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* * *

»Taufen ist wunderschön,« pflegte immer mein Vater zu sagen, – wenn's Einen nicht selbst betrifft! Aber es war nicht so schlimm gemeint, er war ganz glücklich über sein »Kerlchen«, und die Taufe war ganz prächtig.

Freilich, Muttchen war nicht dabei, und sehr schwach noch dazu, aber die Familientradition verbot das Hinausschieben der heiligen Handlung über den fünften Tag hinaus. Der Vater hielt mich selbst über das Taufbecken in seiner blitzenden Uniform, und meine kleinwinzige Hand lag an dem eisernen Kreuz. Der prächtige Pfarrer Heinrici sprach so wunderschön, als käme jedes Wort aus seinem innersten Herzen heraus, und so war es auch. Vater hatte etwas Angst vor Taufreden, denn als Bruder Erich in die Christenheit aufgenommen wurde, hatte der Prediger in Berlin angefangen: »Wir stehen hier an tieftrauriger Stelle.« Auch die Fortsetzung der Rede war sehr graulich gewesen, bis es endlich herausgekommen war, daß Erich auf derselben Stelle getauft wurde, wo vor zehn Jahren der Sarg der früheren Hausbesitzerin gestanden hatte, – was meinen Vater nicht weiter aufregte, aber bei meinem Muttchen viele Thränen hervorrief. Pastor Heinrici stand nicht an »tieftrauriger Stelle«, er sprach kräftig, warm und feurig, wie ein rechter und echter Jünger des Herrn, und als er sagte, wie hoch erfreulich die Geburt eines Mädelchens sei, das aus solchem Elternhause stammte und von solchen Eltern erzogen würde, und dabei betonte, daß unser liebes Deutschland nicht nur große Männer, sondern auch edle Frauen brauche, da zog Kerlchen das Näschen kraus, denn ein heißer Tropfen war ihm darauf gefallen, und ein zweiter lag noch auf dem eisernen Kreuz. Der auf dem Näschen wurde von Vaters großem, blondem Schnurrbart fortgewischt, aber der auf dem eisernen Kreuz leuchtete während der ganzen Tauffeier wie ein Diamant. Aus meines Vaters Armen wurde ich in die des Fürsten gelegt, aber das nahm ich übel und schrie, und Herr Pastor mußte schleunigst zum Schlusse eilen. Selbst der Bestechungsversuch des Fürsten in Gestalt eines wundervollen Diamantkreuzes verfehlte seinen Zweck, Kerlchen schrie weiter und wurde hinausgebracht. So kam ich um die Bekanntschaft meiner anderen Pathen und »Freßgevattern«. Großtante Hermine freilich kam an mein Himmelbettchen und streichelte liebevoll mit ihren weichen, runzeligen Händen mein Gesicht, aber die »Hofdame«, Tante Emerenzia vergab mir nie, daß ich in des »Fürsten Armen gebrüllt« hatte. Sie hielt mich unwürdig, jemals Hofluft zu atmen und betrachtete mich als unechte »Schlieden«, und dies war wohl auch der Grund, weshalb sie mir eine unechte Brosche als Taufgeschenk verehrte. Gegen Abend, als die Gäste sich verabschiedeten, huschte ein schlankes Mädchen in mein Kinderstübchen, und Ellen von Lorenz' schönes Gesicht beugte sich über mich, ihr weicher Mund küßte mich, und liebe, kosende Worte flüsterte er: »Du süßes Kerlchen, ich wünschte, du würdest so glücklich, wie ich es bin.« Dann eilte sie wieder fort, denn der Bräutigam wartete ungeduldig, er hatte nicht mitkommen wollen zu mir, »Wiegenatmosphäre« war ihm greulich. – Ich war auch froh, als ich endlich allein war, denn wenn man erst fünf Tage alt ist, regt solch eine Feier furchtbar auf. Neben mir im Bettchen lag mein Taufschein, vom Pfarrer eigenhändig hingelegt, und ich las zu meinem großen Erstaunen, daß ich Ernestine, Christiane, Fritza, Felicitas hieß, aber mein Vater hatte mir eindringlich »Kerlchen« ins Ohr geraunt, und so beschloß ich, die übrigen Namen außer Acht zu lassen. Zuletzt kam noch mein Bruder Erich zu mir – und dann weiß ich nichts mehr – – – – –

Am andern Morgen war ich sehr blaß, aber ruhig und gefaßt, fest entschlossen, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen – und nun erfuhr ich von meinem Vater, daß ich am vergangenen Abend und die ganze Nacht hindurch »knüll« gewesen war, »voll wie eine Haubitze«, sagte Papa. – – – Erich hatte mir heimlicherweise Sekt eingetrichtert, – die Veuve Cliqot war als fünfte Taufpatin erschienen. – – – – –

 

Kleine Städte verändern sich in vier oder fünf Jahren nicht viel, Schwarzhausen garnicht, ein paar Häuser sind frisch angestrichen, eine neue Villa gebaut worden, viele Leute sind gestorben, einige haben sich verheiratet, und niemand sich verlobt. Aber eine große Errungenschaft hat Schwarzhausen aufzuweisen, einen neuen Spielplatz für das Kleinvolk. (Das heißt, einen alten hat es nie besessen). An diesem Spielplatz ist das »Kerlchen« schuld. »Woran wäre es nicht schuld,« sagt die Kanzleirätin. Es spielte früher immer im elterlichen Garten umher, der sich hinter dem Hause ein weites Stück hinunter erstreckte bis an das Flüßchen. Und als es laufen konnte, besah es sich sofort das unterste Ende des Gartens, wo es so schöne Sträucher gab, mit leuchtend roten Herzchen dran. Diese Herzchen schmeckten sehr würzig, aber zu viel genossen brannten sie fürchterlich, es wurde ihm ganz übel und schwindlig und schwarz vor den Augen, und dann lag es im Bett, und bekam warme Milch und warmes Öl, und mußte den Göttern opfern – – schrecklich! Nachdem man dann nach langen, qualvollen Wochen wieder gesund geworden war, wollte man doch sehen, wo die schönen Sträucher mit dem Herzchen hingekommen waren, die der Papa so unbarmherzig hatte ausroden lassen. Bei dieser Gelegenheit hatte man das kleine Flüßchen entdeckt, das so silberhell sprudelte, Kerlchen konnte sich nicht satt sehen an den kleinen Stromschnellen, die es bildete, und bog sich in der Aufregung viel, viel zu weit über das kleine graue Mäuerchen.

