Georges Rodenbach
Das tote Brügge
Georges Rodenbach

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Zweites Kapitel.

Hugo schlug jeden Abend denselben Weg ein. Er folgte der Quailinie mit nachlässigem Schritt und in etwas gebückter Haltung, wiewohl er doch erst vierzig Jahre zählte. Aber der Witwerstand war für ihn wie ein vorzeitiger Herbst gewesen. Die Schläfen waren kahl, die Haare wie mit grauer Asche bedeckt. Sein mattes Auge blickte weit, weit über das Leben hinaus.

Wie traurig war die Stadt an diesen Abenden. Er liebte sie so. Gerade wegen seiner Schwermut hatte er Brügge zum Wohnort gewählt, war er nach dem großen Schicksalsschlag hierher gezogen. Einst, in den Tagen des Glücks, als er noch mit seiner Frau reiste und ganz nach seiner Laune eine Art Kosmopolitendasein führte, bald in Paris, bald im Ausland oder an der See, war er mit ihr auch durch Brügge gekommen, ohne daß die große Schwermut der Stadt auf ihren Frohsinn Eindruck gemacht hätte. Aber später, sobald er allein stand, hatte er sich Brügges entsonnen und sofort den Gedanken gefaßt, daß er fortan hier leben müsse. Eine geheimnisvolle Gleichung bildete sich in seinem Geiste. Der toten Gattin mußte eine tote Stadt entsprechen. Sein großer Schmerz verlangte nach einer solchen Umgebung; das Leben konnte ihm fortan nur hier erträglich sein. Er war instinktiv hierher gekommen. Mochte die Welt sich woanders rühren und tummeln, ihre Kerzen anzünden und ihren tausendfachen Lärm erschallen lassen. Er bedurfte einer vollkommenen Stille und eines so eintönigen Daseins, daß er fast nicht mehr den Eindruck des Lebens hatte.

Warum muß um körperliches Leiden Schweigen herrschen? Warum dämpft man den Schall der Schritte in einem Krankenzimmer? Warum scheint Lärm und Stimmengewirr am Verbande zu zupfen und die Wunde wieder aufzureißen?

Auch den seelisch Leidenden tut Lärm weh.

In der stillen Umgebung toter Wasser und unbelebter Straßen hatte Hugo den Schmerz seiner Brust minder heftig empfunden, waren seine Gedanken an die Tote sanfter geworden. Er hatte ihr Bild besser vor Augen, den Schall ihrer Stimme deutlicher im Ohr. In der sanften Strömung der Kanäle konnte er ihr Ophelienantlitz treiben sehen, ihre Stimme im fernen Glockenklang vernehmen.

So verkörperte die Stadt, die einst auch schön und geliebt gewesen war, den Gegenstand seiner Sehnsucht, Brügge war seine Tote. Und die Tote war Brügge. Ein gleiches Schicksal vereinigte beide. Das tote Brügge war selbst bestattet im Grabe seiner steinernen Grachten, und erstarrt waren die Adern seiner Kanäle, verebbt der große Pulsschlag des Meeres.

Wie er so dahinwanderte, quälte ihn die schwarze Erinnerung mehr denn je; sie tauchte heute abend unter all den Brücken hervor, wo die Gesichter unsichtbarer Quellen weinen. Ein Hauch des Todes wehte ihn von den geschlossenen Häusern an, deren Scheiben wie im Tode gebrochene Augen starrten, von den Giebeln, deren getreppte Absätze das Wasser fast schwarz widerspiegelte. Er ging den Quai Vert und den Quai du Miroir hinauf und verlor sich dann bis zum Pont du Moulin, nach dem schwermütigen, von Pappelreihen begrenzten Vorlande. Und überall ihm zu Häupten die kalten Tropfen und die dünnen, salzigen Glockenklänge der Stadtgemeinde, wie von einem Sprengwedel zur Absolution verspritzt.

