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* * *

Kerlchen, du ruhst wohl auf deinen Lorbeeren?« fragte der Oberstleutnant, und Fee sprang gleich von der Chaiselongue auf und guckte auf die Stelle, auf der sie gelegen.

»Wo sind Lorbeeren, Papa?«

»Kleines Schaf! Ich meinte nur, du hättest einen Lorbeerkranz verdient, da heute der Doktor seine Frau bekommt, und was für eine Frau!«

»Hast du die Blumen und unsere Hochzeitsgabe hingeschickt?« fragte Fees Mama, die sehr blaß und leidend in ihrem Sessel saß, – »wenn mir etwas leid thut, so ist es der Umstand, daß ich heute unserer Käthe nicht den Kranz aufsetzen konnte; ich bin doch recht unnütz auf der Welt, Schlieden, mit meinem ewigen Kranksein!«

Der Oberstleutnant schob einen Stuhl neben den Sessel seiner Gattin und bettete den schönen, blonden Kopf mit der reichen Flechtenkrone an seine Schulter.

»Du unnütz, Liebling?« fragte er voll tiefer Zärtlichkeit. – Kerlchen, wollen wir uns das gefallen lassen? Niemals! Was fingen wir ohne Mutti an? Und wie trostlos würde wohl Erich im Kadettenkorps sein, wenn er seine »Muusch-briefe« nicht hätte! Ruhe dich nur recht aus, mein Liebling, Kerlchen kann nachher einen Spaziergang machen, vielleicht nimmt Hermann Berg aus der Nachbarschaft sie ein Weilchen mit, das ist ein lieber Jung', dem ich unseren Wildfang gern anvertraue.«

»Warum seid Ihr nicht zur Hochzeit?« fragte Kerlchen.

»Weil Mutti nicht wohl genug ist.«

»Und warum bin ich nicht da? Der Doktor hat mich doch eingeladen!«

»Na weißt du, die Einladung war nicht so schroff aufzufassen,« lachte der Oberstleutnant; sie wollen heute ganz unter sich sein, und nur mit den allernächsten Verwandten feiern. Außerdem, mein Kerl, giltst du als etwas gemeingefährlich; jeder hat Angst, daß eine deiner Dummheiten urplötzlich hervorhüpft, wo man sie am wenigsten vermutet.«

Kerlchen seufzte.

»Und denn bedenk doch, Kerlchen, sie sind ja noch in tiefer Trauer um den Vater.«

»Ich denk', sie freuen sich! Jule sagte neulich: »Ne, die werden erst froh, wenn der Alte tot ist, der ist immer 'n Krakehler gewesen, un hat die ganze Heirat nich gewollt, un nich eher, als bis der tot is, können die Zweie glücklich werden!«

»Die Jule is 'ne wahre Pythia auf'n Dreifuß, und du mußt nicht alles nachschwatzen. Aber nun sei nicht traurig, daß du nicht auf der Hochzeit bist, denkst du, ich wär nicht auch gern hingegangen, du weißt doch von wegen »Eis, Krachmandeln und Traubrosinen«, aber der Mensch muß auch entsagen können.«

»Ich bin froh, daß die Zwei sich endlich haben,« sagte Mutti – »ganz feierlich ist mir zu Sinn. Da kommen ein paar Edelmenschen zusammen. Was für ein Samariterwerk sie an ihrem Stiefbruder gethan haben! Und wie sie bei dem unglücklichen Krüppelchen aushielt, bis er starb! Trotzdem tyrannisierte sie der Vater, und sie hatte nie eine richtige Heimat. Aber jetzt wird es Frühling für sie! Wenn ich dagegen an die tiefunglückliche Ehe von Ellen Lorenz denke, – die arme Frau!«

»Das war vorauszusehen, Herz! Sie ließ sich nicht raten, und ihr war deshalb nicht zu helfen. Sie wollte ihn haben, und nun hat sie ihn.«

»So hart denkst du gar nicht, Schlieden, dir thut sie ja auch so grenzenlos leid!«

»Freilich, freilich! Aber Frau Ellen trägt ihr Leid zu still. Aufmucken müßte sie, und das ganz gehörig. Ihr gehört alles, aber das scheint der Kerl ganz vergessen zu haben. Senden kann keine ruhige, vornehm-gelassene Natur verstehen, der braucht einen Sprühteufel, der ihm täglich dreimal das Gesicht zerkratzt. Und wenn ich denke, wen die Ellen alles hätte kriegen können; ich kenne nicht Einen in Schwarzhausen und Umgegend, der ihr nicht zu Füßen gelegen hätte.«

»Zuerst der Herr Oberstleutnant Schlieden!«

»Na und ob! Der auch!« lachte Vater.