Oh, daß das Wasser so eiskalt ist, hatte Kerlchen nie vorher gewußt. In dem blauweißen Bassin daheim im Baderaum war es so warm und schmiegte sich so weich an die Glieder; das Wasser im Flüßchen war ganz eisig, böse und wild und unartig, – Kerlchen wurde halbtot herausgezogen. Und so kam's, daß in Schwarzhausen ein schöner, schattiger Spielplatz eingerichtet wurde, unter blühenden Linden, denn alle die Gärtchen, die an dem kleinen Flusse lagen, waren für gefährlich erklärt worden. Schöner, weicher, weißer Sand wurde in riesigen Fuhren abgeladen und da »buddelte« nun die kleine Gesellschaft einträchtig oder nicht, »wie's trefft«. Da war des Amtsrichters schüchternes Gretchen, da war der stämmige Kalkulatorsbub, und der gewaltthätige Enkel der Kanzleirätin, Emil Dingelmann junior, mit seiner ewig heulenden Schwester Susanne, von den Kindern schlechtweg »Heulsuse« genannt, da waren fünf Kinder der Waschfrau und Gattin des Maurers Biehler, und endlich ein zarter, ganz verwachsener Knabe von vier Jahren, Friedel Mauritius und – »das Kerlchen«. Zur Bewachung der Kleinen waren nicht viel Personen da, nur Amtsrichters Mine, und Majors Jule, die nachmittags aber von Dorette abgelöst wurde, weil die Dorette in ewiger Angst schwebte, die fluddrige Jule könnte nicht genug Obacht auf Kerlchen geben.

»Un dorbi brukt se gor kein Schutz, dat lüttche Gör«, sagte die schleswigholsteinsche Jule zur Thüringer Mine, – »achchott, wat is es vor'n Selbständiges! Bewach dir man selber«, hett se seggt to mi, un wahr is, sie beschützt sich von alleine vor die größten Jungs.« Jule bemühte sich krampfhaft hochdeutsch zu sprechen, denn Mine sah sie bei dem kleinsten plattdeutschen Wort völlig verständnislos an, was nicht gerade die Unterhaltung förderte. Auch jetzt hatte Mine nur die Hälfte verstanden.

»Ja, beschützen dhut se sich alleine,« sagte sie mit nicht gerade freundlichen Blick auf Kerlchen, »aber ich wollt, se hätt niemanden zum Schitzen, daß se emol ihre richtigen »Wimmse« 'naufgebimmst kriechte. Mer het je nich Hände und Agen und Fieße genug un satt, um uff dän Quirlefitsch uffzebassen.«

»Felicitas is nich eigentlich unartch«, nahm Jule kopfschüttelnd das Wort, »ik hew oft mit'n Herrn Oberschtleitnant driber snakt un em dat vörstellt, äwer he – aber er – segg to mi, das Kerlchen könnt da nix für, des wär »Temperment«. Ik weet ni, wat Temperment is, äwer ik glöw schon, dat Felicitas an so'n Krankheit leid't«. Mina zuckte ungläubig die Achseln.

»Nee ne, Fräulein Mine, wohr is dat, un Se möt mi dat glöwen. Denken Sie mal, wie dat geiht mit de Namens. »Felicitas« is se döfft, un »Kerlchen« ward se nennt, und viele sagen »Fee!« Wenn nun die Leute im Hause, von denen sie weiß, daß sie ihr lieb ham, ehr »Felicitas« ropen, denn hört se da ni up, un wenn Leut', die ihr nich leiden mögen »Kerlchen« to ehr seggen, denn hört se da ok ni up, un die »Fee« paßt doch vörlöpi ok ni. Dat's wohren Kreuz mit de Deern.«

»Kerlchen! Feliztas! Kerlchen! Feliztas!« rief Jule im selben Augenblick mit entsetzensvoller Stimme. »Willst glik mal lotlaten, du Strömer?«

Aber Kerlchen hörte nicht. Es kniete auf dem großen Bengel »Dingelmann Sohn«, und wenn der Junge, der mit seiner doppelten Anzahl Jahre sicher Meister über das fünfjährige Mädel war, sich aufrichten wollte, so purzelte er immer wieder auf den Rücken, denn wie eine Katze hielt sich das kleine Ding fest, und schlug blindlings mit den Fäustchen auf ihn ein. Neben ihnen im Sand lag noch so ein Häuschen Unglück, der kleine Friedel Mauritius. Sein armes verwachsenes Körperchen suchte vergeblich in die Höhe zu kommen, den Mund hatte er voll Sand, und halb erstickt klangen seine Wehrufe. Jule hob ihn auf, und setzte ihn in dem Stühlchen, das gleichfalls umgefallen war, wieder zurecht. Jetzt wurde auch hastig die Thüre eines kleinen grauen Häuschens, das dicht an dem Spielplatz lag, aufgeklinkt, und eine schlanke Frauengestalt kam eilig herbeigelaufen. Sie umschlang Friedel mit beiden Armen, dann zog sie ihr weißes Tuch heraus und versuchte damit, den Mund des Knaben vom Sande zu befreien.

