Joseph Roth
Reise in Rußland
Joseph Roth

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XIII. Die Kirche, der Atheismus, die Religionspolitik

Frankfurter Zeitung, 7. 12. 1926

Zwischen der Überzeugung, daß die Religion »Gift« sei, und einer feindseligen Aktivität gegen Erzeuger und Verbreiter des angeblichen Gifts ist ein Unterschied: in Sowjetrußland wird die Kirche nicht verfolgt. Nur ihre Macht wird bekämpft und ihr Einfluß. Man führt keinen Krieg gegen Gott – man bemüht sich nachzuweisen, daß er nicht da ist. Man zerstört keine Kirche – man verwandelt einige in Museen. Man bestraft nicht die Gläubigkeit – man sucht sie auszurotten. Man verbietet nur jene religiösen Demonstrationen, die staatsfeindlich sind oder sein könnten. Man verhindert nur sehr selten eine Prozession – man versucht zu beweisen, daß sie eine Torheit sei. Die Methode des Kampfes gegen die Kirche ist mehr eine prophylaktische als eine chirurgische. Religiöse Betätigung der Jugend kann manchmal unangenehme Konsequenzen haben. Religiöse Betätigung der Alten wird höchstens ironisiert. Der Spott ist schon die schärfste Waffe, die der Staat gegen die Kirche verwendet. An der linken Wand des heutigen zweiten Sowjethauses, dort, wo früher die wundertätige iberische Mutter Gottes gestanden hat, ist heute die goldene Inschrift angebracht: »Die Religion ist Opium für das Volk.« (Die Mutter Gottes ist, nebenbei gesagt, in ihre eigene Kapelle, zwanzig Schritt weiter, vor dem großen Kremltor, übergesiedelt und wird immer noch fleißig angebetet.) Aber auch dieses öffentliche Zitat ist eine alte Demonstration aus der Zeit der ersten Siegesfreude. Heute herrscht Waffenstillstand zwischen Staat und Kirche. Manchmal auch Freundschaft: die religiösen Minderheiten zum Beispiel genießen im neuen Rußland eine unvergleichlich größere Freiheit als in irgendeiner Zeit. Sie hatten einen gemeinsamen Feind, die kleinen Konfessionen und die große Revolution: den orthodoxen Zarismus. Der Beschluß des Dreizehnten Parteikongresses über die Behandlung der Sekten lautet: »Besonders vorsichtig ist die Frage des Verhaltens gegenüber den Sektierern zu lösen – zumal, da viele von ihnen vom Zarismus grausam behandelt wurden und einige überaus aktiv sind. Durch ein angemessenes Vorgehen sollte man die wirtschaftlich kulturellen Elemente unter ihnen in den großen Strom der Sowjet-Arbeit einbeziehen.« Der »Allrussische Menonitische Landwirtschaftliche Verband«, dessen Statuten einen unwahrscheinlich reaktionären Geist atmen, wurde trotzdem im Jahre 1923 von der Regierung bestätigt – und erst heute, da die kommunistische Propaganda unter den armen und mittleren menonitischen Bauern einige Erfolge zeitigt, beginnt man, den Verband zu reorganisieren. In Moskau erscheint, unter anderen religiösen Zeitschriften, die Monatsschrift der Siebten-Tag-Adventisten, die eine eifrige Propaganda für das »Bibellesen im Hause« treibt und auch sonst gewiß nicht revolutionär ist. Mohammedaner, Juden, Duchoborzen, Molokaner – alle bekannten und unbekannten Konfessionen, an denen Rußland so reich ist, leben frei und erholen sich geradezu von den Verfolgungen des Zaren – unter der Herrschaft der prinzipiellen Atheisten. Wer wollte behaupten, daß die Sowjetregierung heute noch die Religion verfolge?