»Wenn sie wenigstens das Kind behalten hätten, das süße, kleine!«

»Das hätte ja doch an dieser von Grund aus unglücklichen Ehe nichts geändert. »Ein Mädchen! Nur ein Mädchen, sagte ja Senden damals, – Schafskopp!« Es war ja allerdings himmelschreiend, daß für die verkrachten, verschuldeten Güter, für die verfallenen Gebäude und den unberühmten, durch nichts als auf Pferderennen ausgezeichneten Namen kein Erbe erstand.«

Muttchen nickte. Sie dachte an das himmelhochjauchzende Glück, das am Hochzeitstage die junge, schöne Ellen von Senden-Kahla-Rundstedt in seine Arme nahm, sie dachte an das stille, junge Weib mit den traurigen Augen, das nach halbjähriger Hochzeitsreise aus Italien heimkehrte, sie dachte an den bangen Tag, der den Stammhalter bringen sollte, an die qualvollen Stunden, welche die Ärmste durchringen mußte, an die trauliche Kinderstube, in welcher »nur ein Mädchen« das einzige Glück der jungen Mutter war, und an den kleinen Sarg, in welchen das kurze Glück eingeschlossen, in welchem es fortgetragen wurde.

»Warum hast du Thränen in deinen Guckäugelein, Mutti,« fragte Fee zärtlich. »Ich will jetzt erst ein bißchen zu Johann gehen und zusehen, wenn er Silber putzt, und dann den Hermann Berg abholen.«

Johann stand im »Sütträng« der Villa, in der kleinen Kammer neben dem Eßzimmer, von Johann »Silberkammer« genannt, trotzdem der Oberstleutnant ihm diese »protzige« Bezeichnung untersagt hatte. Aber in diesem Falle war Johann ungehorsam, wenn er auch sonst für seinen Herrn durch Feuer, Wasser und Kanonenkugeln ging. In die »Silberkammer« durfte nicht jeder jeden Tag hinein, Johann hütete den Schlüssel, wie der Drache im Märchen, nur wenn »Revision« angesagt war, führte er seine Herrschaft im Triumph hinein, und im Triumph hinaus, denn noch jedesmal nach der Besichtigung hätten ihm der Herr auf die Schulter geklopft und gesagt: »Johann, ich kann mir drin spiegeln.« Der Oberstleutnant verwahrte sich zwar gegen diesen grammatikalischen Schnitzer, aber Johann erzählte es immer wieder so. –

Kerlchen war das einzige Wesen, welches beim Silberputzen zusehen durfte, das einzige, welches Johanns philosophischen Betrachtungen, denen er bei dieser Beschäftigung nachging, volles Verständnis entgegenbrachte, es wagte keinen Zweifel an Johanns Ansichten über Gott und Unsterblichkeit, sowie sonstigen Fragen der neueren Philosophie auszusprechen und hatte unbedingtes Vertrauen zu Johanns Antworten auf seine eigenen Fragen und Zweifel. Kerlchen war infolgedessen in Johanns Augen weder mit einem wilden, rechthaberischen Buben, noch mit einem zimperlichen, Rücksicht heischenden Mädel zu vergleichen, selbst der Kosename »Frauenzimmerchen« wollte ihm nicht passen, Kerlchen war in seinen Augen eben »Kerlchen«. Oh über diese köstliche Freundschaft zwischen den beiden, Johann und Kerlchen! Orest und Pylades, David und Jonathan, Don Carlos und Marquis Posa, – – Waisenknaben waren sie dagegen! Diese Freundschaft war unvergleichlich!

»Johann, was is 'ne unglückliche Ehe?« fragte Kerlchen und setzte sich in der Silberkammer gleich fest neben ihren Freund hin.