»Wie war das nur möglich?« fragte sie mit zuckenden Lippen, »zwei so große Mädchen sitzen dabei, und keine merkt etwas?«

»Mich hat keiner geheißen, uff den Kröpel zu passen«, rief Mina frech, »Fräulein sollten sich man selbst dazu setzen.«

»Ich mußte vom Fenster fort, Vater bekam seinen Anfall«, sagte leise das Mädchen, preßte aber gleich heftig die Lippen zusammen, als sei es unwürdig, sich vor diesen Leuten zu verteidigen. Jule hatte inzwischen Kerlchen von dem »Dingelmann Sohn« losgerissen, wie zwei Kampfhähne standen sich die beiden gegenüber, ein Anblick zum Totlachen: der große Bengel und das zierliche, junge Geschöpf.

»Feliztas hat den Friedel umgeworfen«, rief Emil Dingelmann, »und wie er schrie, hat sie ihm den Mund mit Sand verstopft.«

»Ja, ja so ist es,« heulte seine Schwester Susanne, die, obwohl unversehrt, doch laut draus los schluchzte. Kerlchen wollte wieder auf Bruder und Schwester losgehen, aber Jule hielt es fest.

»Nicht wahr! Ekliger Dingelmann lügt!« schrie Kerlchen außer sich, »lügt immer, pfui Deibel! Ich hatt' ßönen, ßönen Sand, war aber kein Sand, war Sßucker. Un, un – ich gabte Friedel von meinem Sßucker, weil er ihm haben wolltete, und weil olle, eklige Mina nich hörte, un wie er sich von den ßönen Sßucker verßluckte, da kriecht ich Angst, und wollt ihm wegmachen, aber da lachte der Dingelmann un gabte dem Stuhl 'n Schubs, und da flogte Friedel runter, und ich verhaute dem Dingelmann. Sawoll!«

Kerlchen zitterte vor Aufregung und dann stellte es sich vor das Fräulein, und fragte eindringlich: »Glaubste mich?«

Fräulein Käthe Mauritius sah lächelnd in das heiße, rote, zornige Kindergesicht.

»Gewiß glaub ich dir, Kerlchen lügt ja nicht,« sagte sie einfach, nahm Friedel auf den rechten Arm, zog das Stühlchen hinter sich her, und ging, ohne sich noch einmal nach dem Dienstmädchen umzusehen, ins Haus zurück.

»Du bist gut,« rief Kerlchen ihr noch nach, und dann gleich darauf zu dem jetzt wieder frech lachenden Jungen gewendet, der hinter dem Fräulein eine lange Nase machte:

»Un du bist'n Lump, der Deibel soll dich holen!« Eine Hand fiel hart auf ihren Mund und wie betäubt sah Kerlchen in die Höhe. Eine große, zornige Frau stand neben ihr, die greuliche Kanzleirätin, die kein Mensch in der ganzen Stadt leiden konnte, am allerwenigsten aber das Kerlchen, das beinahe täglich im Kampf mit Großmutter und Enkel lag.

»Sollst mich nicht anrühren!« schrie Kerlchen, weiß bis in die Lippen.

»Du wirscht' mer's verbieten, du abscheiliches Mädchen?« rief die Kanzleirätin. »Aber heite kommste nich so weg, diesmal soll der Herr Oberschtleitnant sehen, was er sich vor ä Frichtchen großzieht; verklagen woll'n mer dich, wechen Sachbeschäd'chung.«

Ob sie mit der »Sache« ihres Enkels Joppenkragen meinte, der heruntergerissen war, oder seine Nase, welche jetzt an zu bluten fing, auf welchen Umstand seine Schwester heulend aufmerksam machte, blieb unentschieden, die Kanzleirätin nahm Emil und Susanne bei der Hand und verließ den Kampfplatz, nicht ohne vorher die Faust nach Kerlchen geschüttelt zu haben, worauf dieses die Zunge heraus streckte. »Gott im hogen Himmel,« rief Jule und ließ ihre Arme ganz steuerlos zu beiden Seiten »heruntersacken«, »Feliztas, du bische woll rein ut de Tüt? So'n Drikäs', un slägt sich hier mit de groten Jungs, un bringt de Beamtenfruens ut Rand un Band! Un sonne Reden to maken! »Deibel holen!« Paßt sik dat för'n dörchläuchtigen Herrn Fürsten sin Patenkind? Wenn he di man nich holt, de Deubel. Äwer so'n Kram, darf eins ni spotten!«

Kerlchen hatte sich schon wieder auf den Sand gesetzt und baute weiter an einem Schloß für »Väterchen.«

»Mich holt er nich,« sagte es und strich die wirren Locken aus der Stirn, »ich bin ihm zu ruppig!« Mine und Jule lachten laut über diese edle Selbsterkenntnis, Kerlchen lachte nicht, und wußte auch nicht, daß es etwas Lächerliches gesprochen hatte, es dachte nur darüber nach, mit dem ernstesten Gesichtchen, daß die Kanzleirätin »geschlagen« hatte, was doch nur die Eltern thun dürften, und warum wohl Fräulein Käthe Mauritius so ein schönes, trauriges Gesicht hätte.

