüne Schnürsenkel. Haarnadeln soll ich mir anschaffen, Manschettenknöpfe mit türkischen Segenssprüchen, einen Tabakbeutel aus Ziegenleder, einen Kranz Knoblauch, ein Lendenstück von einem Hammel, frischgeschlachtet, blutrot, appetitlich, runden Schafskäse, Uhren ohne Zeiger, falsche Juwelen, giftgrüne Hosenträger, äußerst schlaffe Symbole der Zivilisation. Lastträger vom Hafen, groß, stark, schwarz, mit Bartstoppeln in traurigen und müden Gesichtern, stehen mir im Weg. Von Stand zu Stand gehen sie langsam. Es ist keineswegs ihre Absicht, zu kaufen: Erfahrungen wollen sie sammeln. Halbwüchsige Jungen tragen Erfrischungswasser in irdenen Krügen auf dem Kopfe. Ihre Füße laufen, ihre Köpfe stehen. Die Gefäße ruhen sicher wie auf eisernen Sockeln. Barfüßige Mädchen, ansichtskartenhaft, gehen um Wasser zu Brunnen, durstige Eimer hängen am Tragholz, das quer über der rechten Schulter liegt. Die Repräsentanten der kaukasischen Bergvölker tragen riesige, wilde, zottelige Pelzmützen. Was haben, frage ich vergeblich, diese Mützen für einen Zusammenhang mit den Bergen?

Es wimmelt hier von schweren Pelzmützen, die meisten kaukasischen Völker sind hier vertreten. Und wieviele gibt es auf dem riesigen Gebiet des Kaukasus, auf den 455 000 Quadratkilometern? Vierzig bis fünfundvierzig zählte ein veralteter Führer. Im nördlichen Kaukasus allein mußten nach der Revolution neun Republiken errichtet werden. Daß dort die Nogaier, die Kara-Nogaier (schwarze Nogaier), die Turkmenen (die heute noch Nasenringe tragen) und die schöngebildeten Karatschaier leben, wußte ich. Daß in Kurdistan die Kurden, in Karabach die Armenier wohnen, haben wir alle gelernt. Von wievielen Völkern aber weiß mir ein Gelehrter, der finnische Philologe Stimumagi, im Aserbeidschanischen Forschungsinstitut zu erzählen! Er kennt die Mugalen und Lesgier, kunstfertige Handwerker, dagestanischer Rasse; im Kubruischen Ujezd allein fünf kleine Stämme: die Chaputlinzen, die Chinalugen, die Buduchen, die Tschekzen, die Krislen; die 50 000 Küriner, südlich von den Lesgiern; die Tatten, die ein Rest alter Perser sind – im 6. und 7. Jahrhundert als lebendige Wälle gegen Chasaren und Hunnen angesiedelt; im Bezirk Nucha die Wartäschen und Nidseh; die Talyschen im Lengoran-Bezirk. In den muganischen Steppen leben die russischen Bauernsekten, der Zar hat sie zwangs- und strafweise hier angesiedelt: die Duchoborzen, Molokaner, Starowierzy und Sobotniki. In den reichen Weinbaudörfern Geudscha und Schamachow leben Landsleute, Schwaben. Sie sind zum großen Teil menonitischen Glaubens. In den Dörfern Priwolnaja und Pribosch leben die interessantesten Juden der Welt: nämlich die reinarischen. Es sind russische Bauern, die früher einmal Sobotniki waren, Sabbat-Heiliger. Als sie von der offiziellen Kirche und den Behörden verfolgt wurden, gingen sie aus Zorn und Trotz zum Judentum über. Sie nennen sich selbst »Gerim« (hebräisch: »Fremde«), sehen slawisch aus, leben von Ackerbau und Viehzucht und sind neben den weißrussischen, semitischen, »echten« Juden die frömmsten der Sowjet-Union.

Ein Rassenantisemit käme diesen Juden gegenüber in eine große Verlegenheit. Eine noch größere würden ihm die »Bergjuden« bereiten. Ich habe sie besucht. Sie sind, obwohl ihre Orthodoxen es selbst behaupten, keine Semiten, – meint die Wissenschaft. Sie gehören der tattischen Rasse an. Ich erfahre, daß die Zionisten vor dem Krieg Verbindungen mit den Bergjuden angeknüpft haben. Es erwies sich, daß der bergjüdische Klerus – im Gegensatz zu seinen semitischen ostjüdischen Kollegen orthodoxer Prägung – dem Zionismus freundlich gesinnt war. Der Krieg hat diese Beziehungen unterbrochen, die Revolution hat sie zerstört. Die kommunistische bergjüdische Jugend ist nicht nur antiklerikal, sondern zeigt auch Nationalbewußtsein – nämlich tattisches, nicht etwa jüdisches. Unsere Stammesgenossen, sagen die jungen Bergjuden, sind nicht etwa die Juden der Welt, sondern die mohammedanischen und armenisch-katholischen Tatten. Man hat also jetzt die ersten Schulen – vorläufig zwei – mit tattischer Unterrichtssprache eröffnet. Eine tattische Schrift hat es niemals gegeben. Man kam auf den unpraktischen Ausweg hebräische Schriftzeichen für die tattische Sprache zu verwenden. Indessen haben sogar die Türken das lateinische Alphabet angenommen.