»Weißte Fee, du erschreckst einen ordentlich mit deine Fragens, du mußt ä Linschen »böabö« kommen, nich so »uff'n Sturz«, un denn will ich Doretten un Julen sagen, daß sie dich überhaupt nich mit sonne Thematerichen klug machen sollen.«

»Jule un Dorette haben garnix gesagt. Mutti hat es zu Papa gesagt von Frau von Senden.«

»Dann is es was anderes! Und,« setzte er für sich hinzu, »wenn ich mir überlege, daß 'ne unglückliche Ehe nischt Unanständiges is, wofor man besonders die »Horchleffelchen« von Kinners bewahren soll, denn kann ich das dem Kerlchen auch ruhig erklären.«

»Eine unglückliche Ehe is, wenn man ein beses Weib hat, das immer'sch letzte Wort behält un nich kochen kann un keine Knäppe annäht.«

»O Johann, thut das alles Frau Ellen von Senden?«

»Ach so, Fee! Ne, hier liegt ja die Sache etwas annersch. Da merkste nu gleich, daß es nich so einfach is, wiets aussieht. Siehste Feechen, manchmal ist's auch umgekehrt, – dann is der Mann schuldig, – aber Feechen, ich sags ausdrücklich: »Nur manchmal

»Johann! Is Papa un Mama 'ne unglückliche Ehe? Papa näht keine Knöppe an, un kocht nich, und widerspricht so oft, un Mama näht keine Knöppe an, un kocht nich, un widerspricht auch.«

»Feechen, verbiestre dir nich! Mit die Vornehmen is des ebend anners. Sieh mal, ich mußst da mit Adam un Eva anfangen, du hast das ja gleich in die ersten »Rellionsstunden« bei Mama gehabt, daß es das erste Ehepaar war. Un mich dünkt, en sehr glückliches. Denn sie beschwerte sich nich, daß sie nix anzuziehn hätte, un davon kommt auch viel Unglück her, un sie war immer bei Adam, und das sollt ne gute Frau sein, un sie ging treu mit ihn aus'n Paradiese, wie der Engel se 'nausjächte. Un sie warn immer zusammen, nu siehste, das sin die Senden'schen Herrschaften nich. Un Frau Baronin sind en himmlischer Engel, und das is nich gut. Der Herr Baron braucht ne ird'sche Eva – ne Feechen, das verstehste nu wieder nich.«

»Doch, ziemlich!«

»Siehste Feechen, die Frau Baronin leben richtig nach der Bibel, wo es heißt: »Wenn dich jemand haut, mußte dir gleich noch 'ne Ohrfeige geben lassen, und das is wieder nich gut. Wenn der Herr von Senden seine Frau so schlecht behandelt, dann müßte se –«

»Hauen, spucken, mit dem Fuß trampfen un Zunge 'nausstecken.«

»I wo Feechen, wo wird se so unanständig sein. Ne, se müßt'n nur mal de Leviten lesen, aber ordentlich – – »Landgraf werde hart!« heißt's in unserm schönen Thüringer Land. Dieses Sanfte kann der Herr Baron nich vertragen, immer Pudding kriegt mer satt, es muß auch mal Erbsen mit Speck geben.«

»Ja, das versteh ich! Wie neulich Dorette so viel süßen Kram gekocht hatte, fuhr Papa sie an, und segte, er ließe sich nächstens von ihr scheiden, un sie sollt ihm ne ordentliche Suppe machen, un en gutes Stück Rindfleisch wär noch das Beste am ganzen Menschen.«

»Da ham der Herr Oberschtleitnant wieder recht! Un nu is meine Meinung, Frau von Senden sollt sich wieder en hübsches, weißes Kleidchen anziehn, das hatte der Herr Baron immer so gern an ihr, un das Kindchen is doch nu mal tot, un bleibt tot un hat gar nichts von dem schwarzen Kleid. – Aber nu sind meine Gabelns fertig, als wenn se der Hofjuflier eben abgeliefert hätte, un mer merkts auch nich mehr, daß das dümmste Frauenzimmer der Welt die eine Gabel im Salat hatte liegen lassen – –«

»Mama?«

»Aber Feechen, um Gottstausendwillen, wie kommste da drauf?«

»Papa sagte heute zu Mutti, wie sie so klagte, weil sie immer krank und unnütz wäre: »Du bist doch mein dümmstes Frauenzimmerchen auf der ganzen Welt!«

»Herrjeh, na – ja – das is doch 'n Unterschied Feechen, merkste das denn nich? Der Schreck is mir in alle Glieder gefahren, daß ich sowas hätt meinen können. Nee, Gott sei Dank, ich mein de Jule. –«