»Ech kann mich withend iber die Mauritiussen ärgern«, sagte Mine, und warf einen bösen Blick nach dem Parterrefenster, hinter dessen Scheiben der tief über eine Arbeit gesenkte, blonde Kopf sichtbar war. »Dhut se nich, als ob se was Besondersch wär? Na ja, was Besondersch is se auch, awwer ich mecht nich sein, so wie die. Enne Sinne un enne Schanne is es, wie se sich mit'n Doktor Karsten rumzieht, nunne schon sechs Jahre lang. Är nimmt se nich, ich kann's en nich verdenken, se hat sich ihm ja an'n Hals geworfen zeerscht, un hat'n immer geholt bei den kranken Vater, un einmal, da is er die ganze Nacht drinne gewesen, un sie hat'n Gaffee gegocht. Baßt sich das? Ne, das baßt sich nich! Se sagen jo, es wär damals ä besonderscht schlimmer Anfall von Herrn Hauptmann Mauritius gewesen, na – wärsch glaubt, wird selig, un wersch nich glaubt, kommt au in'n Himmel. Deshalb brauchte der Dokter nich de ganze Nacht drinne zu hucken, wo keine Mutter nich derbei is, un gebetet ham se wahrscheinlich nich zusammen.«

»Achchott«, entgegnete Jule, »un mich is dat Frölen immer as en Engel vörkamen, so rein un stolz!«

»Heren Se man weiter! Nanu hat sich der Doktor mit'r verloben wollen, aber da hat se'n weggeschickt, hier in Schwarzhausen glauben se alle, daß se's noch mit'n Andern gehalten hat, denn dazemal is en »Newö« von Herrn Hauptmann hier zu Besuch gewesen, un der hat immer mächt'g von seiner scheenen Gusine geschwärmt. Es war'n lust'ger Bruder, är is dann abgereist, un hat sich nich wieder blicken lassen. Un der is auch mal 'ne ganze Nacht mit'r in Hause gewesen, früh um finfe hat'n der Hausknecht von der »Edeltanne«, wo er gewohnt hat, 'nauskommen sehen. Das haben gute Freinde dem Doktor wieder erzählt, un da is er natirlich endgilt'ch abgeschnappt. Ne, ich seg immer, wies bei die Vornehmen zugeht – 's is 'ne Sinne un ne Schanne.«

»Dat's ni wahr,« rief Jule. Bei mein Herrschaft is das nich so, das is ein Lieb un ein Güte, un ein Rechschaffenheit. Äwer bi dat Frölen Mauritius stah ik jo nich in Lohn un Brod, un kenn ihr nich, wat schall ik dat also nich glöwen, wat se vun ehr seggen. Ne so wat! Dat's jo rein to dull!«

Mine zog Jule jetzt dicht zu sich heran und flüsterte ihr eifrig in die Ohren, niemand hatte auch vorher drauf geachtet, daß Kerlchen längst nicht mehr spielte, sondern eifrig zuhörte, und auch jetzt blieben die beiden Köpfe dicht zusammen und unbemerkt lief Kerlchen über den schmalen Damm, geradeswegs in das Haus von Fräulein Käthe Mauritius.

Das Fräulein blickte fragend von ihrer Arbeit auf, als sich die Thür öffnete, und das kleine Mädchen ohne weiteres herein kam.

»Wolltest du dich nach Friedel umschauen, Kerlchen? Es ist sehr lieb von dir.«

»Oh nein, – ich kann mir schon denken, daß es ihn gut geht, du bis a so nett mit ihn.«

»Was wolltest du dann?«

»Ich wollt 'ne Masse fragen. Oha, ich hab' so viel über dir gehört, Fräulein Maurißus!«

»Nun so frag! Komm setz dich zu mir, du darfst gewiß ein Weilchen bei mir sein. Mein kranker Vater schläft und Klein-Friedel auch, ich bin so allein.«

»Warum nimms nich den Doktor bei dich?« fragte Kerlchen rasch, »aber nu muß ich dich erst en Kuß geben, weil du süß un ßön bis.«

Blitzgeschwind kletterte das Dingelchen auf den Stuhl, küßte Fräulein Käthe stürmisch und zärtlich zugleich und gewahrte so nicht das tödliche Erschrecken, das seine letzten Worte hervorgerufen hatten.

»So!« sagte Kerlchen und wischte sich sehr energisch den Mund wieder ab, »küssen« is nich ßön, aber du bis ßön!«

»Fee, was – was sagtest du vorhin, von, – von dem Doktor?« fragte Fräulein Käthe beinahe tonlos.

»Bis du heiser, Fräulein Maurißus? Warum sprichst du so leise? Warum hast du dich an'n Hals worfen? War der Dokter Karssen in die Nacht mit dir? Warum has du nich gebetet mit ihm?«

Fräulein Käthe Mauritius hatte die Hände vor das Geficht geschlagen und weinte bitterlich. Es war, als hätte sie vollständig vergessen, daß ein kleines Menschenkind neben ihr saß und mit großen, erschrockenen Augen auf das Unverständliche blickte, was sich da zutrug; jahrelanges Leid löste sich in diesen Thränen.

»Bis du bald fertis?« fragte ein ungeduldig-weinerliches Stimmchen neben ihr. »Thut dir was weh?«

Das Schluchzen wurde leiser, und Fräulein Mauritius' Hand zog Kerlchen dicht zu sich heran. »Das Herz thut mir weh, kleines Kerlchen, kannst du das verstehen?«

»Nee, das kann ich nich. Mich thut blos der Bauch weh.«

Fräulein Käthe lächelte ganz unmerklich.

»Und weiter hast du keine Schmerzen, du Glückliches,« fragte sie, aber man sah, ihre Gedanken waren weit, weit fort von dem, was sie sagte.

»Un wenn ich denn so »jaule«, wie der Nero an der Kette, dann krieg ich Kamillenthee von Dorette, un wenn ich arg Bauchweh hab', mit Zucker, und wenn ich wenig hab', ohne Zucker, ich hab' aber immer arg.«

»Du Plauderkerlchen!« Ach, wer sich doch sein Leid auch so fortbringen könnte! Das würgt im Herzen und krampft im Halse – – –

»Muß 'n Finger 'neinstecken, biste gleich wieder gesund!«

Fräulein Käthe seufzte schmerzlich.

