Georges Rodenbach
Das tote Brügge
Georges Rodenbach

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Elftes Kapitel.

Aber die Stadt trägt vor allem das Antlitz des Glaubens. Eine Mahnung zur Frömmigkeit und Entsagung geht von ihr aus, von den Mauern ihrer Spitäler und Klöster, von ihren zahlreichen Kirchen, die in steinernen Chorhemden niederknien. Sie begann Hugo wieder zu beherrschen und seinen Gehorsam zu erzwingen. Sie wurde wieder zur Hauptperson seines Lebens, mit der er die meiste Zwiesprache gepflogen, die ihren Einfluß geltend gemacht, abgeraten und befohlen hatte, nach der er sich am meisten gerichtet und der er die Gründe zu allen seinen Handlungen entlehnt hatte.

Er geriet jetzt wieder mehr in den Bann ihres mystischen Antlitzes, je mehr er den Lockungen des Fleisches und der Lüge des Weibsgesichtes widerstand. Er hörte nicht mehr so viel auf die Worte aus ihrem Munde, und in gleichem Maße ward er wieder empfänglich für den Glockenklang.

O diese vielen, nimmermüden Glockenklänge, wenn er in solchen Rückfällen von Trübsal seine abendlichen Spaziergänge wieder aufnahm und planlos an den Grachten entlang streifte!

Sie taten ihm weh, diese vielen Glocken mit ihrem Sterbegeläut, ihren Seelenmessen und Dreißigschlägen, ihrem Mett- und Vesperläuten. Den ganzen Tag über schwangen ihre schwarzen, unsichtbaren Weihrauchfässer auf und ab und ließen einen Rauch von Klängen in die Luft aufsteigen.

O dieses ewige Glockenläuten von Brügge, diese ununterbrochen in die Luft gesandten Klagepsalmen großer Totenmessen! War es nicht wie eine Absage an das Leben, wie der klare Sinn der Eitelkeit aller Dinge, wie ein Einläuten des nahenden Todes? ...

Auf den leeren Straßen verbreitete hin und wieder eine Laterne einen flackernden Schein des Lebens. Vereinzelte Schattengestalten huschten vorüber, Weiber aus dem Volk in langen, dunklen Tuchmänteln, die wie schwarze Bronzeglocken aussahen und wie Glocken schwangen. Und Glocken wie Mäntel schienen nach den Kirchen zu wandeln, in einem und demselben Wege begriffen.

Hugo folgte unbewußt ihrem Rat und ihrer Spur. Die frömmelnde Umgebung gewann ihre alte Macht über ihn. Die Propaganda des Vorbilds, der verborgene Wille der Dinge zog auch ihn nach den alten Gotteshäusern zur inneren Sammlung.

Wie einst, fand er wieder Gefallen daran, sich hier am Abend einzufinden, vornehmlich in den Kirchenschiffen von Saint-Sauveur mit ihren langen schwarzen Marmorplatten und dem weltentrückten Gesang ihrer Chöre, wenn er seine schwarzen Schleier ausbreitete und in Wogen herabrauschte...

Es war ein voller mächtiger Klang, der von den Orgelpfeifen herab auf die Fliesen strömte; es war, als überschwemmte und verwischte er die staubigen Inschriften auf den Leichensteinen und Kupferplatten, mit denen die alte Kirche wie besät war. Wahrlich, hier schritt man auf dem Tode!

Und nichts, weder die Blumengärten der gemalten Kirchenfenster, noch die wunderbaren, der Zeit trotzenden Gemälde von Pourbus, Van Orley, Erasmus Quellyn, Crayer und Seghers mit ihren noch unverwelkten Tulpengirlanden – nichts konnte die Grabestrübsal dieses Ortes versüßen. Auch den Farbenzauber der Altarblätter und Triptychen, die verewigten Träume der alten Meister sah Hugo kaum. Er mußte nur mit gesteigerter Wehmut an den Tod denken, wenn er auf den Altarflügeln den Stifter mit gefalteten Händen und die Stifterin mit karneolfarbenen Augen erblickte. Nichts war von ihnen geblieben als diese Bilder. Da suchte er sich das Bild der Toten von neuem wachzurufen. An die Lebende mochte er nicht mehr denken, das Bild der unreinen Jane ließ er vor der Kirchentür! Die Tote war's, von der er träumte, daß er mit ihr vor Gottes Antlitz kniete, wie die frommen Stifter da droben.

