Georges Rodenbach
Das tote Brügge
Georges Rodenbach

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Siebentes Kapitel.

Es war nun schon mehrere Monate her, seit Hugo Jane zum erstenmal begegnet war, und nichts hatte die Lüge, in der er lebte und wieder auflebte, bisher getrübt. Wie war sein Leben doch anders geworden! Er kannte keine Trübsal mehr. Er hatte nicht mehr den Eindruck der tiefen Vereinsamung und grenzenlosen Leere. Seine alte Liebe, die ihm für immerdar entrückt und unerreichbar schien – Jane hatte sie ihm wiedergegeben; in ihr fand er die Tote wieder, in ihr sah er sie, wie man das Bild des Mondes sich ganz ohne Unterschied im Wasser widerspiegeln sieht. Und bis jetzt hatte kein Fältchen, kein Schaudern dieses Spiegels unter einer schlimmen Brise die Reinheit ihres Ebenbildes getrübt.

Und er fuhr fort, die Tote im Götzenbilde dieser Ähnlichkeit zu verehren; er ging so völlig in diesem Selbstbetrug auf, daß er nicht einen Augenblick daran dachte, es könnte ein Mangel an Treue gegen seinen Kult und das teure Andenken sein. Jeden Morgen zollte er, ganz wie am Tage zuvor – als wäre ein jeder eine Station auf dem Passionswege der Liebe – den aufbewahrten Erinnerungen den Tribut seiner Verehrung. Sobald er aufgestanden war, betrat er das stille Dunkel ihrer Zimmer und ging bei halbgeöffneten Läden lange Zeit zwischen den Möbeln einher, die stets auf ihrem gleichen Platze standen, oder blieb gerührt vor einem Bilde der Entschlafene stehen. Hier eine Photographie von ihr als junges Mädchen, kurz vor ihrer Verlobung; dort ein großes Pastellbild mitten auf einer Konsole unter spiegelndem Glas, das ihr Gesicht bald verdeckte, bald sehen ließ; dort eine andere Photographie auf dem Lampenständer in eingelegtem Rahmen, ein Bild aus den letzten Jahren, wo sie schon leidend aussah, wie eine geknickte Lilie ... Hugo preßte die Lippen darauf und küßte diese Bilder wie eine Kußtafel oder einen Reliquienschrein.

Und jeden Morgen stand er in den Anblick des Kristallkästchens versunken, in dem das Haar der Toten allzeit sichtbar ruhte. Aber er wagte kaum den Deckel zu lüften. Er hätte es nie und nimmer herausgenommen oder durch seine Finger gleiten lassen. Dieses Haar war heilig! War es doch das einzige Überbleibsel der Toten, das dem Grab entronnen war, um in diesem gläsernen Sarg einen besseren Schlummer zu schlafen. Aber es war gleichwohl tot, denn es war ja von einer Toten, und man durfte nimmermehr daran rühren. Genug, wenn er es betrachten konnte und es unberührt wußte, wenn er sich jederzeit versichern konnte, daß es da war, dieses Haar, von dem vielleicht das Leben des Hauses abhing.

Hugo brachte lange Stunden zu, wo er in seinen Erinnerungen schwelgte, und der Kronleuchter über seinem Kopfe goß aus seinen zitternden Kristallkelchen kalte Lichtschauer durch das Schweigen der geschlossenen Räume und erfüllte die Stille wie mit einer leisen Klage.

Später brach Hugo auf und ging zu Jane, wie zu der letzten Station seines Heiligenkults, Jane, die dasselbe Haar ganz und ungeteilt besaß, und bei der es lebte, die gleichsam das ähnlichste Abbild der Toten war. Eines Tages hatte er dieser Gleichheit noch einen besonderen, innigeren Reiz abgewinnen wollen und einen bizarren Gedanken gefaßt, der fortan nicht mehr von ihm wich. Nicht nur die kleinen Dinge, die Nippsachen und Bilder, die er von seiner Frau bewahrte: er wollte alles von ihr um sich haben, als ob sie nur abwesend wäre. Nichts war verstreut, verschenkt oder verkauft worden. Ihr Zimmer stand immer noch bereit, als ob es ihrer Rückkehr harrte. Es war aufgeräumt und jedes Jahr mit einem neuen geweihten Buchsbaumzweig geschmückt worden. Ihre Wäsche ruhte vollzählig in den Schubladen, mit Kräutersäckchen dazwischen, um sie in ihrer schon leicht vergilbten Unbeweglichkeit frisch zu erhalten. Auch die Kleider, all ihre alten Toiletten, hingen in den Schränken; Seidenroben und Sonntagsstaat, die leere Hülle dessen, was sie einst belebte.