»Das geht nicht, kleines Feechen, das sitzt tiefer. Das geht ans Mark!«

»Kenn ich nich! Nee! Aber wenn ich ganzen und ganzen und ganzen krank bin, un nix mag, un nix will, un nix kann, un so'n verdeubeltes Gesich mach, wie du, Fräulein Maurißus, denn sag Papa: »Kerlchen! Tapferrrr! Nicht unterkriegen lassen, nicht unterkriegen lassen!«

 

Mit einem Jubelruf riß Fräulein Käthe das Kerlchen an ihr Herz.

»Das ist das rechte Wort!« rief sie. »Oh, dein Vater ist ein ganz herrlicher Mensch! Weißt du das, Fee?«

»Freilich weiß ich das! Der Beste und der Liebste und der Schönste ist Papa! Sagen alle Menßen! Aber du kanns mich nun gerne loßlassen, so doll küssen is mich nich angenehm, mußte dich abdewöhnen! Un nu adjö! Die Jule weiß nich, daß ich hier bin. Wird ßön ßimpfen!«

Fort war es!

Ja, Jule war »rain ut de Tüt!« Sie war nach ihrer Schilderung schon sechsunddreißig Mal den Marktplatz und die angrenzenden Straßen »längs« gelaufen, auch schon mal zu Hause gewesen, und von Dorette mit einem »siedenden Donnerwetter« wieder entlassen worden, »von wegen schlechten Aufpassens«. Nun empfing sie Kerlchen händeringend und scheltend, aber dies packte ruhig seine Holzformen ein, mit denen es im Sande gespielt, und als der unparlamentarische Wortschwall nicht enden wollte, warf es seinen Lockenkopf hochmütig zurück und sagte: »Du has Sßuld! Du has nich aufgepaßt! Sßimpf nich! Is demein!«

Und dann lief es nach Hause.

Am Nachmittag saß Dorette auf Julens Platz. Auch Amtsrichters Mine war da, aber Dorette bekümmerte sich nicht viel um sie, und da das sechsjährige Gretchen sehr schüchtern und unselbständig war, hielt es sich von Kerlchen fern. Es dachte auch noch mit Schaudern an das Ende des schrecklichen Sonntags, an dem Kerlchen das kleine Gretchen verleitet hatte, in den Pferdestall des Cirkus zu kriechen, der auf dem Marktplatz seine Zelte aufgeschlagen hatte. Den ganzen Nachmittag und Abend hatten sie in dem dämmrigen, stark duftenden Raume verbracht, und die entzückenden Pferdchen gestreichelt und gefüttert, und nicht eher hatten sie an die Außenwelt gedacht, bis eine laute Klingel von der Straße tönte und alles hinauslief, um zu sehen, was es gäbe. Und da klingelte gerade der alte Amtsdiener das Kerlchen aus. – Im Triumph waren damals die beiden Kinder nach Hause gebracht worden, aber während Gretchen mit Thränen, Küssen und Zucker empfangen wurde, lernte Kerlchen die Reitpeitsche kennen, – die von der ersten Garnitur mit dem rotseidenen Zwick am Ende. – – – – –

»Ich weiß nicht, was mit der Fee heute los is,« sagte Dorette zu sich selbst, es »horcht in die Wicken« un is so tinnide und sinnierig wien Kalendermacher. Es is en Kreuz, daß es kä ornlichen Umgang hat. Und wenn der Herr Oberschtleitnant hundertmal sagen, Fee brauchte kä Umgang, die machte scho ihre dummen Sträche alläne, – sei' Wort in Ehren – aber meine Mutter selig sagte immer: »Umgang bildet.« Fee, was guckst de so ins Blaue 'nein? Was fählt der? Biste hungrich? Na?«

»Nee! Ich muß blos so stark denken! Warum is de Himmel blau? Wo kommt die Farbe her? Dorette, warum ha'm die Pferde vier Beine un ich nur zwei? Warum müssen Kinder immer brav sein, un große Menßen nich?«

»Gott soll mich bewahren, Fee, was fragst du for Zeugs? Siehste, das kommt allens von her, daß de kei Umgang hast.«

»Dorette, – kommt von »kein Umgang« auch das her, daß die Sonne bei Tach scheintet un der Mond bei Nach? Warum is es nich umkehrt? Ich wollt, das wär umkehrt, denn wär das immer hell, denn sieh mal Dorette, am Tach is es doch son wie son hell, und da brauch man blos son klein Lich, wie der Mond, un bei Nach, wots dunkel is, hätt man denn die Sonne.«

»Fee, bei dich wird man wirbelich in Kopfe. Grundgitger Himmel! Wenn mer iber dei Gefragse nachdenkt, reschpektiert mer ja wohl zuletzt den lieben Herrgott nich mehr. Das Sinnieren mußte dir abgewehnen! Spiel doch mit das kleine Gretchen, sie is so art'ch!«

»Dorette, wird man immer dümmer, je älter man wird?«

»Na, nu wird's Tag! Wie kommst du denn d a drauf?«

»Mein man so! Gretchen is ein Jahr älter und viel dümmer!«

»So? Du böses Kind? Meinst du? Na un ich? Was bin ich?«

»Hab noch nich nachedenkt! Viel klüger biße aber nich, Dorette!«

»Na nu hör einer! Un der Herr Vater und die Frau Mutter un Seine regierende Dorchlaucht der Herr Ferscht? Gott verzeih mir die Sinde!«

»Ach, Vaters und Mutters gelten nich, un Durchlaucht is mordsgescheit, hat Papa gesagt; ich mein auch nich Große, ich mein man Kinner.«

»Du mußt ornlichen Umgang kriegen, Fee, ich muß mit die Gnädige sprechen.«

»Och, ich hab schon welchen. Ich geh nu immer mit Fräulein Maurißus um, die is lieb, man blos, daß sie küßt. Un denn will ich mit'n Doktor umgehen, der gefällt mich.«

»Mit'n Medizinrat?«

»Och wo! Der giebt mich Leberthran un 'n kalten Umßlag, un so'n Zeugs. Ne, ich mein den netten, guten, süßen, mit sone traurigen Augens.«

Kerlchen versuchte zur näheren Erklärung sein Schelmengesicht in melancholische Falten zu legen.

