Joseph Roth
Reise in Rußland
Joseph Roth

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VIII. Wie sieht es in der russischen Straße aus?

Frankfurter Zeitung, 31. 10. 1926

Auf den ersten Blick erscheinen die Straßen der russischen Städte bunt und lebhaft. Viele Frauen tragen rote Kopftücher glatt auf dem Haar, im Nacken breit geknotet. Es ist die einzige, übrigens praktische Galanterie der Revolution. Die alten Frauen verjüngt das rote Tuch, den jungen verleiht es einen kühnen erotischen Elan. Von einigen Häusern wehen rote Fahnen. Über Türen und Schildern steht der rote Sowjetstern. Die Plakate vor den Kinotheatern sind von einer naiven, ländlichen Farbenfreude. Die Menschen stauen sich vor den Schaufenstern, sie lieben es, in Serpentinen zu wandeln, es ist ein großer Reichtum an Bewegungen. In einem absichtlichen, wahrscheinlich pädagogischen Gegensatz zu den Passanten demonstrieren die öffentlichen Verkehrsmittel Tempo, Rasanz, »Amerika«. Es gibt gute englische Autobusse modernster Konstruktion, leichter und gediegener als die Berliner und Pariser. Glatt und hurtig sausen sie dahin – auf dem furchtbarsten Pflaster der Welt: dem russischen, das wie ein steiniger, festgestampfter Meeresstrand ist. Die Straßenbahnen klingeln ganz hell, wie Wecker. Die Automobile piepsen schrill, wie junge Hunde. Die Droschkenpferde schnalzen lustig mit den Hufen. Die fliegenden Händler schreien und singen ihre Waren aus – sie machen sich selbst mehr Courage als dem Käufer. Über den Dächern glänzen die Märchenkuppeln der russischen Kirchen, blühen die goldenen Zwiebeln, Früchte eines bunten, seltsamen, exotischen Christentums.

Dennoch empfinde ich die russische Straße grau. Die Masse, die sie bevölkert, ist grau. Sie verschlingt das Rot der Tücher, der Fahnen, der Abzeichen und den goldenen Abglanz der Kirchen-Dächer. Es sind lauter arm und wahllos angezogene Menschen. Es weht ein großer, in seiner Nüchternheit überwältigender, in seiner Dürftigkeit pathetischer Ernst von ihnen. Die russische Straße erinnert an die Szenerie eines sozialen Dramas. Es erfüllt sie ein Geruch von Kohle, Leder, Speise, Arbeit und Mensch. Es ist die Atmosphäre der Volksversammlungen.

Es ist immer noch, als hätte man vor einigen Stunden erst die Tore der Stadt geöffnet und die der Fabriken, die engen Türen der Gefängnisse und die pompösen Portale der Bahnhöfe; als hätte man erst vor einer Stunde Schranken aufgehoben, Lokomotiven in Bewegung gesetzt, Tunnel durchbrochen, Ketten gesprengt: als hätte man eben erst die Masse befreit, als wäre ganz Rußland auf den Beinen. Ihm fehlt noch das heitere Weiß, das die Farbe der Zivilisation ist, wie Rot die Farbe der Revolution. Ihm fehlt der helle Frohsinn, den nur eine alte formvollendete Welt hervorbringt, niemals eine werdende. Ihm fehlt die Leichtigkeit, die ein Kind des Überflusses ist. Hier sieht man nur Not – oder Notwendiges. Es kommt mir vor, daß ich durch Äcker gehe, in denen lauter Kartoffeln wachsen, bitter gebrauchte, reichlich gesäte.

Vieles ist improvisiert: hölzerne Buden der Stiefelputzer mit schwarzen und braunen Schnürsenkeln, mit kleinen armseligen Pyramiden aus Schuhpasta-Schachteln; mit grauen großen Gummi-Absätzen, Hufeisen für Menschen. Ein Mann bleibt stehen, hebt einen Fuß und läßt sich beschlagen. Die Funken sprühn in der Dämmerung, während der Schmied, der ein Schuster ist, den Hammer schwingt. Frauen in dicken Kleidern hocken auf dem Pflaster und verkaufen Sonnenblumenkerne. Für zwei Kopeken erhält man ein volles Glas, gewissermaßen mit Schaum. Jeder fünfte Mensch sprüht die grauen Schalen um sich her. Ein Trupp obdachloser, malerischer, zerfetzter Kinder schlendert, läuft, sitzt in den Straßen. Bettler aller Art und Größe spähen raubgierig nach edlen Herzen. Es gibt Melancholiker mit dem bekannten stummen Anklage-Blick, Klerikale, die mit dem Jenseits drohen und zu den Melodien der Kirchenlieder eigene Texte singen, Frauen mit Kindern und Kinder ohne Frauen, Amputierte und Simulanten. Da sind kleine provisorische Läden mit geteilten Schaufenstern. Links liegen Uhren, rechts schaukeln Damenhüte auf Stengeln. Links liegen Hämmer, Messer, Nägel, rechts sind Büstenhalter, Strümpfe, Taschentücher.

