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Die vier Fräulein von Waloff

Der Fürstin Tola Meschtscherski nacherzählt

Unter den Sonnenschwaden zitterte der Buchweizen. Blau lag die Decke blühenden Flachses ausgebreitet neben jungem, grünem Hafer, unendlichen Feldern fahlen Roggens. Die Schnitterinnen in ihren bunten Kleidern leuchteten daraus wie Klatschmohn und Kornblumen.

Schrittweis, in gedrängten Reihen schob sich die farbige Weiberschar, und vor ihr her wurden Ketten hoch von Bekassinen, Haselhühnern und Trappen mit scharf knarrendem Flügelschlag.

In der Ferne schwang ein langer Faden weißgekleideter Mäher taktmäßig die blitzenden Sensen; die Mäher sangen im Chor, ihre Stimmen drangen weithin zu mir an die Landstraße. Ich saß auf einem Heuhaufen und wartete auf den Pferdewechsel.

Es war auf einer Reise durch Mittelrußland, nach Kiew, durch die Gouvernements Kaluga und Tula. Heut verbindet die Eisenbahn Moskau mit allen Städten des Reiches. Damals durchjagte man die unendliche Ebene noch auf der Tjeléga, dem Brettwagen, und spärlich gesäte Dörfer bildeten die Etappen.

Ich wartete auf den Relais seit drei, vier Stunden. Doch ich zürnte dem Posthalter nicht. Diese weiten, fruchtbaren Ebenen haben ihren bezwingenden Reiz. Insekten, Vögel – Tiere aller Art machen die Üppigkeit immerfort tönen und sich regen.

Ich lag ausgestreckt auf dem duftigen Heu. Die Schnitterinnen, gebeugt auf ihre Sicheln, schafften rechts und links. Die einen unter ihren scharlachroten oder gelben Tüchern erschienen hellblond, fast weißhaarig; andre hatten den bräunlichen Typus des Südens.

Neben mir auf drei Pflöcken schaukelte eine Wiege, mit grober Leinwand bedeckt gegen den Sonnenbrand.

Eine Frau kam und hob die Leinwand ab. Ich sah zwei Kinder nebeneinander – schlummernd, eingewickelt und zusammengeschnürt wie kleine Mumien.

Die Züge der Frau waren schlaff, sie ließen nicht ihr Alter erraten. Das Gesicht gefurcht, gelb und gealtert. Das Haar schwarz und seidig, die Zähne weiß und klein wie die einer Zwanzigjährigen.

Sie begann das Kind zu nähren. Stumm, mit erloschenen Augen und gesenkten Mundwinkeln. Auch das kleine Geschöpf blieb unbeweglich; es mußte die große Lehre schon empfangen haben: leiden und schweigen ist Sklavenpflicht.

Das Kind war eingeschlafen – die Frau bettete es und nahm das zweite auf. Öffnete mit der gleichen mechanischen Bewegung das Hemd und reichte die andre Brust dar. Das schmutzige Püppchen sog mit leidenschaftlichem Eifer.

»Sind das deine Zwillinge?« fragte ich, denn die Stille lastete auf mir, und die russische Bäuerin wird niemals zuerst das Wort ergreifen.

Sie schüttelte verneinend den Kopf, ohne aufzublicken.

»Dann ist wohl eins das Kind deiner Schwester? Oder eine Waise, die du säugst?«

Sie lächelte ein wenig, blieb aber stumm.

Ich ließ mich durch ihr Schweigen nicht abschrecken. »Schwer für eine Frau, zwei Würmer zu nähren,« fuhr ich fort. »Erst recht während der Ernte. Du scheinst auch nicht sehr kräftig zu sein.«

»Ich bin gesund,« sagte sie, »und mein Mann verdient genug für uns. Es gibt Unglücklichere, als ich bin. Erzürnen wir den Herrgott nicht!« fügte sie demütig hinzu.