Man treibt nur Propaganda gegen die Religion. Sie ist die selbstverständliche Konsequenz des »dialektischen Materialismus«. Man ist bemüht, die Propaganda sachlich, kühl, objektiv zu gestalten. Daß sie trotzdem in Aggressivität ausartet, ist nicht die Schuld ihrer Urheber. Denn erstens sind von allen Bekehrungs-Methoden die gegen den Glauben angewandten ihrer Natur nach am wenigsten behutsam. Gefühle sind eben leichter zu verletzen als zum Beispiel Meinungen. Zweitens: sind die Missionare des Atheismus nicht geeignet, gerade das zu schonen, was anzugreifen ihre Aufgabe ist. Es ist ja gerade ihre Pflicht, ihr Beruf, bei jeder metaphysisch verdächtigen Äußerung des Lebens nach dem naturwissenschaftlich fixierten »Nerv« zu suchen, der sie verursacht haben könnte. Es kann also höchstens ihr Bestreben sein, nicht »auf die Nerven zu fallen«. Aber sie fallen sozusagen meist auf Gefühle.

Verletzend ist nicht das Argument des »Materialismus«, sondern die Billigkeit seines Arguments. Es gibt selbstverständlich auch diffizile. Aber sie eignen sich nicht für die alltägliche Propaganda. Der landläufige agitatorische Materialismus in Rußland hat ein paar grobe, niederschmetternde, für europäische Ohren unglaublich antiquierte »Beweise«: Zum Beispiel: Donner und Blitz sind Erscheinungen der Elektrizität; die Welt ist billionenmal älter, als die Bibel glaubt; die Welt ist nicht in sechs Tagen, der Mensch nicht aus Staub erschaffen worden: er kommt vom Affenmenschen her. Besonders über diese Entdeckung herrscht in Rußland eine unwahrscheinlich naive Freude. Die Menschen sind so stolz darauf, mit dem Pithekanthropus verwandt zu sein, als hätten sie eine Erbschaft von ihm zu erwarten und als hätten wir dieses Erbe nicht schon längst aufgezehrt. In einer Broschüre: »Antireligiöse Propaganda im Dorf« von E. Feodorow, die für Dorf-Agitatoren bestimmt ist, stehen folgende Definitionen: »Das Peter- und Paulsfest gehört zu jenen Feiertagen, die den Zweck haben, die Ausbeutung der arbeitenden Massen durch die Kapitalisten zu rechtfertigen und jeden Versuch, einen Aufstand zu erheben, durch eine Berufung auf die göttliche Autorität zu unterdrücken.« Oder: »Alle unsere Seelen-Erscheinungen – Ärger, Freude, Angst, die Fähigkeit, zu denken und zu räsonieren – sind Folgen der Arbeit des Zentralhirns und der Nerven.« Der zwanzigste Juni alten Stils, der Tag des Elias, der nach dem Glauben der Bauern über Donner und Blitz zu verfügen hat, wird im neuen Rußland auch offiziell gefeiert, und zwar als »Elektrifikationstag«. Und manchmal protestiert eine Broschüre gegen das Läuten der Kirchenglocken, weil es denerviere und weil in – Zürich das Glockenläuten verboten sei. Ich weiß nicht, ob es stimmt – aber: Zürich! Zürich! Welch ein Muster für Revolutionäre! ...

Das ist nämlich das Un-Revolutionäre, Reaktionäre, Spießige an dieser antireligiösen Propaganda: dieser Wunsch nach stummen Glocken; dieses Peter-Paulsfest, das den Zweck hat, die Ausbeutung der Massen zu rechtfertigen; dieser »Elektrifikationstag«; diese Seelenerscheinungen im Nervensystem und diese Genügsamkeit, die keine anderen Seelenerscheinungen kennt als: Ärger, Freude, Angst, Denken und Räsonieren; fünf Zustände, wie fünf Finger; dieses Argument gegen die Bibel: ein »Märchen«; dieser mittelmäßige, banale, philiströse Affen-Mensch inmitten der aufgeklärten Schweizer Alpen ...

Als Gorki einmal in einem Artikel schrieb: »Die Gottsucherei muß man eine Zeitlang aufschieben. – Ihr habt keinen Gott! Ihr habt ihn noch nicht geschaffen!« – bekam er einen bösen Brief von Lenin: »Daraus geht also hervor, daß Sie nur eine Zeitlang gegen die Gottsucherei sind! – Jeder Gott ist eine Seuche – vom sozialen, nicht vom persönlichen Gesichtspunkt ist jede Gottschafferei nichts anderes als die liebevolle Selbstbetrachtung des stumpfsinnigen Kleinbürgertums – Gott ist zu allererst ein Komplex von Ideen, die durch die stumpfsinnige Niedergedrücktheit des Menschen und die äußere Natur und die Klassenunterdrückung erzeugt wurden –«