Ebenso liebte es Hugo in diesen mystischen Anwandlungen, sich in das Schweigen der kleinen Kapelle Jerusalem zu begraben. Besonders hierhin gingen die Frauen in den schwarzen Mänteln, wenn es Abend ward. Er trat hinter ihnen ein. Die Schiffe waren niedrig, eine Art von Krypta. Tief im Grunde, in der Kapelle, die zur Anbetung der heiligen Wunden errichtet ist, stand eine Christusfigur in Lebensgröße, ein Heiland auf seinem Grabe, die leichenfarbene Gestalt in ein Bahrtuch aus seinen Spitzen gehüllt. Frauen in schwarzen Mänteln zündeten kleine Kerzen davor an und huschten dann lautlos von dannen. Und die Kerzen bluteten durch die Finsternis wie die Nägelmale des Gekreuzigten, die wieder aufgebrochen wären und von neuem zu rinnen begännen, um die Andächtigen von ihren Sünden reinzuwaschen.

Was Hugo aber auf seinen Pilgerfahrten durch die Stadt am meisten liebgewann, das war das Hospital Saint-Jean. Hier hatte der göttliche Memling gelebt und leuchtende Meisterwerke hinterlassen; sie werden noch jahrhundertelang die Frische seiner Träume bewahren, die er in der Zeit seiner Genesung geträumt hat. Auch Hugo pilgerte dorthin, in der Hoffnung, zu genesen und seine fiebernden Augen an diesen weißen Wänden zu kühlen. Der große Katechismus der Ruhe!

Innengärten mit Buchsbaumeinfassungen, Krankenzimmer, in denen man den Schall der Stimme dämpft, ganz abgelegen! Einige Nonnen, die vorüberhuschen und die herrschende Stille unmerklich verdrängen, wie die Schwäne der Grachten kaum ein wenig Wasser verdrängen ... Ein schwebender Duft von feuchtem Leinen, von Hauben, denen der Regen den Glanz genommen hat, von Altartüchern, die aus uralten Schreinen hervorgezogen sind.

Endlich gelangte Hugo zum Allerheiligsten der Kunst mit seinen unschätzbaren Gemälden und dem berühmten Reliqienschrein der heiligen Ursula, einer gotischen Miniaturkapelle von leuchtendem Gold, die auf jeder Seite in drei Feldern die Geschichte der elftausend Jungfrauen erzählt, während das Dach auf seinem emaillierten Metallgrund miniaturfeine Medaillons von musizierenden Engeln trägt, deren Haarfarbe sich ihren Musikinstrumenten mitgeteilt hat und deren Flügel die Form ihrer Harfen tragen.

So wird das Martyrium von gemalter Musik begleitet. Und das verleiht dem Tode dieser Jungfrauen eine unendliche Zartheit. Wie ein Busch Azaleen gruppieren sie sich auf der anlandenden Galeere, die ihr Grab sein wird. Die Soldaten stehen am Ufer. Sie haben schon mit dem Blutbade begonnen; Ursula und ihre Gefährtinnen sind bereits eingeschifft. Das Blut rinnt, aber so rosig ist es! Die Wunden sind Rosenblätter... Das Blut tropft nicht, es entblättert sich von ihrem Busen.

Die Jungfrauen sind glücklich und seelenruhig; sie lassen ihren Mut in den Rüstungen der Soldaten leuchten, die wie Spiegel glänzen. Und selbst der Bogen, von dem der Tod kommt, erscheint ihnen mild wie die Mondessichel.

Durch solche Feinheiten hatte der Künstler ausdrücken wollen, daß der Todeskampf für die gläubigen Jungfrauen nur ein Übergang ist, eine Prüfung, der sie sich in Aussicht auf die nahe Seligkeit getrost unterziehen. Und darum verbreitet sich der Friede, der in ihnen schon herrscht, auch über die Landschaft und erfüllt sie gleichsam mit ihrer Seele.

Und so ist der Augenblick des Überganges schon weniger die Schlächterei als vielmehr die Apotheose; die Bluttropfen gerinnen bereits zu den Rubinen ihrer ewigen Diademe, und über der blutgetränkten Erde öffnet sich der Himmel; sein Licht ist sichtbar, es greift tätlich ein.

O paradiesische Auffassung des Martyriums, o englische Vision eines Malers, der so fromm wie genial war!

Hugo war tief erschüttert. Er dachte an den starken Glauben der großen flandrischen Künstler, die uns diese Votivgemälde im wahrsten Sinne des Wortes hinterlassen haben. Ja, sie malten, wie man betet!

Und so strömte beim Anblick aller Dinge stets dasselbe auf ihn ein; die Kunstwerke wie die Goldschmiedearbeiten, die Architektur der Häuser, die wie Klöster aussahen, und die Hausgiebel mit ihrer Form von Bischofsmützen, die madonnengeschmückten Straßen, der Wind, den Glockenklänge erfüllten – alles trug Hugo eine Lehre der Frömmigkeit zu, ein Beispiel der Sittenstrenge, und der in der Luft, in den Steinen aufgestaute Katholizismus wirkte ansteckend auf ihn.

