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Das Hindu-Mädchen

Bombay, Dezember 19..

Wie alt mag wohl das Hindu-Mädchen sein, das ich vorgestern abend in einer Freudenwohnung des ersten Stockwerkes, in der Foras-Road, besucht habe?

Ich konnte die Kleine nicht fragen, da sie kein Wort einer europäischen Sprache versteht, oder vielmehr weil ich eine bedeutende Unkenntnis aller indischen Sprachen besitze. So bin ich darauf angewiesen, aus dem Aussehen des Mädchens eine mutmaßende Schätzung des Alters abzuleiten.

Und das Aussehen verriet, daß sie sehr jung ist.

Wenn man viel im Orient reist, gewöhnt man sich allgemach daran, das jugendliche Mädchen in Rollen zu sehen, die mehr für ein reiferes Alter passen.

Und wenn überdies ein Freudenmädchen in Frage kommt, so wird noch die – mit Recht oder Unrecht – beschwichtigende Stimmung rege: wer sich dieses Mädchens heute erfreut, der zerstört doch hiemit keineswegs ein nie-betretenes Knospenbeet. Er ist durchaus nicht der erste, der das Terrain betritt. Da gab's gar manchen Vorgänger. Er ist nicht der erste und nicht der letzte. Die Scheu, die vor Knospentum und Unschuld zögernd Halt macht, wäre hier nicht gut angebracht.

(Ein Gegner solcher Argumentation könnte einwenden: Fürwahr, eine niedliche Entschuldigung! Da rechtfertigt Einer seinen Einbruch mit dem Umstand, daß vorher schon andere selbigenorts einen Einbruch verübt haben! –)

Aber wer immer in dieser Debatte Recht haben mag, – in praxi, in der Wirklichkeit ereignet sich's, daß man getrost, ohne den Einwänden rechte Beachtung zu schenken, in die Wohnung eines sehr jungen indischen Freudenmädchens eintritt.

*

Nachdem ich in die Stube des Hindu-Mädchens eingetreten, bleibe ich vorerst einige Minuten allein mit dem kargen Meublement der Stube, denn das Mädchen weilt derzeit in einer Nebenstube; der Hausdiener hat sich soeben hinüberbegeben, um meine Zukünftige herbeizuholen. Meine für ein Stündchen Zukünftige.

Da ist sie!

Gelassen kommt sie herein, nicht mit eiligem Eifer und nicht mit zaghafter Zurückhaltung; wie jemand, der ruhigen Gemütes weiß, auf welchem Boden er sich bewegt und welcher Art sein Endziel ist. Die Andeutung eines Schimmers von Freundlichkeit liegt auf ihrer Miene.

Gemäß ihrem Gesichtchen und ihrer Gestalt sollte sie mehr in die Kinderstube gehören als hieher in diese Stube, darin das gewisse breite Bett steht mit den zwei neben einander liegenden Kopfkissen.

Ihr Aussehen gemahnt mich an die Hindu-Mädchen jugendlichen Alters, die man in Bombay auf der Straße bei festlichen Aufzügen sieht: die lange, bis zum Boden reichende, etwas feierliche Bekleidung scheint uns im Widerspruch zu sein mit der jugendhaften Figur; ferner glauben wir ersten Augenblicks eine Ungereimtheit darin zu erblicken, daß diese Hindu-Kleinen wohl ein schönes Gewand tragen, aber barfuß sind, und dann fällt uns ein Gegensatz auf zwischen der kindlichen Figur und dem Gesichtsausdruck, der bei allem Kindlich-sein doch eine Art Gesetztheit und Ernsthaftigkeit zeigt, – den ernsten Zug der indischen Physiognomien.

Diese Eigenheiten hat auch die Hindu-Kleine, die mir jetzt gegenüber steht.

Ihre großen dunkeln Kinder- und Inder-Augen beherrschen das blaßbräunliche, kinnwärts sich sanftverschmälernde Gesichtchen.

Die Augen erscheinen als das Augenfälligste, das Wichtigste, als die Hauptsache, ich sehe eigentlich in dem Gesichtchen sonst keine bemerkenswerte physiognomische Einzelheit.