Nach einer – immer noch bestrittenen – Theorie sind die Völker des Kaukasus japhetidischer oder alarodischer Rasse. Japhetiden sollen einmal alle Mittelmeergebiete bevölkert haben, die biblischen Chetiter waren Japhetiden, die Urartu aber Chalden, die Nairi und Mittani, die in den assyrischen Keilinschriften vorkommen, die Urbevölkerung von Cypern und Kreta, die Pelasger, die Etrusker und Ligurier, die Iberier – und ihr heutiger Überrest: die pyrenäischen Basken. Indoeuropäer haben die Japhetiden verdrängt, Iraner kamen in den Kaukasus, iranisierten die von den Sassaniden angesiedelten Stämme, die Araber brachten ihnen den Islam, die Türken die türkische Sprache. Eine allgemeine Assimilation ist niemals gelungen. In den unzugänglichen Schluchten und Tälern des Kaukasus leben die letzten Überreste einer sonst längst verschwundenen Exotik, längst verrauschter Kulturen. Die ganze Entwicklung des Menschengeschlechts ist an lebendigen Exempeln im Kaukasus zu sehen: der Weg vom primitiven Höhlenbewohner zum seßhaften Ackerbauer, vom kriegerischen Nomaden zum friedlichen Hirten, vom wilden Jäger zum pazifistischen Duchoborzen, der vegetarisch aus Religion ist ...

 

Alle diese Völker haben heute vollkommen nationale Autonomie – soweit sie auf der Kulturstufe angelangt sind, auf der sie selbst Autonomie fordern. Von allen Postulaten der Demokratie und des Sozialismus ist das der Gleichberechtigung nationaler Minderheiten in Rußland glänzend, vorbildlich erfüllt worden. Die Lösung der Minderheitenfrage hat gerade im Kaukasus zu schweren Komplikationen geführt: in einer einzigen mittelgroßen Stadt befanden sich manchmal die Zentralbehörden dreier Republiken. Eine Stadt bildete also in Wirklichkeit drei Städte. Und jede, auch die kleinste Nation, bestand auf ihren Rechten. Ein neugewecktes Nationalbewußtsein wächst sich leicht zu Nationalismus aus. Es wäre vielleicht praktischer gewesen, alle diese Nationen auf eine geeignete Weise zu russifizieren – die zaristische Regierung hat es nicht vermocht. Heute ist es zu spät – oder noch zu früh. Man hat vorläufig mit großer Mühe aus einem Völkergewirr ein nationales Labyrinth geschaffen: es ist kompliziert, aber systematisch. Der Fremde verirrt sich, aber die Einheimischen finden sich zurecht. Und wenn heute die Naganzen, die heute noch ihr Ungeziefer verzehren, von ihren Bergen herabstiegen und eine beschränkte und ihnen angemessene Autonomie verlangten – sie bekämen sie. Prinzipiell kann in den Sowjetstaaten jeder Stamm auf seine Fasson »national« werden.

Die zaristische Regierung hat von den Besonderheiten des Kaukasus gar nichts verstanden. Die zaristischen Großfürsten und Fürsten, die Polizeigouverneure und Generäle betrachteten die Eingeborenen als »Wilde«, die man von eigenen Soldaten erschießen läßt, wenn sie aufmucken, von »feindlichen«, wenn Krieg ausbricht. Die Vorstellungen eines zaristischen Statthalters von dem Volk, das er beherrscht, waren noch primitiver als die Vorstellungen, die sich diese Untertanen vom Zaren machen mußten. Ich habe in den Bibliotheken von Tiflis und Baku einige »Memoiren« gelesen, deren Verfasser hohe Würdenträger im Kaukasus gewesen waren. Alle ihre Beobachtungen stehen auf dem Niveau jener berüchtigt gewordenen des englischen Reisenden Hanway aus der Mitte des 18. Jahrhunderts: »Die Kalmücken haben eine ähnliche Gesichtsbildung wie die Chinesen, sind aber noch frecher und wilder« ...

Derartige Vertreter russischer Kultur haben freilich keinesfalls russifizieren können. Es lag dem Zaren ja auch gar nicht an der russischen Kultur – sie war ja sogar in Großrußland verboten. Es lag an den Steuern, den Bodenschätzen, dem Brot.