Das war im Jahre 1913. Und diese Angst vor Gott, die genau so groß war wie die Angst eines Frommen vor dem Teufel, stammt noch aus den neunziger Jahren. Indessen haben wir 1926. Dazwischen war der Krieg, der Tod, die große Revolution und der große Lenin selbst, bei dessen Tod ein Schauer durch ganz Rußland ging, der keineswegs nur wie eine »Funktion des Nervensystems« aussah. Dazwischen ist das Wissen von der Relativität der »Wahrheit«, von der Wahrheit des »Unwahren«. Wenn man uns heute sagt, daß etwas »nur ein Märchen« sei, so ist das für uns noch lange kein Grund, ihm nicht zu glauben. Den Pithekanthropus haben wir längst akzeptiert, die Aufklärung haben wir längst verdaut. Wir haben den Weg schon zurückgelegt, auf dem man erfreut feststellt, daß die »Wunder« »erklärbar« sind. Wir wandern schon den Weg, auf dem man erfährt, daß auch das »Erklärliche« ein Wunder ist. Kurz: wir sind im zwanzigsten Jahrhundert. Im geistigen – nicht im politischen – Rußland feiert man die letzten Jahrzehnte des neunzehnten. Wenn man folgende Zuschrift eines bäuerlichen Jungkommunisten an die Zeitung liest:

»Mit Beendigung der Feldarbeit werden die Straßen unseres Dorfes wieder lebendig. Unsere Arbeiter- und Bauernjugend – weiß nicht, wohin mit der freien Zeit. Aus diesem Grunde besucht sie erstens allsonntäglich den Gottesdienst; und zweitens treibt sie allerhand Unwesen –«

so versteht man die unglaubliche Primitivität dieses Materialismus, der so stolz ist, den allsonntäglichen Gottesdienst endlich als »allerhand Unwesen« entlarvt zu haben – – und hat auch vielleicht eine ferne Vorstellung von der bisher so unbekannt gewesenen Areligiosität des russischen Durchschnitts-Menschen. Seine Gläubigkeit war ebenso von primitiv sinnlichen, religiösen Formen erhalten und bedingt, wie jetzt sein Unglaube vom primitiv naturwissenschaftlichen Abc. Diese Kirche, die ein so hartes Regiment gegen Abtrünnige führte, schuf selbst die Voraussetzungen für Abfall und Abkehr. Diese Kirche stand eine Zeitlang im Dienste mohammedanischer Chans gegen russische Bauern. Sie schenkte Rußland den ersten Romanow, den Sohn ihres Oberhauptes, um sich dem Zaren zu verkaufen wie früher dem Chan. Ihre Klöster lebten von der Arbeit der Leibeigenen. Das Troizlo-Ssergejewer Kloster hatte 106 000 Leibeigene, die Alexandro-Newiker Lawra 25 000. Im Anfang des 20. Jahrhunderts besaß die Kirche in Rußland 2 611 000 Deßjatinen Land. Das Jahreseinkommen des Moskauer Metropoliten betrug 81 000 Rubel, das des Nowgoroder Erzbischofs 307 500 Rubel, das des Petersburger Metropoliten 259 000 Rubel. Die Priester der orthodoxen Kirche waren und sind weniger »Diener Gottes« als Handlanger und Zeremonien-Vollstrecker. Sie waren nicht die Mittler zwischen Gebet und Erhörung. Gewissermaßen über ihre Köpfe hinweg ging der Glaube der Massen. Sie hatten keine bevorzugte Stellung, sie hatten nur Einnahmen. Sie nahmen die traditionellen Abgaben entgegen nicht wie Priester, sondern wie Tempeldiener.

Die Vorstellung, die sich in Westeuropa herausgebildet hatte, daß in Rußland jeder Bauer ein »Gottsucher« sei, beruht auf falsch verstandenen literarischen Voraussetzungen. Er war nur: näher der Natur und metaphysisch weniger befriedigt. Er absolviert jetzt das Stadium der primitiven Naturwissenschaft, die erste Stufe des Rationalismus. Vielleicht wird er auch dann, wie die Intellektuellen und die geistig Schöpferischen dem Zauber seiner reichen Kirche erliegen, deren Söhne keinen Priester brauchen, weil sie eine direkte, unmittelbare Beziehung zu den Gegenständen ihres Glaubens haben.