»Atchö Johann, ich muß nun fort.«

»Atje Kerlchen, komm nich unter'n Leierkasten.«

Kerlchen klingelte an Schuster Berg's Ladenthür. »Nee, der Hermann hat noch zu arbeiten,« rief ihr die Base entgegen, die den Hausstand führte, »Gottlob, der lungert nich so rum, wie du.«

»Ich lungere gar nicht, ich soll spazieren gehn, hat Onkel Doktor gesagt, weil ich so schnell wachse.«

»Na ja, der neumodsche Doktor! ich geh bei'n »Schäferkarl,« un der das sagt von so kleine Kinners, wachsen is gut, un vor de Wachsknoten muß mer sich ins Bett legen un de Glieders hübsch ausrenken und auf die Stellen, wo's weh thut, warmen Pferdemist drauf legen.«

»Danke schön.«

»Nicht Ursach!«

»Un wenn Hermann fertig is, soll er mich holen.«

Kerlchen schlenderte weiter. Am Fenster einer weißleuchtenden, neuen Villa, welche in einem wohlgepflegten Garten lag, saß eine Dame in Trauer. Sie nickte dem Kerlchen zu, wieder und wieder, und Kerlchen nickte auch, besann sich ein Weilchen und lief dann rasch über die Straße in den Garten und in das Haus hinein.

»Endlich,« sagte Frau Ellen von Senden, »endlich kommst du einmal wieder zu mir.«

»Ich hab immer so viel zu thun. Is dein Mann hier, Frau Baronin?«

»Nein, er ist fortgeritten.«

»Oh, das ist prachtvoll! Ich kann ihn gar nicht leiden, deinen Mann, Frau Baronin!«

»Das mußt du nicht sagen, Kerlchen, das thut ja weh!«

»Ach, thut dich das weh? Magst du ihm denn leiden?«

»Aber gewiß, Kerlchen, sehr!«

»Wunnert mich! Wunnert mich stark! Er is doch immer von dich fort, un kein bißchen nett mit dir!«

»Wollen wir nicht von etwas anderem reden,« fragte Frau von Senden, und schmiegte sich eng an das Kind, »erzähl' mir doch von deinem lieben Zuhause, was du treibst und thust, und was in unserm Städtchen neues passiert ist, – ich komme so wenig fort.«

»Ach ne! Ich möcht nun viel lieber von dir reden. Hier is so gemütlich, warum sitzt dein Baron nich bei dir? Papa und Mutti sitzen immer so beisammen, und er legt den Arm um sie, un ich muschel mich denn so dazwischen.«

Frau von Senden's Augen wanderten zu dem Ölbild, das ein kleines Mädchen von vielleicht einem Jahr vorstellte, ein süßes Lockenköpfchen mit tiefblanen Augen und einem erstaunt geöffneten Kirschenmündchen.

»Dagmar ist tot,« sagte die Baronin leise.

»Warum bittst du den lieben Gott nich um ein neues Kind? Oder kaufst dir'n anderes? Der liebe Gott kann sich nich um jeden Quark kümmern, sagt Papa. Un Kinder sin nich teuer, Papa sagt, wie er mich gekauft hat, hat er noch was »auf zu« bekommen.«

»Ach Kerlchen, ich muß immer an meinen toten Liebling denken. Weißt du noch, wie engelsüß Dagmar war, und wie sie mit den weichen Händchen uns streichelte – und wie sie jauchzte, wenn du kamst? O mein Gott, mein Gott – –!«

»Sieh, nun weinste wieder,« sagte Kerlchen traurig. »Mußt du doch nicht thun! Wenn du immerlos heulst, kann Dagmar nicht schlafen im Gräbchen, dann muß sie deine Thränen sammeln, und dann muß sie das schwere Krüglein schleppen. Steht alles in mein Bilderbuch.«

»Kerlchen, klein liebes Kerlchen, ich hör dir so gern zu, erzähl nur weiter, ich will nicht mehr weinen.«

»Na denn man los! Un du mußt das schwarze Kleid ausziehen, un ein schönes weißes Kleid anziehen, denn dadrin hat dich dein Baron lieb.«

»Kerlchen, woher weißt du das?«

»Das hat Johann mir gesagt, der weiß alles! Und er sagt auch, du mußt aufmucken, und muß dir nich allens gefalln lassen, un dich keine Ohrfeigen geben lassen wie in die Bibel, aber spucken und trampsen, un Zunge naus blöken solls du auch nich, das wär unanständ'ch.«