»Ach so! den Doktor Karsten. Soll 'n honetter Mann sein, un sehr klug.«

»Liebe Dorette, darf ich ihm fix mal besuchen? Er sprich sonst nie, wenn er so auf die Straße geht, un guckt immer so in Erdboden 'nein, aber nu hat er ne Stunde, da muß er sprechen, es steht an sein Thor angeschrieben, un nu will ich hin.«

Dorette blickte etwas zweifelnd auf, aber das Häuschen des Doktor Felix Karsten schaute so nah und freundlich zwischen den blühenden Linden hindurch, daß sie es wohl wagen konnte, das Kind hineinzulassen, außerdem kannte sie die gute Haushälterin des Doktors, Frau Freitag.

»Nur ja nicht länger, wie 'ne halbe Stunde, Fee, hörst du?«

Aber Kerlchen war schon über den Platz hinüber gelaufen.

Eine freundliche alte Frau öffnete.

»Guten Tag, Frau Mittwoch!«

»Ei herrjäses, das Feechen! Aber mein Gutestes, ich heiße äbenweg »Frau Freitag«, wenn au heite Mittwoch is, willste den Herrn Doktor sprechen, dann mach' nur 'nein.«

Kerlchen kam's sehr verwunderlich vor, daß die gute Frau auch an einem Mittwoch »Freitag« hieß, und ging ins Sprechzimmer. Das war ein großer, kahler Raum mit einem Tisch und vielen Stühlen, einer Wasserkarasse und zwölf Gläsern. Auf dem einen Stuhl saß eine alte Frau, und auf dem andern eine junge Frau mit einem Kinde, das ungefähr so groß als Kerlchen war.

»Guten Tag!« sagte Kerlchen mit einem Knix und ging rasch auf die Karaffe zu, aus der es sich einschenkte, da es sehr durstig war.

»Heiß heute, nich?«

Die beiden Frauen antworteten nicht, aber Kerlchen wußte schon, daß man bei Antrittsbesuchen nicht locker lassen darf, bis eine ordentliche Unterhaltung im Gange ist.

»Sind Sie krank?« wandte es sich deshalb an die alte Frau.

»Freilich! Werd' ich sonst bei'n Dokter gehn? Un nu sitz'ch un sitz'ch un muß doch uff Arbeit zum Waschen; so'n Dokter denkt a, mer is Millionär un Rentchee.«

»Darf'ch v'lleicht fragen, wot's fehlt?«

»Du bist ä närrisches Ding! Aber warum soll'ch dir nich antworten? Ech hab's uff d'r Brust un in Halse, egal Husten, un Nachts schlaf'ch nich, un Apptit ha ich a nich.«

»Für Apptiet is Kaviar gut.«

»Kafia? Was is en das?«

»Och so schwarze Körners. Von 'n Fisch.«

»Also Rogen? Kann ich ja mal probieren!«

»Un für'n Husten muß du Sßitronsaff nehmen mit Honig, ganß heiß, hat mich der Medißinrat auchegeben. Gleich war'ch wieder sund. Un denn kleb dich noch'n Flaster auf'n Magen, heißt »Brennersches«, das zieht vollends alles weg. Ja!«

»Nu da seh ich nich ein, weßterwegen ich hier wie 'ne Dumme uffn Dokter lauern soll. Itze geh ich häme uff mein Arbeit und mach mer häßen Citronnsaft, un Honig, un en Brennersches. Atche, klänes Mächen, un scheenen Dank! Wär biste denn, wie heißte denn?«

»Kerlchen, manchmal auch Felißitas.«

»Hm! Na, was Besondersch scheinst de zu sein!«

Die alte Frau humpelte hinaus, und nun wandte sich die junge Frau an Kerlchen.

»Ist Vater deiniges auch 'n Doktor?«

»Och nee, der is blos Oberstleutnant, aber ich tressier mir for Krankheit un Medißin.«

»Weißt am End auch was fürr arrrm Kindle? Bin ich weit kommen herr von Wanderrschaft und ist derr Mann gestorrben unterrwegs an Zehrrung, und ist Kind krank und schwach, sagens Leit, auch an Zehrrung, nix im Leib, nix anzuziehn, muß ich liqgen im Stall auf Strroh im Wirrtshaus vom weißen Schwan.«

Sie zog das umhüllende Tuch von dem kleinen Kinde und nun sah Kerlchen, daß es nur notdürftig mit einem Hemdchen und einem zerrissenen Röckchen bekleidet war, aus den viel zu großen Schuhen guckten die Zehen, und Strümpfe hatte es gar nicht an.

»Sßrecklich,« rief Kerlchen, »o ßrecklich! Wenn es nix anhat, muß sich ja verkühlen, wots ßon krank is. Stirbt gewiß klein, arm Sßigeunerwurm.«

»Iß sich nich Sßigeunerr, is ehrrlich Chrristenkind, und getauft in Kapellen nach heiligerr Emerrrenzia.«

»Iß die Möglichkeit! Heiß ja wie meine Hoftante! Muß ich ihr ßreiben, wird sie doll tressieren. Aber nu komm!«

Mit einer Geschwindigkeit ohne gleichen hatte Felicitas sich ausgezogen, und stand nun im weißen Höschen und barfuß da.