»Woher kommst du?«

»Aus dem Dorf dort hinter dem Birkenwäldchen,« flüsterte sie und hielt die Augen auf das saugende Kind gerichtet. »Wir sind fünfzig Seelen und gehören den Fräulein Waloff.«

»Waloff?« Ich suchte mein Gedächtnis nach dem Namen ab. »Wieviele Fräulein sind es?«

»Vier Waisen, ohne Vater und Mutter. Der selige Herr Waloff war General. Die Exzellenzen wohnen ganz allein in dem weißen Haus neben der Kirche. Sieh – das Dach ragt über die Fichten am Friedhof.«

»Sind wohl alte Fräulein?«

»Oh nein. Die älteste wird zu Johanni dreißig; die Kleine ist eben erwachsen.«

»Sind sie hübsch?«

»Nicht sehr, aber kräftig; Gott sei Dank; groß, breit und weiß. Wenn du sie ansiehst: weiß wie Kuchen. Die sind mit Fleisch genährt, meine Liebe – alle Tag mit Fleisch. Die Menschen sind wie die Tiere: nährst du sie, werden sie groß und schön. Aber man soll sich nicht täuschen: für die wahre Arbeit, die harte Arbeit taugt nur unser schwarzes Brot – Buchweizen mit Sauerteig. Das beschwert nicht und läßt lang leben.«

»Lange?«

»Ja. Mein Vater im Dorf wird zu Pfingsten hundert. Man sollte es nicht glauben, wenn man ihn Holz hacken sieht und Rüben häufeln. Und er hat nie Fleisch gegessen, im ganzen Leben nicht – er kennt nicht einmal den Geschmack von Fleisch. Zu Ostern wollte der Pope es ihn versuchen lassen – da sagte der Vater: ›Nein. Wenn ich das tote Tier berührte, fiele ich gewiß tot hin. Mein Brot genügt mir. Ihr andern eßt die verfaulte Nahrung, wenn ihr wollt. Ich sage euch: es sind die Tage des Antichrist, die da kommen.‹«

»Und die Herrinnen – sind sie gütig gegen euch? Seid ihr glücklich?« fragte ich, um das Gespräch wieder auf die vier Fräulein Waloff zu bringen.

»Gütig? Oh, sie beißen uns nicht. – Und glücklich …? Könnten wir auch sein: die Erde ist reich, die Wiesen groß, und die Pest ist nie über unser Vieh gekommen.« Sie spuckte aus, um das Schicksal nicht herauszufordern. »Aber sieh, wir haben zuviel gefundene Kinder.«

»Was sagst du?«

»Du verstehst mich nicht … Ich will dir das erklären – du scheinst mir eine gute Frau zu sein. Also: wir haben schon übergenug an unsern eigenen Kindern; aber die eigenen – das ist was andres; man hat nicht mehr im Leben als das, weißt du … Und sie kosten uns nichts … da ist nicht schwer, für sie zu arbeiten … Doch wir haben Unglück, wir Waloffschen Bauern: jedes Jahr, das uns der Herrgott gibt – schlecht oder gut, regelmäßig, sei's im Frühling oder Herbst, im Sommer oder Winter – viermal, an vier verschiedenen Türen des Dorfs – kannst du mir's glauben? – sind wir sicher, ein neugeborenes Kind zu finden. Und was das Schlimmste ist: man wagt nicht, es zurückzuweisen. Die Herrinnen sagen: der ewige Vater in seiner unerforschlichen Güte schickt uns die Kinder, sie sind ein Zeichen seiner Güte. Die Herrinnen sagen, es brächte uns Unglück, wenn wir die Kinder auf die Pfarre trügen oder gar nach Kaluga in das Spital, das eigens erbaut ist für verlassene Kleine. Ob wir wollen oder nicht – wir müssen sie aufnehmen, nähren, erziehen – und man braucht doch auch Windeln, um sie einzuwickeln. Und die Herrinnen passen streng auf uns. Sie haben Mitleid mit den mutterlosen Kleinen. Unsereins könnte die Geschöpfchen vernachlässigen. Die guten Fräulein sind uns immer auf den Fersen. Wenn man ihnen gefallen will, muß man die gefundenen Kinder besser pflegen als die eigenen. – Ich beklage mich nicht – ich habe viel Milch, aber es ist die dritte Waise, die ich aufziehe. Die Vorsehung bringt einen Säugling auch immer nur der Frau, die eben erst selbst gebar und Milch hat. Gottes Weisheit ist ohne Grenzen.«

Ich hörte ihr zu, bedrückt, aufmerksam – und ehrfurchtsvoll vor der erhabenen Naivität dieser Frau, die man immer wieder zur Mutterschaft zwang.

»Heiraten sie denn nicht, diese Fräulein Waloff?« fragte ich.