Dazwischen schiebt sich die Menge: Männer in billigen Blusen, viele in Lederjoppen, alle mit braunen und grauen Mützen, in grauen, braunen, schwarzen Hemden; viele Bauern und halbe Ländlichkeit, die erste Generation, die auf dem Straßenpflaster gehen gelernt hat; Soldaten in langen, gelben Mänteln, Milizmänner in dunkeln, in dunkelroten Mützen; Männer mit Aktentaschen, auch ohne diese Werkzeuge als Funktionäre erkennbar; alte Bürger, die justament beim weißen Kragen bleiben, den Hut noch tragen, ein schwarzes Bärtchen – die Mode der russischen Intelligenz der neunziger Jahre – und den unvermeidlichen Zwicker am dünnen goldenen Kettchen, das die Ohrmuschel vom Schädel abgrenzt; Debattierende, die in den Klub gehn, ihn schon unterwegs eröffnen; ein paar ängstliche, sehr primitive Mädchen der Liebe, Etappen-Typus; sehr selten eine gut angezogene Frau; niemals ein unbeschäftigter Mensch, niemals ein Mensch, dem man es ansehn würde, daß er gar keine Sorgen hat. Aus allen weht der Atem eines arbeitsreichen oder eines problemreichen Lebens. Entweder man ist Arbeiter oder Funktionär oder Büro-Angestellter. Man ist aktiv oder man wird erst aktiv. Man ist in der Partei oder man bereitet sich gerade vor, in die Partei aufgenommen zu werden. (Und selbst die »Parteilosigkeit« ist noch eine Art Aktivität.) Man fixiert immer seine Stellung zur neuen Welt. Man korrigiert seinen Standpunkt. Man ist niemals ganz Privatmensch. Man ist immer ein sehr bewegter Bestandteil der Gesellschaft. Es wird organisiert, es wird gespart, es wird eine Kampagne eröffnet, eine Resolution gefaßt, eine Delegation erwartet, eine Delegation begleitet, es wird einer ausgeschlossen, ein anderer aufgenommen, es wird gesammelt, abgeliefert, gestempelt – es wird, es wird, es wird! Die ganze Welt ist ein ungeheurer Apparat. Jeder Greis, jedes Kind ist beteiligt und verantwortlich. Es ist ein großes Bauen und Zuschütten und Ziegeltragen, hier liegen Trümmer, dort liegt neues Baumaterial – und alle Menschen klettern auf Gerüsten, stehen auf Leitern, steigen auf Treppen, reparieren, bauen ab, schütten zu. Noch steht niemand frei und souverän auf der Erde.

Deshalb erscheinen mir manchmal die Straßen selbst der ältesten russischen Städte (von Kiew und Moskau) wie Straßen in einem Neuland. Sie erinnern mich an die jungen Städte aus amerikanischen Westkolonien, an diese Atmosphäre von Rausch und ständiger Geburt, von Glücksjagd und Heimlosigkeit, von Kühnheit und Opfermut, von Mißtrauen und Furcht, von primitivstem Holzbau neben kompliziertester Technik, von romantischen Reitern und nüchternen Ingenieuren. Die Menschen sind auch hier von allen Seiten des großen Landes zusammengeströmt (in jeder Stadt wechselt die Bevölkerung jedes Jahr), Hunger, Durst, Kampf und Tod liegen vor ihnen. Das Heute bilden: Holzlatten, abgebrochene Kreuze, zerrissene Häuser, Stacheldraht vor Gärten, neue Gerüste vor halbfertigen Bauten, alte Denkmäler, von Empörung vernichtet, neue, von allzu hastigen Händen erbaut, Tempel, in Klubs verwandelt, noch kein Klub, der einen Tempel ersetzte, zertrümmerte Konvention und eine langsam werdende neue Form. Manches ist allzu neu, funkelnagelneu, zu sehr neu, um sehr alt zu werden, es trägt das Zeichen von Amerika an der Stirn – von Amerika, dessen Technik das vorläufige Ziel der neuen russischen Baumeister ist. Die Straße hastet vom schläfrigen Orient zum westlichsten Westen, vom Bettler zur Lichtreklame, vom langsamen Droschkengaul zum ratternden Autobus, vom »Iswoschtschik« zum Chauffeur. Noch eine ganz kleine Wendung – und diese Straße führt direkt nach New York.

Ich gestehe beschämt, daß mich manchmal in diesen Straßen eine ganz bestimmte Trauer befällt. Mitten in der Bewunderung für eine Welt, die aus eigener Kraft, mit mehr Ekstase als Material, ohne Geld und ohne Freunde, Zeitungen druckt, Bücher schreibt, Maschinen baut und Fabriken, Kanäle gräbt, nachdem sie kaum noch ihre Toten bestattet hat – – mitten in der Bewunderung ergreift mich ein Heimweh nach unserem Leichtsinn und unserer Verwerflichkeit, eine Sehnsucht nach dem Aroma der Zivilisation, ein süßer Schmerz um unsere wissenschaftlich schon ausgemachte Dekadenz, ein kindischer, dummer, aber inbrünstiger Wunsch, noch einmal eine Modeschau bei Moulineux zu sehen, ein holdseliges Abendkleid auf einem törichten Mädchen, eine Nummer vom »Sourire« und den ganzen Untergang des Abendlandes: wahrscheinlich ist das ein bourgeoiser Atavismus.


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