Georges Rodenbach
Das tote Brügge
Georges Rodenbach

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Neuntes Kapitel.

Seit dem Tage, wo Hugo auf den bizarren Einfall gekommen war, Jane eine der altmodischen Roben der Toten zum Anziehen zu geben, fühlte er sich tief enttäuscht. Er war über das Ziel hinausgegangen. Er hatte die beiden Frauen zu sehr miteinander verschmelzen wollen, und nun hatte ihre Ähnlichkeit eher abgenommen. Solange beide einen gewissen Abstand behielten und der Nebel des Todes zwischen ihnen lag, war die Verwechslung noch möglich. Kamen sie einander zu nahe, so traten die Unterschiede zutage.

Anfangs war es die Ähnlichkeit des Gesichtes gewesen, die ihn verblendet hatte, und seine innere Bewegung war sein Mitschuldiger geworden, aber nach und nach verfolgte er die Parallele bis auf ihre geringsten Einzelheiten und begann sich wegen Geringfügigkeiten zu quälen.

Die Ähnlichkeit liegt stets nur in den Linien und im Gesamtausdruck. Geht man ins einzelne, so ist alles verschieden. Aber Hugo merkte nicht, daß er selbst seine Art zu sehen geändert hatte; er verglich beide mit immer peinlicherer Genauigkeit und schob Jane die Schuld zu, ja, er glaubte sie vollständig verwandelt.

Immerhin hatte sie nach wie vor dieselben Augen. Aber wenn die Augen die Fenster der Seele sind, so war es klar, daß aus ihnen heute eine andere Seele sprach, als aus denen der Toten, die ihm stets gegenwärtig waren. Jane war zu Anfang sanft und zurückhaltend gewesen, jetzt ließ sie sich mehr und mehr gehen. Ein Rückstand von Theaterblut und Kulissenwesen trat bei ihr zutage. Die vollständige Intimität hatte ihr große Freiheit in ihren Manieren gegeben, eine lärmende, ungebundene Fröhlichkeit und recht freie Redensarten; auch ihre alte Angewohnheit, sich nachlässig anzuziehen, war immer stärker geworden. Sie lief im unordentlichen Frisiermantel, mit ungekämmten Haaren den ganzen Tag im Hause herum. Hugos feine Natur nahm daran Anstoß. Trotzdem kam er immer noch zu ihr, um das entschwindende Zauberbild zu bannen. O träge Stunden! Unerträgliche Abende! Es drängte ihn, diese Stimme zu hören, ihren tiefen, vollen Klang zu trinken. Und zugleich litt er an dem, was sie sagte.

Jane fand seine finsteren Launen, sein langes Schweigen bald langweilig. Wenn er jetzt am Abend zu ihr kam, war sie meist noch nicht zurück. Sie verspätete sich in der Stadt, bei Spaziergängen oder Einkäufen in den Läden, beim Anprobieren von Roben. Er besuchte sie auch zu anderen Stunden, mitten am Tage, morgens oder am Nachmittag. Oft war sie ausgegangen; es duldete sie nicht mehr zu Hause. Sie langweilte sich in der Wohnung und war immerfort auf der Straße. Wohin ging sie? Hugo wußte von keiner Freundin, die sie hatte. Er wartete auf sie; er mochte nicht allein sein und ging lieber in der Nähe spazieren, bis sie wiederkam. Er streifte unruhig und traurig umher, fürchtete sich vor den Blicken der Leute, ging zweck- und ziellos von einem Trottoir aufs andere, lenkte den Schritt nach einer der angrenzenden Grachten und schlenderte am Uferrand entlang oder kam auf abgezirkelte Plätze mit schwermütig rauschenden Bäumen und verlor sich in das unendliche Gewirr der grauen Gassen.

O, stets dieses Grau der Brügger Straßen!

Hugo fühlte seine Seele diesem Grau mehr und mehr unterliegen. Diese rings verbreitete Stille, diese menschenleere Öde wirkte ansteckend auf ihn. Kaum, daß ein paar alte Frauen in schwarzen Mänteln, den Kopf unter der Kapuze versteckt, schattenhaft einherschlichen. Sie kamen von der Kapelle des heiligen Bluts, wo sie eine Opferkerze angezündet hatten. Seltsam, man sieht nirgends so viele alte Frauen, wie in den alten Städten. Erdfahl, wie sie schon waren, huschten die welken Gestalten still dahin, als hätten sie alle ihre Worte verausgabt ... Hugo beachtete sie kaum; er ging ziellos einher und war ganz in seinen alten Schmerz und seine neuen Sorgen versunken. Mechanisch lenkte er den Schritt wieder nach Janes Wohnung. Noch niemand da!

Er ging wieder aus, blieb zaudernd stehen, streifte abermals durch die verödeten Straßen und kam, ohne es zu wissen, am Quai du Rosaire heraus. Jetzt entschloß er sich, zu Hause zu bleiben und Jane erst später, am Abend, aufzusuchen. Er ließ sich auf einem Fauteuil nieder und griff nach einem Buche; aber schon im nächsten Augenblick erdrückte ihn die Einsamkeit und das frostige Schweigen der großen Korridore, und er ging wieder aus.

Jetzt war es Abend ... Ein feiner, kalter Regen fiel, ein Strichregen, der immer schneller floß und ihm mit Nadeln in die Seele stach ... Hugo fühlte sich wieder besiegt, von ihrem Gesicht verfolgt, nach Janes Wohnung getrieben. Er ging abermals hin; als er in die Nähe kam, kehrte er wieder um. Ein plötzliches Bedürfnis nach Einsamkeit bemächtigte sich seiner; er fürchtete jetzt, sie möchte zu Hause sein und ihn erwarten, und er mochte sie nicht sehen.

Er schlug mit raschen Schritten die entgegengesetzte Richtung ein. Sein Weg führte ihn nach alten Stadtgegenden. Er wußte selbst nicht, wo er war; er ging unbestimmt und traurig durch den Straßenschmutz. Der Regen fiel immer schneller und haspelte seine Fäden ab, verstrickte sein Gewebe zu immer dichteren Maschen und wob ein ungreifbares, triefendes Netz, in dem Hugos Seele allgemach zerfloß. Er begann wieder an die Vergangenheit zu denken ... Er dachte an Jane. Was tat sie bei solchem trostlosen Wetter draußen? Er dachte an die Tote ... O, was ward aus ihr? Aus ihrem armen Grabe ... Kränze und Blumen wurden von dieser Regenflut gewiß vernichtet ...

Und die Glocken läuteten so fern und blaß! Wie fern war ihm die ganze Stadt! Es deuchte ihn, daß auch sie in der Auflösung begriffen, in dem alles überschwemmenden Regen ertrunken sei ... Sie paßten gut, diese Trauerklänge! Für das tote Brügge läutete es von den höchsten noch überlebenden Glockentürmen herab. O, wie trüb fielen die Schläge!


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