Man bekommt eine Ahnung von der Fremdheit, ja der Unheimlichkeit dieser Kirche, wenn man ihre Glocken hört. Viele läuten auf einmal. Die hellen fahren lärmend zwischen die tiefen. Die tiefen, schweren, alten läuten immer schneller, als hätten sie den Ehrgeiz, so flink wie die jungen zu sein. Sie schwingen nicht in horizontaler Richtung wie alle Glocken der Welt – es scheint, daß sie sich drehen, im Kreis, wie Tänzerinnen. Sie sind so laut, als wären sie unten, in der nächsten Straße. Aber sie leben hoch oben, verborgen in Türmen – und man staunt über diese Nähe des Tons, bei dieser Ferne des Instruments, wie man an klaren Sommertagen verwundert den nahen Gesang der Lerchen hört, die, gar nicht sichtbar, im Himmel verschwunden sind.

Wenn die Glocken ertönen, fallen alle Männer zu Boden, Bauern schlagen drei Kreuze, im Gehen, ohne sich aufzuhalten – es ist eine mechanische Äußerung. Die Bettler stehen vor den Kirchen, als kostete der Eintritt Geld, das Gesicht dem Glänzenden zugewandt, das von innen kommt, von den silbernen, blauen, roten, goldenen Gewändern der Popen, den goldenen, zarten Filigrantüren hinter dem Altar, den dicken goldenen Kerzen. Schwarze, vermummte Frauen huschen fortwährend von Leuchter zu Leuchter. Alle abgebrannten Stümpfchen kleben sie zu neuen, großen Lichtern zusammen. Schwarz, klein, flink und still, mit Brillen auf den Nasen – gleichen sie frommen Kirchen-Eulen, die nach dem Gottesdienst im Gebälk und Gesims hängen. Der schwarze Baß des Popen steigt auf aus einem Sarg, von oben kommt die helle Litanei einer Frau. Rhythmus und Tonfarbe des Gebets sind wie die der Glocken. Die gleichen akustischen Gesetze beherrschen Glocken und Kehlen.

Die Kirchen sind besser besucht, als man glauben sollte. Die Mönchs- und Nonnenklöster haben sich zeitgemäß in »Arbeitsgemeinschaften« verwandelt, bebauen mit Eifer ihren Boden und liefern ihre verhältnismäßig hohen Erträge den Kirchen und Popen ab. In Charkow (in der Ukraine sind die Bauern sehr fromm) brachte man an einem Oktobertag Ikonen aus der Umgebung in feierlicher Prozession wieder in die Stadt. Sie hatten den Sommer über für die Fruchtbarkeit der Felder zu sorgen gehabt. Die Straßen waren voll, Droschken konnten nicht passieren, alle Dörfer der Umgebung schienen in der Stadt zu sein. Alle Glocken läuteten. Die Menge kniete. Viele berührten mit der Stirn das nasse Pflaster. Es regnete dünn, oktoberhaft, es war ein Duft von welkem Laub wie Weihrauch über den Menschen. Es wurde Abend.

Es kam die Stunde, da in den Dörfern die Vorträge in den Klubs beginnen, wo man lesen und schreiben lernt, die Abstammung des Menschen und die definitive Leere des Himmels.

Man sieht, daß es eine grobe Verleumdung ist, von einer Verfolgung der Kirche zu sprechen. Der Kampf vollzieht sich in einer ganz anderen Sphäre. Der frisch-trocken-fröhliche Rationalismus findet seinen Niederschlag in der Kunst, in der Literatur, in Gedichten, in Essays, in allen Dingen des geistigen Lebens. Die Antireligiosität wird antiquiert, flach, langweilig. Die banale Ironie des »Gebildeten«, die alle Erscheinungen jenseits des Begreifens »ein Teegespräch für spiritistische Damen« nennt und sich dabei sehr geistreich vorkommt, hat keinen anderen Erfolg als den, daß sie auch den klügsten »Atheisten« einem halbgebildeten Autodidakten verdächtig nahe bringt. Es weht ein Geruch von sehr selbstbewußtem, engem, unduldsam aufgeklärtem Geist in der Luft: es ist der Geruch des Lexikons, wo »alles schon drin steht« ...


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