»Nur die weiße Sßürze muß du mich lassen, Frau,« sagte es bittend, »ich muß sie über die Bux thun, krieg sonst Sßimpfe. Aber nu ßieh fix an, da – – das wollene Röckßen hat Mutti selbß außebogt, da is noch'n weißes, un denn das ßöne Kleid, un da die Strümpf, un da meine Lackstiebelchen.« –

Die Frau wußte gar nicht, wie ihr geschah, aber sie zog ihrer Kleinen alles an, und lachte und weinte vor Entzücken. Aber dann sah sie etwas zweifelnd auf das entkleidete Mädel, das sich eben die blauseidene Schärpe um das weiße Schürzchen band.

»In die Taße von mein Kleide is auch noch 'n Taschentuch mit'n »F« drin, es thut dein Kind groß not, es hat zwei Talchlichter. Un denn is 1 Mark drin, weil ich gestern in alle Sßimmer Staub gewißt hab, da kannße dich was kaufen.«

Die Frau schien es plötzlich sehr eilig zu haben. Sie nahm ihr Kind auf den Arm, strich Kerlchen liebkosend über den Lockenkopf und rannte hinaus. Und gerade in dem Augenblick öffnete sich auch die Thür des Doktorzimmers, und eine Menge Frauen kamen heraus, alle mit heulenden, kleinen Kindern auf dem Arm, und aus den Ärmchen der Kleinen kam Blut, – Kerlchen erschrak furchtbar. Dieser Doktor Karsten »mit die ßöne traurige Augens,« schien ja noch viel schlimmer zu sein, als der Medizinrat, denn das, was sie jetzt sah, ging doch weit über Leberthran, Wurmpulver und kalte Umschläge.

Sie wollte ausreißen, aber der Doktor zog sie ohne weiteres in sein Sprechzimmer.

»Wen haben wir denn da?« fragte er erstaunt.

»Ich bin das Kerlchen! Wollt dich besuchen, hab ßrecklich warten müssen, un nu will ich fort, du piekst.«

Der Doktor lachte.

»Dich piek ich nicht, Kerlchen, das hat schon der Herr Medizinalrat vor vielen Jahren mir dir gethan, sieh da – und da.«

Er zeigte auf lauter weiße Narben an Kerlchens Oberarm.

»Aber wie siehst du aus, Kleines? Mich dünkt, du bist leicht, sehr leicht angezogen, viel zu leicht für unser Klima, und besonders für den heutigen Tag. Und barfuß! Komm, stell dich auf den Teppich, du darfst nie so auf den kalten Dielen stehen.«

»Thu ich auch nich. Aber berfuß ßad nich, geh oft so, wenn ich in Sylt bin oder in Altenhof.«

»Aber hier in Schwarzhausen sollten's deine lieben Eltern nicht erlauben, mein Kerlchen.«

»Thun sie auch nich. Habs von alleine außgeßogen, und der armen Frau ßenkt, da – in deinem Zimmer.«

Der Doktor rannte zur Thür und riß sie auf, als könne es möglich sein, daß die Frau noch geduldig warte, ob jemand ihr die Beute wieder abjage, aber das Zimmer war leer.

»Du bist ja wirklich ein merkwürdiges Franenzimmerchen,« sagte der Doktor nun und betrachtete seinen Gast von oben bis unten, aber so lasse ich dich nicht über die Straße. Frau Freitag kann nachher andere Sachen für dich holen, jetzt setz' dich erst mal hier in meinen Lehnstuhl, und diese Decke wickeln wir schön um deine Beinchen, o weh, sie sind ja eiskalt, du wirst dir einen schönen Schnupfen holen.«

»Snuppen is garnich ßön, aber gesund,« rief Kerlchen. »Mein Papa sagt, alle Dummheiten kämen da raus.«

»Na, da kann er dir ja nicht schaden,« lachte der Doktor. »Aber nun erzähl' mir, weshalb du mich besuchen wolltest, wo fehlt's?«

»Es fehlt nix, ich brauch kein Umschlag, kein Ballerjantroppen, kein Wurmpulver, un auch nich, was man nich laut sagen darf.«

»Na, da sind wir ja mobil! Aber was willst du sonst noch?«

»Will mit dich umgehen. Mine sagt, du ßiehst dir schon sechs Jahr mit Fräulein Maurißus um, nu solls du mir auch mal rumßiehn. – – – – – Oh wie kohmiß! Jetz' mach du grad son Sicht, wie Fräulein Maurißus, wie wie ich ihr verßählt hab, – oh wie kohhhmiß!!!«

»Pfeifens die Spatzen immer noch von den Dächern?« stieß der Doktor zwischen den Zähnen hervor.

»Die Spatzen? Nee! Weiß nich! Kann nich Spatzensprach! Jule und Mine habens verßält, un ich hab's Fräulein Maurißus verzählt, sie hat ffffurchtbar geweint. Sie is so gut un ßön und fleißig, sagt Mutti, ich hab ihr lieb, ich hab ihr doll geküßt heute Morßn.«

Des Doktors Mund preßte sich fest auf Kerlchens Lockenkopf.

»O du, du liebes Kleines!« sagte er leise.

»Ne laß man! Nich so viel anrühren! Mag ich nich! Nich wahr, Fräulein Maurißus is gut! Hat sie dich auch Kaffee koch, in die Nach', wie du bei sie wars'? Mich hat sie Sßoklade koch', un wunnerßöne Sßichten verßält, von kleinen Klaus, un großen Klaus un Sneekönigin.«

»Ist sie oft bei dir?« fragte der Doktor leise.

»Nun pieps' du grad so heiser, wie Fräulein Maurißus. Muß' auch Sßitronsaf' trinken un Honig, rech' heiß!«

»Ist sie oft bei dir?« wiederholte der Doktor laut und ungeduldig.