»Weiter, weiter, Kerlchen!«

»Tressiert es dich? Na, – und du wärst en himmlischer Engel, aber dein Baron brauchte ne richtige Eva, und du müßtest immer bei dein Mann sein, un ihn nich immerlos fortlassen, und du müßtest en Landgraf werden, aber das hab' ich nich richtig verstanden, un – un – in den Leviten möchtest du lesen, un – un – nich immer Pudding möcht'st du kochen, – auch mal Erbsen und Speck!«

»Mein einziges Kerlchen! Weißt du nicht einen großen Wunsch von deinem alten Johann? Den möcht' ich ihm erfüllen! Und du, mein Kerlchen, du mußt jeden Tag zu mir kommen und mir erzählen, o ich lerne so viel von dir!«

»Is ja zu komisch! Können große, verwachsene Frauenzimmer noch von kleine Kinners lernen? Denn schaff dich man selbst eins an, weißt du, jeden Tag kann ich nich kommen, es ist ziemlich langstielig bei großen Leuten, aber wenn du ein kleines Kind hast, komme ich gern, – du kannst mirs ja sagen lassen. Ja? Atchö, Frau Baronin. Gott, was siehst du mit einmal süß aus! Komm, ich geb dich schnell 'n Kuß! Nee, du nich, du mußt still halten, so – mehr wie einen giebt's nich. Atchö! Warum bis du so verknücht?«

»Kerlchen – ich zieh jetzt ein weißes Kleid an – un ich dank dir tausend – tausendmal!

»Oh, wofür?«

 

Unten vor dem Hause wartete schon Hermann Berg. Er war ein schlanker Junge von vierzehn Jahren, mit dunklem Lockenkopf, braunen Augen und blasser Gesichtsfarbe; man sah es den Augen an, daß sie viel in Büchern lasen und daß sie noch nicht viel Lustiges im Leben gesehen hatten. Die dunkeln Augenbrauen über der fein gemeißelten Nase waren zusammengewachsen und gaben dem schönen Knabengesicht ein düsteres Aussehen.

Die Kinder schüttelten sich beide Hände.

»Wohin gehen wir?«

»Nach dem Forsthause.«

»Ist's nicht zu weit, Kerlchen?«

»I wo doch! Wir können ja auch rennen.«

»Dazu ist's zu heiß!«

»Mußt nich immer widersprechen, Hermann, oder willste 'ne unglückliche Ehe sein? Komm man zu!«

Es war zuerst ein schattenloser Weg, den die Kinder wanderten, aber Kerlchen's Eulenspiegelnatur ließ sie nur den dunklen Wald vor sich sehen, der ihnen bald Kühlung spenden würde, und auf dem Rückweg, da würde die Sonne schon untergegangen sein.

»Warum hast du Minna nicht mitgebracht, Hermann?«

»Sie wollte nicht.«

»Altes Greul!«

»Ach Kerlchen, sag doch nicht so was!«

»Doch, Minna ist ein altes, ekliges, gelbes, grünes, bikliges, bakliges, bunkriges, bankriges, pilliges, pelliges Scheusal.«

»O Kerlchen, was für Wörter! Die versteht kein Mensch!«

»Doch, ich versteh sie! Wenn ich bös bin, find' ich keine alten Wörters, un denn mach ich mir neue. Minna is en Hackelschlurz.«

»Was ist denn das?«

»Weiß'ch nich! Was Böses!«

»Kerlchen, du müßtest mal die Minna wieder einladen, ich hab es so gern, wenn sie bei Euch ist, sie lernt so viel Gutes von deiner Mama und – auch von dir.«

»Ja, das thut sie woll! Abers Dorette mag ihr nich, und sagt es denn Mama, es wär kein Umgang für mich. Minna steht immer vor'm Spiegel und das soll man nich, man wird sonst zu affig. Aber du mußt nich so'n bös Gesicht machen, ich kann ihr ja gern mal einladen.«

»Ich dank dir, Kerlchen! Minna ist nicht böse im Herzen, aber sie ist zu gern vergnügt, und dann geht sie zu Hubers in die Steinstraße, und das sind wilde Mädchen und Jungens, ich kenn' sie ja, sie gehn in meine Klasse und sind die Schlechtesten darin. Und ich will nicht, daß Minna dahin geht.«

»Willst du die Minna immer noch heiraten, Hermann?«

»Natürlich, wen denn sonst?«

»Will sie auch?«

»Noch nicht, – es hat aber auch noch Zeit, sie ist erst sechzehn, ein Jahr älter als ich.« »Mama ist acht Jahr jünger wie Papa, das paßt sehr gut, sagt Mutti, und ich bin acht Jahr jünger als du, Hermann – –«

Aber Hermann verstand diese zarte Mahnung nicht.