Hugo wollte sie bisweilen wieder in lebender Bewegung sehen, so eifersüchtig wachte er darüber, daß er nichts vergaß, und daß sein Schmerz um das Verlorene ewig währte ...

Die Liebe erhält sich, ganz wie der Glaube, durch kleine Mittel. Und so kam ihm eines Tages ein seltsames Gelüsten und verfolgte ihn, bis er es erfüllte: Jane in einem dieser Kleider zu sehen, genau so angezogen wie die Tote! Sie war ihr ohnehin so ähnlich: nun sollte zur Gleichheit des Gesichtes auch noch die der Kleidung treten, die er einst an ihren völlig gleichen Körperformen gesehen. Dann würde sie noch mehr seine wiedergekehrte Frau sein.

Ein göttlicher Augenblick, wo Jane so angetan auf ihn zuschreiten würde, eine Minute, die Zeit und Wirklichkeit ungeschehen machen, die ihm das völlige Vergessen schenken würde!

Sobald er diesen Gedanken einmal gefaßt hatte, wurde er ihm zur fixen Idee, die ihn berückte und wie mit einer Schelle verfolgte.

Eines Morgens entschloß er sich also. Er rief nach seiner alten Magd und ließ sich vom Boden einen Koffer herunterbringen, um einige der kostbaren Kleider fortzuschaffen.

»Der gnädige Herr verreisen wohl?« fragte die alte Barbe, die sich die neue Lebensweise ihres sonst so klösterlich lebenden Herrn, sein vieles Ausgehen, seine Abwesenheit, seine Mahlzeiten außer dem Hause gar nicht mehr erklären konnte und zu glauben begann, daß er närrische Einfälle hatte.

Sie mußte ihm behilflich sein, die Kleider herauszunehmen und auszusuchen und die zurückbleibenden gegen den Staub zu schützen, der aus diesen lange unberührten Schränken in Wolken herausquoll.

Er hatte zwei Kostüme ausgesucht, die letzten, welche die Tote getragen hatte, und legte sie sorgfältig in den Koffer, strich die Röcke glatt und klopfte auf die Falten. Barbe verstand von alledem nichts, aber es erregte doch Anstoß bei ihr. Wie konnte er diese Garderobe, die nie berührt worden war, plötzlich zerstückeln! Wollte er sie etwa verkaufen? Sie wagte eine schüchterne Einwendung.

»Was würde die arme gnädige Frau dazu sagen!«

Hugo blickte sie sprachlos an. Er war blaß geworden.

Hatte sie den Grund erraten? Wußte sie etwas?

»Wieso?« fragte er schließlich.

»Ich dachte so,« antwortete die alte Barbe. »In meinem Dorf in Flandern muß man die Sachen eines Gestorbenen entweder gleich verkaufen, in der Woche, wo er beerdigt wird, oder sein Leben lang behalten, sonst bleibt der Tote so lange im Fegefeuer, bis man selbst hinüber ist.«

»Seien Sie ohne Sorge,« entgegnete Hugo beruhigt. »Ich habe nicht die geringste Absicht, die Kleider zu verkaufen. Ihre Sage hat ganz recht.«

Barbe blieb starr stehen, als er den Koffer trotz dieser Erklärung kurz darauf doch auf eine Droschke laden ließ und davonfuhr.

Hugo wußte nicht recht, wie er Jane seinen tollen Gedanken beibringen sollte, denn niemals hatte er ihr etwas von seiner Vergangenheit erzählt; eine Art Zartgefühl und Scham vor der Toten hatte ihn stets davor zurückgehalten. Nicht einmal eine Anspielung auf die holde und grausame Ähnlichkeit, derentwegen er sie verfolgt hatte, war ihm entschlüpft.

Als der Koffer ankam, brach Jane in ein Freudengeschrei aus und sprang in die Höhe. Welche Überraschung! Er hatte sie scheinbar reich bedacht. »Wie? Geschenke? Wohl gar ein Kleid?« ...

»Jawohl, Kleider,« sagte Hugo mechanisch.

