Georges Rodenbach
Das tote Brügge
Georges Rodenbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.

Jane hatte die Warnung verstanden und mit dem Spürsinn der Abenteurerin sofort erkannt, welche Macht sie über diesen Mann gewonnen hatte, und wie sie ihn nach ihrem Willen beugen konnte.

Mit wenigen Worten gelang es ihr, ihn vollkommen zu beruhigen und wieder botmäßig zu machen, sich in seinen Augen als unschuldig hinzustellen und wieder auf den Thron erhoben zu werden. Sie hatte sich gesagt, daß ein Mann in seinen Jahren, der durch langen Kummer entkräftet und krank war, ein Mann, der sich bereits in den letzten Monaten so verändert hatte, nicht mehr lange leben konnte. Dabei galt er für reich, war allein und fremd in dieser Stadt und kannte keine Seele. Welche Torheit hatte sie fast begangen, sich diese Erbschaft entgehen zu lassen, die so leicht mitzunehmen war! Jane lenkte etwas ein, ging seltener aus, auch nur unter triftigen Vorwänden, und wagte keine unvorsichtigen Schritte mehr.

Eines Tages bekam sie Lust, einmal in Hugos Haus zu gehen, jenes weitläufige, alte Gebäude am Quai du Rosaire mit seiner gedrungenen Bauart und seinen undurchdringlichen Spitzenvorhängen, welche die Scheiben wie Eisblumen überwucherten und nichts vom Inneren ahnen ließen.

Sie wäre gern einmal hineingegangen, um sein mutmaßliches Vermögen nach dem Luxus der Einrichtung abzuschätzen, sein Mobiliar, sein Silber, seine Schmucksachen, kurz alles, wonach ihr der Sinn stand, abzutaxieren und in Gedanken ein Inventar aufzunehmen, auf Grund dessen sie sich entscheiden wollte.

Aber Hugo hatte sich stets geweigert, sie bei sich zu empfangen.

Da begann Jane sich bei ihm einzuschmeicheln. Es war wie ein Wiederaufflammen ihrer Leidenschaft, wie ein rosiges, laues Frühlingswetter, das wiederkam. Es bot sich gerade eine günstige Gelegenheit dazu. Der Mai war gekommen, und am nächsten Sonntag sollte die Prozession des heiligen Blutes stattfinden, ein alljährlicher, seit Jahrhunderten gebräuchlicher Umzug mit einem Reliquienbehälter, in dem sich ein Tropfen der mit der Lanze geöffneten Wunde befand.

Die Prozession sollte auch am Quai du Rosaire vorbeikommen, unter Hugos Fenstern. Jane hatte den berühmten Umzug noch nie gesehen und schien sehr gespannt darauf. Aber vor ihrer Wohnung würde der Zug nicht vorbeikommen, dazu läge sie zu weit ab. Und wie sollte sie auf den Straßen etwas sehen, bei dem Gedränge, das an diesem Tage herrschte, wo ganz Flandern nach Brügge strömte?

»Sag mal, willst du? Soll ich zu dir kommen... Wir essen dann zusammen...«

Hugo schützte die Nachbarn, das Geklatsch der Dienstboten vor.

»Ich werde ganz früh kommen, dann schläft noch alles.«

Auch der Gedanke an Barbe beunruhigte ihn. Sie war so fromm und so prüde; sie würde sie für eine Abgesandte des Teufels ansehen.

Aber Jane bestand darauf. »Also sag! Es ist abgemacht!« bat sie mit einschmeichelnder Stimme, der Stimme aus der Zeit ihrer ersten Bekanntschaft, jener verführerischen Stimme, die zu gewissen Momenten allen Frauen zu Gebote steht, einer klangvollen Kristallstimme, die weite Kreise zieht und die Männer zum Wanken bringt, sie in ihren Strudeln fortreißt und verschlingt.


 << zurück weiter >>