Über der Nasenwurzel, zwischen den Augenbrauen, leuchtet ein mit blutroter Farbe hingemalter runder Fleck. Ich deute, wie mit neugieriger Anfrage, auf dieses rote Zeichen und sie spricht, Auskunft erteilend, das Wort » Banja« aus.

Da kommt mir in den Sinn, daß indische Kuppler, die mir auf der Straße ein Hindu-Mädchen feinerer Art anzupreisen beabsichtigen, von einem » Banja-girl« – von einem Mädchen der Banjan-Kaste – zu reden pflegen.

Mein Hindufräulein will mir somit erklären, daß ich's hier mit einem Mädchen aus besserer Familie zu tun habe; denn die Banjan-Körperschaft – sie zählt zu ihren Mitgliedern reichlich viele Kaufleute – ist eine Unterabteilung der Vaishya und die Kaste der Waischias, die dritte indische Kaste, erfreut sich als ehrenwerte Klasse eines guten Ansehens.

Der indische Kastengeist bewirkt, daß die Inderin sich noch im Freudenhause ihrer Kasten-Herkunft rühmt, – auch die Inderin mit kindlichem Gehirnchen.

Im linken Nasenflügel trägt sie ein durchbohrendes Goldstiftchen. Die Ohren haben zweifachen Goldschmuck: ein Ringlein im oberen hinteren Ohr-Rand und ein aus drei Goldsternchen zusammengesetztes Gehänge im hinteren Ohrsaum knapp über dem Ohrläppchen.

Ihr Gesichtchen erinnert mich irgendwie – begründeter oder unbegründeter Weise – an ein byzantinisches Heiligenbild.

Die Handgelenke sind mit schmalen Goldreifen geschmückt.

*

Wenn ich erzähle, was für Charakter-Eigenheiten ein Hindu-Mädchen bei einer traulichen Gelegenheit geäußert hat, soll durchaus nicht behauptet werden, daß die Hindu-Mädchen insgesamt ebenso geartet sind.

Ohne gleich aus dem Einzelfall irgendwelche »völkerpsychologische« Regeln abzuleiten, möchte ich lediglich darstellen, wie die eine Hindu-Kleine sich betragen hat.

Sie benimmt sich so, als wäre sie in der harmlosesten Absicht zu mir in die Stube hereingekommen. Als wäre der Zweck, um dessentwillen sie hier ist, eine belanglose, nichts-bedeutende Angelegenheit, die ganz natürliche Beschäftigung für ein Geschöpf ihres Alters.

Als ging's zu einem mittelmäßig interessierenden Kinderspiel, etwa zu einem Ringelreihen, der das Gleichgewicht der Seele nicht weiter alteriert.

Sie ist nicht schüchtern, nicht scheu, nicht ängstlich; und anderseits: sie ist nicht dreist, nicht zynisch-unverfroren.

Ich möchte beinahe für die merkwürdige Ausgeglichenheit dieses Mädchens den Ausdruck »abgeklärt« gebrauchen, wenn dadurch nicht ein mißverständlicher Beiklang von »alt-klug« zustande käme. Von Altklugheit ist aber gar nichts zu merken.

Ein in eine nicht-kindliche Situation verschlagenes Kind, das gleichsam von dem Unkindlichen der Situation nichts merkt und die kindliche Stimmung beibehält.

Die Kleine ist in frühen Jahren zum Freudenmädchen gemacht worden; noch ehe sie gelernt hat, reiflich zu denken und moralisch zu wägen, hat sie gelernt, ihr Gewerbe auszuüben. Und so übt sie es als eine früh-gewohnte Sache, als etwas Selbstverständliches, als eine Tätigkeit, die ihr keine Mühsal bereitet; keine Mühe, sondern eine Lustempfindung, über deren Qualität das Kind weiter nicht nachdenkt, – genug, es ist die Empfindung einer Annehmlichkeit, etwas aus der Klasse der Regungen, die das Kind fühlt, wenn es eine der indischen süßen Näschereien oder eine Mango-Frucht wohlschmeckender Art ißt.