»Komm rasch, Kerlchen, da ist der Wald, die Hitze ist kaum zu ertragen, wir wollen uns dann schön ausruhen, und nicht erst zum Forsthaus gehen.«

»Schön, Hermann, ich widersprech nie!«

Hermann Berg sah lächelnd auf seine Begleiterin nieder, und sie guckte ihn an, und dann lachten sie beide.

»Ich hab dich lieb, Hermann!«

»Ich dich auch, Kerlchen!«

Sie nahmen sich bei der Hand und schritten rascher aus. »Nun kommt noch der Graben, Kerlchen, hoffentlich ist kein Wasser drin, es ist ja so trockenes Wetter, da klettern wir drüber und im Walde suchen wir Heidelbeeren.«

»Hörtest du nichts, Hermann?«

»Was denn?«

»Es klang, als ob wer rief.«

Hermann schüttelte den Kopf, aber dann horchte er auf, und war mit einem Satz über den Grabenrand.

»Kerlchen, um Gotteswillen komm her!«

Kerlchen kletterte nach und da kniete es auch schon neben einem Manne, der mit dem Gesicht nach unten im Graben lag.

»Was machst du denn hier im Graben, Herr Baron, bist du hingefallen?«

»Helft mir mal, Kinder – o mein Fuß – habt ihr Ajax nicht gesehen? Seid ihr allein? Oh – verdammt! die Schmerzen! Gieb mir mal die Hand, großer Junge; ich will versuchen, mich herumzudrehen. Oh – zum Teufel, paß auf, mein Fuß! Seid ihr dem Pferd nicht begegnet?«

»Nein, Herr Baron!«

»Dann ist's nach der andern Seite zu gerannt! – Himmel noch mal, der Schmerz im Fuß! Und kein Mensch geht vorbei, es ist zum Rasendwerden! Du mußt mir Hilfe holen, Junge – aus der Stadt – aber erst – so – versuchs mal, mich weiter rum zu bringen, ahh – Schockschwernot – verdammter Bengel, paß auf – da kann einer ja krepieren bei dem Schmerz –«

»Och nee, so schlimm wird es nich,« tröstete Kerlchen. »Papa sagte neulich, wie der betrunkene Maurer vom Gerüst fiel: »Wenn einer so schimpft, dann gehts noch nich ans Sterben.«

»Halt den Mund!«

»Och nee, der hat keinen Stiel. Aber das Loch auf der Stirn will ich dir abwaschen, und Hermann läuft derweil zu deine Ellen und holt die. – Atchö Hermann, mach fix zu!«

»Bleib da, Felicitas, du willst doch nicht auch fort?«

»I wo Herr Baron, ich hol dich nur Wasser, sieh, da is so 'ne kleine Quelle, wo ich sonst immer draus getrunken hab, o weh, nu hab ich mein Taschentuch vergessen, gieb mich mal deins, Herr Baron. Kannste nich? Ach du liebe Zeit, ich komme da auch nich hin. Du liegst ja drauf – na, denn help dat nich – dreh dir mal um, Herr Baron, ach so, das kannst du auch nich – na denn mach die Augen mal fest zu, ich zieh mir schnell mein weißes Röckchen aus, – so – so, eins zwei drei – Himmel, siehst du blaß aus, – thut es so sehr weh, wart – ich komme gleich, – muß es nur zusammenlegen – so – so –«

Das kühle, nasse Bündel lag auf der blutenden Stirn, und der blasse Mann atmete tief.