Es ist nicht anzunehmen, daß die Geschichte im Kaukasus einmal einen verkehrten Weg gehen wird: nicht Stämme zu Nationen zu vereinigen, sondern aus kleinen Stämmen ebensoviel neue Nationen zu bilden. Es ist gewiß, daß diejenigen kaukasischen Völker, die schon ein starkes kulturelles Hinterland haben, ihre nationale Kultur weiterbilden werden. Aber die Tatten, die Kumyken, die Tschetschenen werden eines Tages in den großen Nachbarvölkern aufgegangen sein. Man glaubt, daß der lange Weg einer Assimilation eines primitiven Volkes an ein hochstehendes mit einem eigenen neuen Nationalbewußtsein beginnt, mit einem eigenen neuen Lehrbuch für die erste Volksschulklasse. Auch der Weg zur großen, noch sehr fernen Internationalität beginnt beim eigenen Alphabet. Die Muttersprache vermittelt die Weltsprache, das Nationalgefühl breitet sich aus zum Weltgefühl.

Die Verleihung der nationalen Autonomien war nicht nur ein kommunistisches Gebot. Sie war auch eine politische Klugheit. Denn: was lernen heute die neuen Nationen in ihren neuen nationalen Lehrbüchern? – Die Geschichte und den Ruhm der Revolution. Den primitiven Menschen besticht die nationale Idee manchmal eher als die kommunistische. Nun trägt aber der Kommunismus nationale Züge, der Patriotismus kommunistische. Wer hinter der nationalen Fahne marschiert, folgt auch der internationalen roten. Nationalgefühl und kommunistische Weltanschauung sind bei der Jugend der meisten kaukasischen Völker beinahe synonyme Begriffe. Dem Kommunismus gelang, was die absolute Monarchie nicht vermochte, wohl auch nicht gewollt hatte: die absolute nationale Sicherheit. In Baku gibt es keine Armenierpogrome mehr, in Weißrußland und der Ukraine keine Judenpogrome. So schwach und schwankend die alte Regierung gerade im Kaukasus war, so stark und sicher ist dort die neue. In Tiflis sah ich das Leichenbegängnis eines Offiziers; vor den militärischen Ehrenkompagnien zwanzig Doppelreihen in grusinischer Nationaltracht – Pelzmützen, Säbel, Patronengürtel, Pistolen, Dolche. Es war ein nationaler Verein, dem der Tote angehört hatte. An der Spitze der nationalen Grusinier wehte die rote kommunistische Fahne.

Die Vorstellung, daß ein kaukasischer Bauer etwa heute noch nicht wüßte, »ob der Zar oder Lenin regierte«, ist falsch. Die Petroleumgebiete industrialisieren, die Rote Armee revolutioniert alljährlich ein neues Bauerngeschlecht. Im westlichen Teil Georgiens, in Gurien, – die Kultur dieses Landes ist allerdings tausend Jahre älter als die russische – waren die Bauern durch eine harte, auch noch über das Jahr 1864 andauernde Leibeigenschaft gezwungen worden, in die Industriezentren abzuwandern. 1902, beim Batumer Streik, wurden 19 Gurier erschossen, die Heimat nahm Rache, Militär konnte ein ganzes Jahr lang nichts gegen die bewaffneten Bauern ausrichten, die Polizei wurde verjagt und getötet, man führte eine eigene Verfassung ein, sozialisierte große Strecken Landes, gab den Frauen gleiche Rechte, studierte Marx in öffentlichen Versammlungen – während der Tifliser Statthalter ohnmächtig zusah. Erst im Dezember 1905 wurde mit Hilfe großer Militärtruppen das Land auf eine echt russische Weise »beruhigt«.

Heute ist die alte grusische Aristokratie zum Teil geflüchtet, zum Teil in den Nep-Mann-Stand abgewandert. Die schmucken Gestalten in den exotischen Uniformen stehen vor den Nachtlokalen des Montmartre. In den russischen Städten tragen sie Zivil und machen Geschäfte mit kleinen Händlern. Vor acht Jahren hätte ein kaukasischer Edelmann den kleinen Mann ungestraft verprügeln können, der heute sein Kompagnon ist. In den Straßen von Tiflis sieht man wohlgebaute Herren mit gestikulierenden Juden aus Minsk und Griechenland verhandeln. Chasaren, Hunnen, Byzantiner, Araber, Tataren, Mongolen, Perser, Türken, Seldschuken haben Tiflis abwechselnd bis zum Jahre 1795 erobert. Dann aber kam eine Pause. Seit 1923 herrschen die Nep-Männer. In Baku sind die Chancen noch besser. Auf dem lebhaften Boulevard lustwandelt eine ganze Börse. Man sitzt in den Restaurants, deren Bogenlampen sich im Kaspischen Meer spiegeln. Man sieht die ankommenden Schiffe, die Waren abladen werden. Wie angenehm läßt sich da kalkulieren! Man hört aus den gewölbten Zelten, die wie große Souffleurkästen aussehen, die weinende türkische Musik, die Töne des »Sas« und des »Tar«, die auf der schmalen Grenze zwischen Wildheit und Sentimentalität dahinziehen ... und macht Geschäfte.


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