»O, das ist nett von dir! Also mehr als eins?«

»Zwei.«

»Welche Farbe? Schnell, laß sehen!«

Sie kam näher und streckte die Hand nach dem Schlüssel.

Hugo wußte nicht, was er sagen sollte. Er wagte den Mund nicht aufzutun, um sich nicht zu verraten; er mochte das krankhafte Verlangen, dem er hemmungslos gefolgt war, nicht gestehen. Als der Koffer auf war, begann Jane die Roben herauszunehmen. Sie überflog sie schnellen Blicks, und ihre Mienen verrieten sofort eine große Enttäuschung.

»Was für eine häßliche Fasson! Und diese gemusterte Seide, wie altmodisch ist das! Aber wo hast du denn solche Roben gekauft? Diese Volants auf dem Rock! Vor zehn Jahren war das Mode! Ich glaube, du willst mich zum besten haben!« ...

Hugo war ganz bestürzt und verlegen; er suchte nach Worten, nach einer Erklärung, nicht der wahren, sondern einer anderen, die wahrscheinlich klang. Er begann das Lächerliche seines Vorhabens einzusehen, und doch ließ der Gedanke ihn nicht los.

Er erklärte ihr also mit einschmeichelnder Stimme: Jawohl, es wären alte Kleider ... Erbstücke ... Kleider von einer Verwandten ... Er hätte nur Spaß machen wollen ... Er hätte solche Lust darauf, sie in einer dieser alten Roben zu sehen. Es sei verrückt, aber er hätte solche Lust darauf ... Einen einzigen Augenblick! ...

Jane begriff nichts von alledem. Sie lachte, drehte jedes Kostüm nach allen Richtungen hin und her, wog den Stoff, eine schwere, kaum verblaßte Seide, mit der Hand und kam nicht aus dem Staunen heraus über diesen sonderbaren, ans Komische streifenden Schnitt, der trotzdem einst die Mode und Eleganz selbst gewesen war ...

Aber Hugo ließ nicht nach.

»Du wirst mich häßlich darin finden!«

So verdutzt sie anfangs über diesen Einfall war, so fand sie es schließlich doch selbst drollig, die geerbten Kleider anzuziehen. In übermütigster Laune legte sie ihren Frisiermantel ab und die Spitzenuntertaille an, schlug diese, da sie ihr die Brust bedeckte, mit ihren bloßen Armen zurück, ebenso die Spitzen ihrer Hemdborte, und schlüpfte in die eine Robe, die ausgeschnitten war. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und lachte über ihren eigenen Anblick. »Ich sehe ja aus wie ein altes Familienbild!« sagte sie.

Dabei zierte und verdrehte sie sich, stieg, ihre Röcke aufhebend, auf den Tisch, um sich ganz zu sehen, und schüttelte sich immerfort vor Lachen, während ein losgegangener Hemdzipfel unter der Taille hervorkam und, keuscher als sie, ihr nacktes Fleisch bedeckte, dafür aber die Intimitäten der Wäsche recht peinlich offenbarte ...

Hugo sah zu. Diese Minute, von der er sich die höchsten Wonnen erträumt hatte, kam ihm jetzt besudelt und gewöhnlich vor. Jane schien an diesem Spiel Gefallen zu finden. Sie wollte auch die andere Robe anprobieren und begann in einer Anwandlung von toller Ausgelassenheit plötzlich zu tanzen und ihre Kreuzsprünge zu variieren; die Ballettänzerin kam wieder einmal zum Durchbruch.

Hugo ward es immer weher ums Herz; es kam ihm vor, als wohnte er einer schmerzlichen Maskerade bei. Es war das erstemal, daß der Bann der körperlichen Ähnlichkeit seine Wirkung versagte. Er hatte zwar noch gewirkt, aber im umgekehrten Sinne. Ohne ihre Ähnlichkeit wäre Jane ihm höchst gewöhnlich erschienen. Durch ihre Ähnlichkeit verursachte sie ihm einen Moment lang den grausamen Eindruck, als sähe er die Tote wieder, aber herabgewürdigt, trotz derselben Robe und desselben Gesichtes – den Eindruck, den man an Prozessionstagen hat, wenn man die Darstellerinnen der Maria oder der heiligen Frauen am Abend wiedertrifft, noch in ihre Mäntel und frommen Gewänder gehüllt, aber berauscht und in einen mystischen Karneval herabgesunken, zu dem die Straßenlaternen wie blutige Wunden im Finstern leuchten.


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