Diese abendliche und herbstliche Einsamkeit, wo der Wind die letzten Blätter davonfegte, ließ ihn mehr denn je den Wunsch empfinden, seinem Leben ein Ende zu machen. Mehr denn je empfand er die Sehnsucht nach dem Grabe. Ihm war, als fiele der Schatten der Türme bis auf seine Seele, als erginge ein Rat von den alten Mauern an ihn, als tauchte eine Flüsterstimme aus dem Wasser auf, dem Wasser, das ihm entgegengeflossen kam, wie es Ophelia entgegengeflossen war, so wie es die Totengräber bei Shakespeare erzählen.

Mehr als einmal hatte er sich so hinterlistig umzingelt gefühlt. Er hatte die langsame Überredung der Steine vernommen; er hatte wirklich den Befehl der Dinge erlauscht, den Tod ringsum nicht zu überleben.

Und er hatte lange und ernstlich an Selbstmord gedacht.

O, diese Frau, wie hatte er sie angebetet! Ihre Augen ruhten noch auf ihm! Und ihre Stimme verfolgte ihn immerfort aus weiter Ferne, als wäre sie bis an den Horizont entflohen! Was war doch an dieser Frau, daß sie ihn sich so ganz zu eigen gemacht, ihm die ganze Welt verleidet hatte, seit sie verschwunden war? Es gibt also Liebesgemeinschaften, die wie jene Früchte des Toten Meeres einen unvergänglichen Geschmack von Asche im Munde zurücklassen!

Wenn er diesen fixen Selbstmordgedanken noch widerstanden hatte, so war es auch um ihretwillen geschehen. Die religiöse Grundstimmung seiner Kinderzeit war mit der Hefe seines Schmerzes wieder in ihm aufgestiegen. Er hegte die mystische Hoffnung, daß das Leben mit dem Tode nicht zu Ende ist, und daß er sie dereinst wiedersehen würde. Und der Glaube verbot ihm den selbstgewählten Tod, der ihn von der Seligkeit ausschloß und ihm die unbestimmte Hoffnung auf ein Wiedersehen ganz benahm.

Er blieb also am Leben, betete sogar und fand einen Trost in der Vorstellung, daß sie in den Gärten des Paradieses seiner harrte. Er träumte von ihr in den Kirchen, wenn die Orgel erklang.

An diesem Abend trat er im Vorübergehen in die Kirche Notre Dame ein, die er ihres Kirchhofsgepräges wegen oft und gern besuchte. Überall an den Wänden, auf dem Boden, lauter Leichensteine mit Totenköpfen, ausgebrochenen Namen und Inschriften, deren steinerne Lippen benagt waren ... Der Tod selbst, war hier durch den Tod verwischt ...

Aber ganz zur Seite verklärte sich das Nichts des Lebens durch den tröstlichen Anblick der im Tode vereinigten Liebe, und darum pilgerte Hugo auch oft genug nach dieser Kirche, wo sich im Grunde einer Seitenkapelle die berühmten Gräber Karls des Kühnen und Marias von Burgund befanden. Wie rührend waren sie! Namentlich das der holdseligen Herzogin. Mit gefalteten Händen, der Kopf auf einem Kissen ruhend, der Rock von Kupfer und die Füße auf einen Hund gelegt, das Symbol der Treue, so lag sie starr auf der schwarzen Sarkophagplatte. So ruhte seine Tote immerfort auf seiner verdüsterten Seele. Und die Zeit würde auch kommen, wo er sich zur letzten Ruhe hinstrecken würde, wie der Herzog Karl, und neben ihr schlafen. Seite an Seite neben ihr ruhen: das dünkte ihm eine gute Zuflucht des Todes, wenn seine christliche Hoffnung sich nicht erfüllen sollte und sie im Jenseits nicht vereinigt würden.

Hugo verließ die Kirche trübsinniger denn je. Er schlug die Richtung nach seiner Wohnung ein, denn um diese Zeit pflegte er gewöhnlich zum Abendessen heimzukehren. Er suchte sich das Bild der Toten deutlich zu vergegenwärtigen, um der Gestalt des soeben besuchten Grabes ihre Züge zu leihen und sich das Ganze mit einem anderen Gesicht zu denken. Aber das Gesicht der Toten, das wir eine Weile im Gedächtnis behalten, verändert sich nach und nach in unserem Geiste und verblaßt wie ein Pastellbild, dessen farbiger Staub sich verflüchtigt. Und unsere Toten sterben in uns zum zweiten Male.