»Wie sollten sie heiraten? Sie haben nur uns – wir sind fünfzig, wenn man die Frauen nicht mitzählt. Sie können uns doch nicht teilen. Aber sie haben genug zu leben und vergnügt zu sein – von fünfzig Bauern. Wir liefern ihnen Vieh, Geflügel, Korn und unsre Arbeit, Dienst und Geld. Es geht ihnen nicht schlecht, den Herrschaften – Gott segne sie! Zweimal im Jahr gehen sie in die Stadt und bleiben dort einige Tage. Und sie haben Freunde, Bekannte, die die Besuche erwidern. Sie machen Musik – wenn du sie nur hören könntest! Sie singen so schön, daß einem das Herz weich wird: eine Nachtigall würde darüber sterben. Und ihre Herren – du solltest sie sehen: rot und gold und überall Borten. Das sind Offiziere. Jedes Jahr steht ein neues Regiment in Kaluga, auf dreißig Werst. Eh die einen weggehen, führen sie unsern Fräulein die neuen zu. Da langweilen sich die Fräulein nie. Mit dem Heiraten ist das was andres: ein Fräulein muß dem Mann Geld zubringen. Versteht sie etwa, mit den Händen zu arbeiten? Sie versteht zu singen und zu lachen. Woher sollten sie Geld nehmen, unsre Herrinnen? – Aber sieh – da kommen sie selbst. Sprich nicht mit mir – sie lieben nicht, daß Frauen ihres Dorfs mit Fremden reden. – Heilige Jungfrau, ich danke dir! Es ist die Waise, die ich eben nähre, – sie werden es sehen.«

Vier Silhouetten nahten sich auf der Straße. In leichte Stoffe gekleidet, mit wehenden Schals um den Hals, von großen Sonnenschirmen beschattet, kamen sie langsam, zwei und zwei. Große, volle Mädchen mit frischen Farben und glänzendem Haar.

Die Ältern hatten zusammengewachsene Brauen und pikante Schnurrbärtchen, rotgebrannte, straffe Arme. Die Jüngste war blaß und verdrossen – ein Gegensatz zu der redseligen, derben Lustigkeit der drei andern; sie ging mühsam, und ihre weiten Kleider verheimlichten kaum die vorgeschrittene Schwangerschaft.

Die Älteste näherte sich der Wiege und sagte zu der Bäuerin: »Gute Matrena!« – ihre Stimme klang männlich rauh. – »Seht, Schwestern – sie hat das Kind des Herrn in den Armen; ich erkenne es an den Windeln, die wir genäht haben. Eine wahre Mutter der Waisen. Matrena, dein Sohn wird gesegnet durch die Milch, die du dem Kind der Vorsehung schenkst.«

Ich wandte mich ab. Sie entfernten sich langsam. – Als ich mich nach Matrena umsah, waren ihre Augen auf mich geheftet. Was lag in ihrer Tiefe? Eine Frage? Ein Lächeln? Endlose Traurigkeit?

»Gute junge Mädchen,« sagte sie und erhob sich. Sie legte den Findling in die Wiege und breitete die Leinwand auf. – »Sie reden wahr. Aber es ist ihre eigene Güte, die da segnet,« fügte sie nachdenklich hinzu. »Die Herrinnen beschützen diese Kinder und lieben sie ihrer Unschuld wegen – einfache Frauen erziehen die Kinder auf ihr Geheiß … Und der Tag wird kommen, wo all die Kinder brave Arbeiter ihrer Herrschaft sein werden, nützliche Bauern, ergebene Diener – und mit Arbeit und Taxen werden sie die Mühen zahlen, die sich die Herrschaft in den ersten Jahren um sie gab. – Guten Abend! Der Allmächtige beschütze dich auf deiner weiten Reise!«

Ich antwortete nicht. Ich betrachtete die Frau, wie sie sich mit dem immer gleichen tragisch sorglosen Blick entfernte.

Wer kann dich ergründen, dunkle Kluft, schrecklich und strahlend – Seele der russischen Bäuerin? In dir ist heroische, unwissende Arglist, Geduld ohne Grenzen, dumpfe Weichheit, ernste Ironie, Güte und ein ewiger, stummer, unsäglicher Schmerz. Wer kann dich verstehen, wer dich empfinden? Wer kann wagen, dich zu beschreiben?

Ich kehrte zur Station zurück, wo mich endlich die angeschirrten Postpferde erwarteten.


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