»Thut wohl! Ich dank dir! Aber der Fuß – wird gebrochen sein.«

»Soll ich dir mal 'n Stiebel ausziehn?«

»Untersteh dich! Rühr dich nicht vom Fleck, das fehlte noch! Sie müssen ja bald kommen und Hilfe bringen.«

»Na, es kann noch dauern. Damens ziehen sich immer lange an, un deine Ellen wollt' sich ja en weißes Kleid anziehen.«

»Ein weißes Kleid? Schwätz keinen Unsinn!«

»Thu ich auch nich! Weil du »weiß« gut leiden magst, und ihr wieder lieb haben sollst.«

»Wer sagt das?«

»Johann! – Und nu will ich dich wieder 'n Umschlag machen. Siehst du, nu is das Blut beinahe fort, aber es sieht schlimm aus, du bist garnich schön so. – Schad' nich, Papa sagt immer die Schönheit wär dein Verderb, und du bist nix, und hast nix, und kannst nix, als en schöner Mann. – Warum jaulst du so? Thuts arg weh? Nur immer tapfer sein, sagt Papa!«

»Wenn du nur aufhören wollt'st mit reden, es ist mir egal, was dein Papa sagt!«

»Och nee, wenn man so still liegt, wird's ja immer döller mit die Schmerzen. Sieh mal, Herr Baron, vielleicht hat dein Ellen jetzt inzwischen ein kleines Kind bekommen, sie hat es sich so gewünscht, un du mußt es dann lieb haben. Pfui Deubel, du hast ja dein klein Dagmar garnich lieb gehabt, ich find' das schrecklich, un Mutti auch, un Johann auch, un Dorette auch, un die ganze Stadt auch. Bloß Papa giebt dich Recht.«

»So? Thut er das?«

»Ja woll! Papa sagt, es wär himmelschreiend, daß du für dein' Schlösser un Burgen un dein' Namen keinen Jung hätt'st. – Na wart nur – stöhn doch nich so – ich werd' dir wieder 'n Umschlag machen. Siehste, nu is dein Gesicht schon wieder besser, eigentlich kann ich dir ja garnich leiden, aber du siehst jetz' ganz anners aus, als sonst, ich hab dich schon wirklich ein bißchen gern.«

»So? – Sag mal, Kerlchen, was sagt dein Papa denn noch

»Och ne Masse! Er meint, deine Ellen hätte so viel nette Männer kriegen können, un Papa hätte auch zu ihren Füßen gelegen, (vielleicht war Papa betrunken wie der Maurer), und Mama sagt, deine Ellen hätte so viel Geld für dich bezahlt, wie sie dich kaufte, aber in ganz Schwarzhausen möchte dich niemand geschenkt haben.«

»Zum Teufel, Felicitas, du bist das reine Fegefeuer!«

»Was is'n das? Oh Herr Baron, sieh doch sieh, dort kommt 'n Wagen ankariolt, unsern Doktor sein Wagen, ich kenn die Pferde, – famos – famos! Hierher, hierher, hier hängt er!!!«

Noch nicht eine Viertelstunde war vergangen, da lag der Baron schon sorglich gebettet im Wagen, sein Kopf ruhte an Frau Ellens Schulter, die trotz ihrer unsäglichen Aufregung ein ganz verklärtes Gesicht machte.

Der Doktor stieg mit ein, und das Kerlchen wurde auf den Bock gehoben, Hermann und der Schuster Berg, die mit hergefahren waren und geholfen hatten, gingen zu Fuß zur Stadt zurück.

»Von der Hochzeitstafel haben wir ihn fortgeholt,« sagte Frau Ellen drinnen im Wagen zu ihrem Gatten, »wir sind ihm großen Dank schuldig, dem Doktor.«

»Der Verwundete streckte die Hand aus. »Ihnen und unserer kleinen Fee,« sagte er leise, sie – macht – Wunderkuren.«

»Schon wieder?« lachte der Doktor. »Aber nun Ruhe, Ruhe!« – – »Der Blutverlust und die Schmerzen haben ihn erschöpft,« wandte er sich an Frau Ellen, die sich bestürzt zu dem todblassen Gatten neigte, welchen eine Ohnmacht umfangen hielt.

»Der Wagen rüttelt auch unerträglich, er stammt noch vom alten Medizinalrat, aber es muß für solche Zwecke wohl ein neuer gebaut werden. Die Wege und Stege in und um Schwarzhausen sind ja auch fürchterlich, und dieser ist der schlimmste, denn der ist neulich »gebessert« worden.«

Ellen antwortete nicht. Der Baron hatte die Augen geöffnet und sah seine Gattin an, und in diesem Blick lag etwas, was das Herz der jungen Frau erbeben ließ in jubelnder Freude.

