Georges Rodenbach
Das tote Brügge
Georges Rodenbach

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Viertes Kapitel.

Hugo hatte sich schnell über sie erkundigt. Er wußte ihren Namen: Jane Scott, der obenan auf der Theateranzeige prangte. Sie wohnte in Lille und kam mit ihrer Truppe allwöchentlich zweimal nach Brügge, um zu spielen.

Die Ballettänzerinnen führen im allgemeinen keinen puritanischen Lebenswandel, und so ließ er sich eines Abends durch den wehmütigen Reiz ihrer Ähnlichkeit dazu verleiten, sich ihr zu nähern und sie anzureden.

Sie antwortete, ohne sehr erstaunt zu sein; vielmehr schien sie auf diese Begegnung ganz gefaßt. Ihre Stimme erschütterte Hugo bis auf den Grund der Seele. Also auch die Stimme! Die Stimme der Toten – in täuschendem Gleichklang vernahm er sie wieder, eine Stimme von der gleichen Klangfarbe, der gleichen Metallmischung. Trieb der Dämon der Ähnlichkeit sein Spiel mit ihm? Oder gibt es wohl eine geheime Harmonie in den Gesichtern, und gehört zu solchen Augen, solchem Haar auch notwendig eine solche Stimme?

Warum sollte der Tonfall nicht auch derselbe sein wie bei der Toten, zumal sie ja auch ihre großen schwarzen Pupillen und ihr seltenes Haar hatte, das sich in diesem goldigen Tone gewiß nicht zum zweitenmal auf Erden fand? Jetzt, wo er sie aus nächster Nähe sah, schien die Ähnlichkeit zwischen der alten und der neuen Frau noch vollkommener. Hugo war ganz verwirrt darüber, zumal auch ihre Haut trotz Puder, Schminke und den sengenden Rampenlichtern den frischen Schmelz reifer Früchte hatte.

Auch in ihrem Wesen lag nichts von der ungebundenen Art der Tänzerinnen. Eine einfache Kleidung, ein anscheinend zurückhaltender, sanfter Geist.

Mehrmals sah Hugo sie wieder und plauderte mit ihr. Der Zauber der Ähnlichkeit tat seine Wirkung... Trotzdem war er absichtlich nicht mehr ins Theater gegangen. Der erste Abend war wie ein wundervoller Kunstgriff des Geschicks gewesen. Sie sollte ihm die Illusion seiner wiedergefundenen Toten geben, und so gebührte es sich, daß sie ihm zuerst als Auferstandene vor Augen trat und bei Mondschein und Märchenstaffage ein Grab verließ.

Aber er mochte sie sich fortan nicht mehr so vorstellen. Die Tote sollte wieder zur Hausfrau werden, sie sollte ihr stilles, häusliches Dasein wieder beginnen und sich in ruhige Stoffe kleiden. Er wollte die Tänzerin, um die Täuschung zu vollenden, nur noch im Straßenkleid sehen. Dann war sie noch ähnlicher und ganz der Toten gleich.

Er besuchte sie jetzt jedesmal, wenn sie kam; er erwartete sie in dem Gasthofe, wo sie abstieg. Zuerst begnügte er sich mit der tröstlichen Lüge ihres Gesichtes. Er suchte in diesen Zügen das Antlitz der Toten, blickte sie lange Minuten hindurch mit wehmütiger Freude an, sog das Bild ihrer Lippen und Haare, den Ton ihrer Hautfarbe begierig in sich auf und ließ sie sich im stillen Wasser seiner Augen spiegeln ... O Wonne und Entzücken dieses totgeglaubten Brunnens, in dem sich wieder Leben fängt! Das Naß ist nicht mehr tot und unbeweglich, der Spiegel lebt!

Um sich auch über ihre Stimme zu betrügen, senkte er bisweilen die Augenlider, um ihren Worten zu lauschen und ihren fast täuschenden Gleichklang zu schlürfen. Nur manchmal waren die Laute etwas belegt und wie gedämpft; es war, als ob die alte hinter einem Vorhang spräche.

Trotzdem hatte er von ihrem ersten Auftreten auf der Bühne noch eine verwirrende Erinnerung behalten. Er hatte ihre Arme, ihren bloßen Hals und die sanfte Linie ihres Rückens gesehen und stellte sich das Erschaute nun hinter ihrem geschlossenen Kleide vor.

Eine fleischliche Neugierde mischte sich ein.

Wer nennt die Leidenschaft der Umarmungen eines lange getrennten Liebespaares? Aber hier war der Tod nur eine Trennung gewesen, denn dasselbe Weib war ja wiedergefunden.

Wenn er Jane ansah, mußte er an die Tote und ihre Küsse, an die Umarmungen von damals denken. Er meinte die andere wieder zu besitzen, wenn er diese besäße. Was unwiederbringlich vorüber schien, jetzt sollte es wieder von neuem beginnen. Und er vermeinte seine Gattin damit nicht zu betrügen; war sie es doch, die er in ihrem Ebenbilde lieben würde, ihr Mund, den er in jenem Munde küßte.

Hugo kostete so düstere und wilde Freuden. Seine Leidenschaft erschien ihm nicht als eine Entheiligung, im Gegenteil, als gut; so sehr sah er in den beiden Frauen bereits eine einzige, ein verlorenes und wiedergefundenes, in Gegenwart wie in Vergangenheit stets und einzig geliebtes Wesen, mit denselben Augen, dem gleichen Haar und dem nämlichen Fleisch und Blut, dem er die Treue hielt.

Jedesmal, wenn Jane nach Brügge kam, traf Hugo jetzt mit ihr zusammen, bisweilen am Ende des Nachmittags, bevor sie auftrat, namentlich aber nachher in den stillen Nächten, wo er bis zu später Stunde in ihrem Banne weilte. Und trotz des Augenscheins der tiefen Trauer, die er stets trug, trotz der so fremd anmutenden unwohnlichen Hotelzimmer, begann er sich allmählich einzureden, daß die schlimmen Jahre gar nicht gewesen seien, daß er noch immer eine Häuslichkeit besäße und eine Liebesehe führte, daß es immer noch das erste Weib wäre und das stille, innige Beisammensein mit seinen rechtmäßigen Küssen.

O holde Abende bei geschlossenen Türen! Friede im Herzen, Selbstgenügsamkeit des ineinander aufgehenden Paares, Stille und ruhiges Glück! Die Augen haben alles vergessen, wie Nachtschmetterlinge: die schwarzen Ecken, die kalten Scheiben, den Regen draußen. Wind und Winter, die Glocken, die den Tod der Stunden künden; – nur im engen Lichtkreise der Lampe schwärmen sie.

Hugo fühlte neues Leben an diesen Abenden durch seine Adern rinnen ... Vollständiges Vergessen! Neubeginn! Die Zeit rauscht sanft dahin, in einem Flußbett ohne Steine... Und es ist, als gehörte man im Leben schon der Ewigkeit an.


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