Und außerdem ist damit das Vergnügen des Geldempfangens verbunden, eine Freude, wofür schon höchst-jugendliche Hindu-Kinder, sofern sie zu dem nicht seltenen Gewerbe des Backschisch-Heischens abgerichtet sind, ein gutes Verständnis haben.

Ich will hier nicht auf Einzelheiten eingehen, die mit Fremdwörtern aus dem Vokabularium der Anatomie und Physiologie bezeichnet werden müßten, es sei nur bemerkt, daß die junge Inderin späterhin eine überraschende Reife, ja Über-Reife bekundete, sowohl körperlich als auch funktionell.

*

Doch vorläufig erscheint sie noch als das gleichmütige, unbefangene Kind.

Die Eigenart ihrer Haltung kann ich mir verdeutlichen, wenn ich einigen Reminiszenzen Raum gebe und vergleichend mir vorstelle, wie sich jugendliche Freudenmädchen anderer morgenländischer Völker benommen haben.

Ich meine das Benehmen ante actionem, das präludierende Auftreten; also die Art, wie die jugendliche Freudenbringerin den Gast begrüßt, wie sie ihm in der ersten Phase des Beisammenseins entgegenkommt, wie sie nötigenfalls um ihn wirbt, was für ein Temperament sie in den Momenten der Einleitung – vor dem eigentlichen Zärtlichkeits-Moment – zur Schau trägt.

Da entsinne ich mich einer sehr jungen arabischen – das heißt arabisch sprechenden – mohammedanischen Syrerin, bei der ich einmal in Beirut zu Besuch war: ein kleiner heißblütiger Dämon schon im ersten Augenblick der Begrüßung, das brünstige weibliche Tierchen mit unabgenützter, ungehemmter, unverkünstelter Leidenschaftlichkeit; der Sexualtrieb als erfrischendes Frühlingsgewitter waltend und die Luft immerzu mit Elektrizität geladen, mit Wünschen, mit dem einen Wunsch geladen. Von allem Anfang an familiär, kindlich-fröhlich, sinnlich-dreist, natürlich-kokett, wie einem alten Bekannten gegenüber, dessen Intentionen man durch und durch kennt und den man daher mit einer gewissen heiteren Überlegenheit behandelt. Wahrlich, jenes Kind betrug sich sogleich als die Herrin der Situation oder zum mindesten als ein dem Besucher durchaus ebenbürtiger Faktor.

Ferner entsinne ich mich jugendlicher japanischer lächelnder Mädchen, die dem Besucher ebenfalls sogleich wie einem wohlbekannten Freund entgegenkamen; doch nicht mit der ungebundenen, sinnlichen, respektlosen Intimität der eben erwähnten kleinen Syrerin, sondern wie höfliche Kätzchen: schmeichlerisch-zärtlich, anschmiegsam und gleichwohl mit einer gewissen Reserve, – den Leidenschafts-Ausbruch für den richtigen Zeitpunkt reservierend.

Dann blutjunge Chinesinnen, wie kleine, zarte, biegsame Gerten; vertrauensselige, nicht-schüchterne Geschöpfchen, wohlgemut, sozusagen »berufsfreudig«, doch ohne das Anschmeichelnde der japanischen Mägdlein.

– Noch einmal: wenn ich hier Bemerkungen über die Mädchen des einen und des anderen Volkes niederschreibe, so will ich hiemit keinesfalls sagen: »Das sind typische Figuren, allgemein giltige Beispiele; so und nicht anders sind alle jugendlichen Freudenmädchen jenes Volkes.«

Nein! Ich bin genugsam überzeugt, daß es ein recht gewagtes und schwieriges Beginnen ist, die Seelenverfassung der einzelnen Völker oder Stände durch festumschriebene eherne Modelle zu charakterisieren.

Der Zufall hat mir bestimmte Exemplare in den Weg geführt, die benahmen sich so und so.

Vielleicht werde ich demnächst einer Hindu-Kleinen begegnen, die ein ganz anderes Verhalten zeigt als die, in deren Stube ich jetzt weile.

*

Ihre Tracht ist sehr einfach. Von Schuhen und Strümpfen selbstverständlich keine Rede. Sie ist ja zu Hause, innerhalb der vier Wände, und übrigens sieht man, wie erwähnt, auch auf der Straße sehr schön gekleidete, doch barfüßige Hindu-Mädchen.