Während er so in starrer Geistesanspannung einherschritt und sich mit nach innen gekehrtem Blick ihre halb verblichenen Züge wachzurufen suchte, empfand er plötzlich eine seltsame Wallung – er, der auf die vereinzelten Passanten so wenig achtgab – als er eine junge Frau auf sich zukommen sah. Er hatte sie anfangs gar nicht bemerkt, da sie vom anderen Ende der Straße kam; erst als sie ganz nahe war, fiel sie ihm auf.

Er blieb starr stehen, als er sie erblickte, wie angeheftet. Sie war inzwischen an ihm vorübergegangen. Es war wie ein Donnerschlag, eine überirdische Erscheinung. Hugo war einen Augenblick dem Umfallen nahe. Er hielt sich die Hand vor die Augen, wie um einen Spuk zu verscheuchen. Dann drehte er sich zögernd um nach der Unbekannten, die sich langsamen, gemessenen Schrittes entfernte, und – folgte ihr. Er verließ den Quai, den er entlang gegangen war, beschleunigte seine Schritte, um sie einzuholen, und ging quer über die Straße auf den anderen Bürgersteig. Als er sie erreicht hatte, begann er sie mit einer Beharrlichkeit anzustarren, die anstößig gewesen wäre, wenn er nicht ganz das Aussehen eines Nachtwandlers gehabt hätte. Die junge Frau ging achtlos ihres Weges; sie sah nicht, was sie sah. Hugos Gebaren wurde immer seltsamer und verstörter. Er folgte ihr nun schon seit mehreren Minuten von Straße zu Straße, bald näher kommend, wie um sich endgültig zu vergewissern, bald wieder mit einer Art Schauder sich zurückhaltend, wenn er ihr zu nahe kam. Er schien zugleich angezogen und abgestoßen, wie durch einen Brunnen, in dessen lichtem Spiegel man sein Abbild sucht ...

Ja, diesmal hatte er sie genau erkannt, mit greifbarster Deutlichkeit, diese Emailhaut, diese großen schwarzen Pupillen in den weißen Augäpfeln – alles dasselbe. Und wie er hinter ihr herging, sah er ihre Haare am Hinterkopf unter dem schwarzen Hut und dem Schleier hervorkommen. Es war ganz die gleiche Goldfarbe, die Farbe von Bernstein oder Seidenkokons, ein leuchtendes, buchstäbliches Gelb. Also derselbe Kontrast auch zwischen den nächtlichen Augen und dem flammenden Mittag des Haares!

Begann sein Verstand etwa zu wanken? Oder sah seine Netzhaut in dem krampfhaften Streben, sich das Bild der Toten zu vergegenwärtigen, sie wohl schon in den Vorübergehenden? Gerade als er sich ihr Gesicht wachzurufen suchte, war diese Frau plötzlich aufgetaucht und hatte es ihm entgegengehalten, so ähnlich wie das eines Zwillings. O Verwirrung solch einer Erscheinung! Fast erschreckendes Wunder einer bis zur Verwechslung gehenden Gleichheit!

Und alles, alles! Ihr Gang, ihre Figur, der Rhythmus ihrer Bewegungen, der Gesichtsausdruck, der träumerische, nach innen gekehrte Blick, kurz, nicht nur die Form und Farbe, sondern auch das geistige Wesen, die seelischen Regungen – alles war ihm zurückgegeben, war wiedergekehrt und am Leben!

Hugo folgte ihr noch immer wie im Traume, mechanisch, ohne zu wissen warum, und ohne weitere Überlegung, quer durch das nebelige Straßengewirr von Brügge. An einer Wegekreuzung, wo die Straßen nach verschiedenen Richtungen auseinanderliefen, sah er sie plötzlich nicht mehr, obwohl er dicht hinter ihr ging. Sie war fort, verschwunden in weiß Gott welcher von diesen in sich selbst zurückkehrenden Ringstraßen.

Er blieb stehen, starrte in die Ferne und durchsuchte die Leere mit tränenerfüllten Augen ...

O, wie glich sie doch der Toten!


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