Georges Rodenbach
Das tote Brügge
Georges Rodenbach

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einleitung.

Georges Rodenbach (1855–1898), Maurice Maeterlincks frühverstorbener Jugendfreund, Mitschüler im Jesuitenkolleg von Sainte-Barbe und Studiengenosse auf der Universität Gent, war einer jener »avertis«, jener »Kinder des Todes«, von denen Maeterlincks tiefsinniger »Schatz der Armen« spricht. Während der kräftigere, sportliebende Maeterlinck sich aus dem tiefen Pessimismus seiner Jugendzeit Schritt für Schritt zu einer freudigen Daseinsbejahung durchrang, trieb der zarte, kränkliche Rodenbach fatalistisch einer immer düstereren Weltanschauung und schließlich dem Wahnsinn entgegen, dessen Nahen er mit unheimlicher Deutlichkeit in seinen letzten Novellen schildert. Auf eine solche Natur wirkten die ersten Jugendeindrücke in den alten, mystischen Städten Brabants, in Gent und vor allem in dem »toten Brügge« bestimmend. Brügge symbolisiert sich dem Dichter zur Persönlichkeit, ja es wird zur Hauptfigur seiner Kunst und seines Lebens. »Eine Mahnung zur Frömmigkeit ging von ihm aus, von den Mauern seiner Spitäler und Klöster, von seinen zahlreichen Kirchen, die in steinernen Chorhemden niederknien...« In Vers und Prosa besang er immer wieder den mystischen Zauber, den die alte, müde, geheimnisreiche Stadt auf sein gleichgestimmtes Gemüt ausübte. Auch sein Katholizismus ist, wie der Verlaines, ein »Katholizismus des Gefühls«, eine wollüstige Todesmystik, auf die er noch eine zweite, ihm allein eigene Mystik aufpfropfte: das Aufspüren geheimer Analogien und mystischer Beziehungen zwischen den Seelen und Dingen. Gleich seinem Helden Viane in seinem Hauptwerk »Das tote Brügge«, war auch er von dem »Dämon der Analogie« besessen – vielleicht ein Erbteil seines Vaters, eines angesehenen Ägyptologen, von dem der Dichter die Gabe haben mag, die rätselhafte Bilderschrift des Lebens zu entziffern und seltsame Symbole zu schaffen. »Es gibt«, heißt es in einer seiner nachgelassenen Novellen,»Im Zwielicht«, deutsch vom Übersetzer des vorliegenden Werkes, Dresden 1905. Dort ist auch eine der größeren lyrischen Dichtungen Rodenbachs, »In der Kirche«, wiedergegeben. Andere seiner Gedichte befinden sich in der Anthologie »Das junge Frankreich«, Berlin 1908, herausgegeben vom Übersetzer des vorliegenden Werkes. »ein ganzes geheimnisvolles, wenig beachtetes Gebiet von Empfindungen unterhalb der Bewußtseinsschwelle, eine Region des Zwielichtes, in der unser Wesen wurzelt. In ihr knüpfen sich jene seltsamen Analogien zwischen unseren Gedanken und Taten und gewissen Sinneseindrücken. Eine Frau mit grauen Augen, die uns begegnet, gemahnt den Nordländer wehmütig an seine Heimat. Wird eine Straße asphaltiert, so trägt uns der Geruch des Teers, der in den Kesseln brodelt, in Gedanken sofort ans Meer und zu den geteerten Schiffsmasten in den Häfen.«

Diese überfeinerte fin-de-siècle-Psychologie spannt der Dichter nun in bewußter Kontrastwirkung in den altehrwürdigen Kirchenrahmen von Brügge, so vor allem in dem vorliegenden Roman, wo ein moderner parteiischer Ehebruchsroman in das altertümliche Kleinstadtmilieu kunstvoll hineinkomponiert ist. Mit der Notwendigkeit des Schicksals führen diese beiden widerspruchsvollen Tendenzen zum Konflikt und schließlich zu einer grellen Tragödie, aus der die Mächte der Vergangenheit als düstere Sieger hervorgehen.

Umgekehrt unterliegt in »Le Carillonneur« (Der Glöckner) das alte Flandern mit seinen ehrwürdigen Kunstdenkmälern, feinen alten Traditionen, der lieblos herandrängenden neuen Zeit mit ihrem Industrialismus und ihrer Gottlosigkeit; und der Glöckner selbst, dessen ganzes Herz an dem alten Flandern hängt, endet als Überwundener des Lebens im Selbstmord.

Die fiebernde Psychologie und die mystische Schwermut dieser Romane mögen nicht jedermanns Sache sein; aber braucht man die Weltanschauung eines Dichters zu teilen, um die Schönheiten und Zartheiten seiner Kunst zu genießen? Auch den Andersdenkenden wird diese subtile Kunst mit ihren feinen Abstufungen, ihren Halbtönen und seelischen Tiefen, ihrem intimen Stimmungszauber fesseln. »Er liebte die flüchtigen Dinge, die unbestimmten Farben,« sagt sein Geistesverwandter Huysmans von ihm; »er schwärmte für das Geheimnis des Wassers, das Geläute der Glocken, die Stimmen des berstenden Glases ...« Und er war, können wir hinzufügen, trotz seiner germanischen Abstammung und Seelentiefe Franzose und Oberflächenkünstler genug, um diese Feinheiten in einer allgemein zugänglichen, packenden Form zu gestalten. Die neubelgische Literatur besitzt in ihm einen ihrer markantesten Vertreter, dem die Synthese deutscher Innerlichkeit und gallischer Formenschönheit in seltener Vollendung gelang.

Friedrich von Oppeln-Bronikowski.



   weiter >>