Sie hat kleine, zarte, wohlgeformte Kinderfüßchen. Die Zehen hübsch normal; anders als das Füßchen so mancher schönen Europäerin, das durch niedliches, allzu kleines Schuhwerk verunstaltet ist.

Das Mädchen bedarf keines großen Zeitaufwandes, um sich sämtlicher Gewandstücke zu entledigen; die sämtlichen Kleidungsstücke sind: der Gaze-Überwurf, ein Unterrock, eine Bluse, eine Art Mieder.

Nicht ein Mieder im Sinne der europäischen Verwendungsweise. Kein Lendenharnisch, kein Panzerkorsett. Das Mieder des Hindu-Mädchens ist ein kurzes, nur für die Brüste-Gegend berechnetes Schnürleibchen, es reicht nicht in die Taillenzone hinab und wirkt nur als suspendierende Stütze und Widerhalt-Tasche für die Brüste.

Oben in der Mitte hat das Mieder einen U-förmigen Ausschnitt, darin die straff an einander gepreßten und emporgehobenen oberen inneren Sphärenabschnitte des Busens sichtbar hervorquellen.

Die Bluse aus dunklem Kattunstoff hat einigermaßen europäischen Zuschnitt und irgendwo – ich kann mich der Stelle nicht genau entsinnen – hat sie eine »Gold«-Borte. Bluse und Unterrock sind gleichen Stoffes.

Der Überwurf ist aus feiner, weißer, rosig-gestreifter Gaze. Ich sage »Überwurf«, weil ich keinen anderen Ausdruck zur Hand habe: es ist das lange viereckige Zeugstück, das eines Endes um den Unterrock gelegt wird, während das restliche andere Ende als breiter Schal über den Rücken emporgeschlagen und entweder auf der Schulter oder auf dem Kopf fixiert wird.

Ohne Ziererei hat sie die Gewandung abgelegt, kein Zeichen äußernd, das den Entblößungsvorgang als etwas Bedeutungsvolles hinstellen möchte.

*

Eine große Überraschung harrt meiner. – – Möglich, daß der Anblick, der sich mir bietet, in Wirklichkeit nicht dermaßen bizarr ist, wie ich ihn empfinde, aber: das unbekleidete Mädchen erscheint mir im Augenblick wie ein indisches Fabelwesen, – eine mythologische Zwitterfigur, die von einer symbolisierenden Phantasie ohne viel Rücksicht auf Proportion und Übereinstimmung kombiniert worden … Die Bluse hatte die Brüste verheimlicht, verleugnet; jetzt, da Bluse und Mieder weg sind, offenbaren sich Brüste von verhältnismäßig grandiosen Dimensionen.

Ein Kind mit der voll-entwickelten, über-entwickelten Büste eines Weibes. Die Brust wie eine Allegorie strotzender Fruchtbarkeit, aufgesetzt auf ein nicht-zugehöriges Piedestal, auf einen kindlich unentwickelten Unterkörper.

Und auch das Piedestal von einem disharmonischen Riß in Widersprüche entzweit: kindlich zart und doch schon – entkindlicht.

Ein abenteuerliches gleichzeitiges Nebeneinander von Früh-Frühling, Hochsommer und Entblättert-sein.

*

Mir müßte jetzt die Pflicht obliegen, meinen Bericht gewissenhaft abzuschließen, die Endepisoden meines Besuches einigermaßen genau zu erzählen, vor den Schlußpunkt meiner Aufzeichnungen den tatsächlichen Schluß meines Erlebnisses zu setzen.

Doch ich will gegen diese Berichterstatter-Pflicht einen Verstoß begehen. Man muß manchmal auch für das Unvollständige, für das Fragment einige Sympathie betätigen. Abbrechen ist auch ein Beenden. Es ist ratsam, Erlebnisse aller Art aufzusuchen, aber man braucht füglich nicht alle Erlebnisse dem Papier anzuvertrauen. Wir wollen einiges bloß dem Gedächtnis, den Merkblättern des Gehirns, anvertrauen.

Also: – Schlußpunkt.


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