»Rumple du nur zu, alter Kasten,« dachte der Doktor, »der komplizierte Knöchelbruch ist auch ohne dich da, und innerhalb deiner zwei Wände, deiner zugigen Glasfenster und deines ruppig-rissigen Lederdaches scheint hier ein neues Glück aufzublühen. – Aber ich wollt' doch, ich säße erst wieder bei meiner Käthe.«

 

Der Oberstleutnant machte ein sonderbares Gesicht, als ihm sein Kerlchen von seinem Samariterdienst beim Baron von Senden-Kahla-Rundstedt berichtete, und in köstlicher Unbefangenheit ihre Gespräche wiedergab. »Na, entweder, er wird ein neuer Mensch, oder ich krieg' ne Forderung« sagte der Papa. »Kerlchen, dich muß man nächstens anbinden.«

Vorläufig lief Kerlchen aber erst einmal fort, es hatte noch etwas ganz Wichtiges zu besorgen. – Der Oberkellner vom Hôtel zur Thüringer Edeltanne machte große Augen, als das Kerlchen am Abend plötzlich vor ihm stand und energisch sagte: »Ich möchte den Doktor oder Fräulein Käthe sprechen, sie sind doch hier?«

»Schang« lachte, und die anderen Kellner, und der Wirt auch.

»Der Herr Doktor ist schon lange nach Hause, und Fräulein Käthe war garnicht hier,« sagte »Schang«.

»War denn hier nich Hochzeit?«

»Ja, die war schon, aber dazu waren nur Herr und Frau Doktor Karsten hier, und kein Fräulein Käthe.«

Der billige Witz wurde dröhnend belacht, und als das alberne Lachen nicht aufhören wollte, streckte Kerlchen allen die Zunge heraus und wurde vom Wirt an die frische Luft befördert.

»Du mußt in die Wohnung vom Doktor gehen, wenn du 'ne Bestellung hast,« rief man ihm noch nach, »er wird sich sehr freuen«.

Oh, das wußte das Kerlchen selbst, daß sich Doktors sehr freuen würden, wenn es käme, und nicht lange, so klingelte es am Doktorhause mit unermüdlicher Ausdauer. Endlich, – endlich kam der Doktor, aber gar nicht hochzeitlich, mit bitterbösem Gesicht.

»Weißt du Fee,« sagte er gleich zornig, »ich bin nicht zu sprechen, ich bin verreist und wenn jemand das Genick gebrochen hat, dann sag ihm nur, er sollte sich von dir kalte Umschläge machen lassen.«

Aber schon stand Frau Käthe neben Kerlchen und legte den Arm um die Schulter der Kleinen.

»Nicht so hart sein,« bat die junge Frau, »sieh was unser Kerlchen für ein erschrockenes Gesicht macht. Ist jemand krank bei Euch, Kleines?«

»Och ne! Und ich bin auch garnicht erschrocken, blos bös bin ich auf Euch, weil Ihr nicht aufmachen kommt. Und ich wollt Euch bloß bitten, Ihr möchtet mir für meinen Papa Nachtisch geben, Krachmandeln und Traubrosinen un 'n Büschen Eis, wenn's geht. Er ißt das so gern, und es thut ihn so leid, daß er nich auf die Hochzeit war.«

»Himmelmohren – – – –«

»Pscht!« Ein weiches Händchen legte sich auf des Doktors Mund, Frau Käthe eilte davon, und in kurzer Zeit hielt Kerlchen zwei Tüten in der Hand und ein mächtiges Stück Torte, auf dem ein Amor balancierte. Ihre Augen leuchteten vor Freude und Dankbarkeit, aber sprechen konnte sie nicht, denn der Doktor nahm das Kerlchen auf den Arm und setzte es vor die Hausthür, dann fiel diese dröhnend ins Schloß.

»Hier, Papa,« sagte Kerlchen strahlend und legte seine Schätze auf den Tisch des Hauses nieder, »sei ja nich bös, daß ich so spät komme, ich wollt' dir zu gern Nachtisch von der Hochzeit bringen, aber sie war schon vorbei, und da mußt ich erst zu Doktors.«

»Kerrrlchen!!!«

»Und der Doktor war nich sehr nett, aber Fräulein Käthe war nett, aber grüßen lassen sie euch nich, un der Doktor sagte, wenn ihr das Genick brächt, dann sollt ich euch kalte Umschläge machen.«


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