»Nich so anfahren!« wies ihn Kerlchen zurück, »Papa sag' immer: »Sanfmut is Weibes Sßierde.«

»Antworte mir doch, Fee!«

»Nein, is nich of' bei mich. Is ja so krank, der alte Vater un denn der Friedel! Papa sagt, sie wärn »Engel«, un Mutti sagt, sie wär'n »Kreußträg'rin«. Is aber nich wahr, hab kein Flügels un kein »Kreuß« sehen, in die Nach, wo sie bei mich war.«

»Wann war sie bei dir?«

»Is ßon laaang her! War Patenfürstens Burßtag, fünfunßwanßigsten Juni, aber nich diesen Burßtag, – nö – vorichen.«

»Kerlchen! Fee!«

»Sawoll! Papa un Mutti fuhren nach'n Sßloß, un Fräulein Maurißus kam ßu mich bis annern Morgen. Ich wollt ihr noch behalten, aber sie gingte weg un sag', ihr Vetter müß abreisen, der wär so lang in die Nach beim kranken Vater bleibt.«

Kerlchen erschrak sehr. – Der Doktor fuhr ja in die Höhe, und starrte es so wild an, als wäre es ein Wolf, und nicht ein kleines Kind. Und dann riß er den Hut vom Nagel, nahm das Kerlchen auf den Arm und lief heidi, – mit ihm zur Thür hinaus. Auf dem Marktplatz rannte er beinahe die Dorette um, die mit allen Zeichen der Erregung angelaufen kam, um nachzusehen, wo Kerlchen so unglaublich lange bliebe. Der Anblick des halb ausgezogenen Kindes machte sie vollends verwirrt, und sie ging sehr energisch den Doktor um eine Erklärung an. Aber der hörte kaum hin und stürmte weiter, und Kerlchen rief ganz heiter:

»Ich bin ganß ßund, liebe Dorette, hol mich nur ßnell Strümpf un annre Sßuh.«

Einen Augenblick blieb auch der Doktor stehen, neben dem Dorette herlief, gerade vor dem Hause von Fräulein Käthe Mauritius und sagte, beinahe ohne Atem:

»Ich bringe das Feechen gleich nach Hause, Sie lassen mir's nur einen Augenblick! Eine Empfehlung an die Herrschaften.«

Dorette ging kopfschüttelnd heim.

Der Doktor klinkte leise die Thür auf. – Würziger Kaffeeduft zog ihnen entgegen, im Stübchen von Fräulein Mauritius war der Tisch weiß und einladend gedeckt, und eben schenkte Fräulein Käthe dem kleinen Friedel ein. O weh, ein brauner Strom ergoß sich über das blütenweiße Tischtuch, so heftig zitterte die Hand, welche die Kanne hielt. Dann wurde diese hastig auf den Tisch gestellt, und Fräulein Käthe Mauritius mußte sich auf den Sessel setzen, weil ihre Füße sie nicht trugen. Kerlchen befand sich plötzlich auf dem Sofa neben Friedel, und der Doktor, der große Doktor lag vor dem Mädchen auf den Knieen, hatte den Kopf auf ihren Schoß gelegt und rief nur immer: »Vergieb, vergieb!«

Der kleine Friedel wollte anfangen zu weinen, aber Kerlchen gab ihm ein großes Stück Streuselkuchen, der so einladend auf dem Tische stand, und Fräulein Käthe's Tasse war auch eingeschenkt, den konnte es einstweilen trinken, damit der Kaffee nicht kalt wurde. Der Kuchen schmeckte prachtvoll und die beiden Kinder aßen ein Stück nach dem andern mit größtem Appetit. Die beiden Großen kümmerten sich ja auch um nichts, der Doktor mußte was schrecklich »Unartches« begangen haben, wenn er so »doll« um Verzeihung bitten mußte, aber nun küßte ihn schon Fräulein Käthe, also war alles wohl wieder in Ordnung.

Und nun wurde auch Kerlchen geküßt, es war geradezu schrecklich, und »Engel« wurde es genannt, »süßes, goldiges Engelchen«, das war noch nie dagewesen. Fee kam aus dem Erstaunen gar nicht heraus; auch daß Fräulein Mauritius nicht über den leeren Kuchenteller schalt, war ihr sehr verwunderlich. Dann nahm sie der Doktor wieder auf den Arm und brachte sie im Sturmschritt nach der Villa, wo er sie den hocherstaunten Eltern feierlichst überreichte.

»Kerlchen sieht unvorschriftsmäßig aus, Herr Oberstleutnaut, und ich auch, – aber ich mußte selbst kommen,« sagte der Doktor mit tiefer Bewegung in der Stimme. »Fee ist mein Schutzgeist gewesen heute, mein guter Engel, sie hat mir mein Lebensglück wiedergegeben, das liebe, herrliche Kerlchen, und deshalb darf es keine Schelte bekommen, bitte, bitte!«

Das war eine lange Geschichte, ehe alles erklärt war, und dann kam Dorette mit bitterbösem Gesicht und holte den Ausreißer. Aber das böse Gesicht machte keinen Eindruck auf Kerlchen. Der Papa lachte so herzlich, und die Mutti schüttelte dem Doktor die Hand und wünschte ihm Glück zu seiner prächtigen Braut. Da war also nichts mehr zu fürchten. Der Oberstleutnant klopfte dem Doktor auf die Schulter und rief : »Ich bin nun in Ihrer Schuld, Doktor. Meine Tochter hat Ihnen die Patienten buchstäblich weggegrault durch eigene Medikamente; nun schreibt mir eben der Medizinalrat, daß er sich zur Ruhe setzen will. Darf ich der Erste sein, der sich nun Ihnen auf Gnade und Ungnade ergiebt, und der Sie bittet, auch als Freund mit Ihrer Erwählten bei uns aus- und einzugehen?«

Wortlos vor Bewegung drückte ihm der Doktor die Rechte und küßte Kerlchens Mutti die Hand. Dann ging er fort, seinem Glücke nach.


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