Seine Kindheit mit ihrer inbrünstigen Frömmigkeit ward wieder lebendig in ihm, und eine tiefe Sehnsucht nach Unschuld ergriff ihn. Er fühlte sich nicht schuldlos gegen Gott, noch gegen die Tote. Der Begriff der Sünde tauchte wieder auf und erfüllte ihn.

Besonders seit einem Sonntagabend, wo er zufällig in die Kathedrale trat, um dem Abendsegen und dem Orgelklang zu lauschen. Er kam gerade zum letzten Teil einer Predigt.

Der Priester sprach über den Tod. Welchen Gegenstand soll man in dieser trüben Stadt auch sonst wählen, hier, wo er sich von selbst anbietet und aufdrängt, wo er allein den Weinberg seiner schwarzen Trauben rings um die Kanzel aufschießen läßt – bis zu den Händen des Predigers, der nur danach zu greifen braucht, um sie zu pflücken? Wovon reden, wenn nicht von dem, was überall in der Luft liegt: dem unabweislichen Tode? Und welchen anderen Gedanken in die Tiefe graben, wenn nicht den an die Errettung seiner Seele, ihn, der hier die Hauptsorge und den fortwährenden Schrecken aller Gewissen bildet?

Der Priester sprach über den Tod, den sanften Tod, der nur ein Übergang ist und die Wiedervereinigung der in Gott ruhenden Seelen. Er sprach auch von der Sünde, welche die große Gefahr, die Todsünde ist, welche den Tod erst zum wahren Tode macht, aus dem es keine Erlösung mehr gibt, noch ein Wiedersehen geliebter Wesen.

Hugo lauschte diesen Worten, an einen Pfeiler gelehnt, mit beklommenem Herzen. Die große Kirche war in Finsternis getaucht, nur einige Lampen und Wachskerzen warfen einen unbestimmten Schein. Die Andächtigen verschmolzen im Schatten zu einer schwarzen, fast gestaltlosen Masse. Ihm war, als stünde er allein, als wäre das Wort des Priesters nur an ihn gerichtet, als spräche er ihn an. Und durch ein Spiel des Zufalls oder seiner erregten Einbildungskraft vermeinte er, es wäre sein Fall, von dem der unsichtbare Redner da sprach. Ja, er war im Stande der Todsünde! Umsonst suchte er sich an seiner schuldigen Liebe aufzureizen und zu seiner eigenen Rechtfertigung den Scheingrund der Ähnlichkeit vorzubringen. Er tat doch die Werke des Fleisches. Er tat das, was die Kirche jederzeit am strengsten verworfen hat: er lebte in einer Art wilder Ehe.

Wenn aber die Religion wahr spricht, wenn die geretteten Seelen sich wiederfinden, so würde er sie nie wiedersehen, die Gerettete und Heilige, eben weil er sich so ausschließlich nach ihr gesehnt hatte. Der Tod würde die Trennung nur verewigen, würde das, was er für zeitlich gehalten, für immerdar heiligen.

Jetzt und in alle Ewigkeit würde er von ihr getrennt bleiben, und wahrlich, das würde seine ewige Strafe sein: stets umsonst an sie zu denken.

Als Hugo die Kirche verließ, befand sich sein Geist in beispielloser Verwirrung. Und von diesem Tage an ließ der Gedanke an die Sünde ihm keine Ruhe mehr, er wurmte in ihm und bohrte ihm seinen Nagel in die Seele. Wie gern hätte er sich von ihm befreit und sich seiner Sünde entlastet! Er faßte den Gedanken, zu beichten, um dieser inneren Zerfahrenheit, diesem schrecklichen Schwanken der Seele, in das er geraten war, ein Ende zu machen. Aber dann mußte er auch bereuen und ein anderes Leben beginnen. Und er fühlte trotz seines Kummers, seiner täglichen Schmerzen, nicht mehr die Kraft in sich, mit Jane zu brechen und sein einsames Leben wieder anzufangen.

Trotzdem hatte er immer die Stadt mit ihrem Antlitz des Glaubens vor Augen. Sie schalt ihn und drang in ihn. Sie setzte ihm das Vorbild ihrer eigenen Keuschheit, ihrer Glaubensstrenge entgegen.

Und die Glocken stimmten ihr zu, wenn er jetzt allabendlich mit wachsender Herzensangst durch die Straßen irrte, die Liebe zu Jane, die Sehnsucht nach der Toten, die Furcht vor seiner Sünde und der möglichen Verdammnis im Herzen... Die Glocken sprachen so überzeugend, erst freundlich ratend, bald aber unbarmherzig, mit grimmem Schelten. Sie waren gleichsam sichtbar, fühlbar um ihn, wie die Krähen, welche die Türme umkreisten. Sie stießen ihn vor sich her, drangen in seinen Kopf und verletzten, vergewaltigten ihn, um ihm seine elende Liebe zu entreißen, um ihn von seiner Sünde zu befreien!


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